Der Beginn
Ich bemerkte sie nur, weil ich kurz einmal das Fernlicht meines Wagens aufleuchten ließ. Eine einsame Gestalt am Straßenrand, die den Anschein erweckte, um Hilfe zu winken. Doch der gesamte erste, reflexartige Eindruck verwirrte mich irgendwie. Es schien, als wäre sie hinter einem Baum gestanden und nun schnell vorgesprungen, als sie die Lichter meines Wagens sah.
Dabei wirkte sie unentschlossen, so als wisse sie nicht, ob sie wieder zurücksprinten solle. Nun, ich sehe nicht gerade wie Frankenstein aus, breitete mein freundlichstes Lächeln vor ihr aus, nachdem der Wagen stand und ich die Scheibe auf ihrer Seite herunterfahren ließ. Ihr Gesicht war nur ein schemenhafter Fleck vor der dahinterliegenden Dunkelheit des Waldes. In ihren beiden dunklen Augen war ein gehetztes Glitzern, hervorgerufen durch die Reflexion meiner Armaturenbeleuchtung.
"Wohin fahren Sie," fragte sie. Ihre Stimme klang herb und ein wenig schleppend, als hätte sie ein wenig zuviel getrunken. Kein Lallen, aber doch ein Stolpern über Buchstaben.
Vielleicht auch nur Müdigkeit, dachte ich, denn inzwischen hatten sich meine Augen angepasst und ich erkannte dunkle Ringe unter ihren Augen.
"Richtung Trostberg," erwiderte ich. Sie fragte mich nicht um Erlaubnis, öffnete einfach die Tür und glitt hinein. Wortlos gab ich Gas und fuhr los.
Ich war verwirrt. Den letzten Anhalter hatte ich vor Jahren mitgenommen. Wieso hatte ich diese Nacht meine selbst aufgestellte Regel verletzt? Noch dazu Nachts um halb vier. Im Grunde verspürte ich überhaupt kein Bedürfnis nach Gesellschaft. Vor einer halben Stunde hatte ich noch in Traunstein in einer Diskothek an der Bar gesessen. Die Bardamen dort sahen gewöhnlich aus, die Gäste hatten sich dem Personal angepasst. Zombietreffen live! Haben Sie schon mal Bauernburschen Techno tanzen sehen? Glauben Sie mir, da erhält das Wort Bauernsterben eine neue Bedeutung. Die Abschiedsmelodie des DJ's erlöste mich von meinen einsamen Betrachtungen und ich verließ das Lokal ohne Bedauern.
Die schweigsame Heimfahrt war ein Genuss. Ich genoss meine Lieblingskassette. Die Phantastischen Vier sangen "Raus" und das passte irgendwie. Dann mein plötzlicher, von meinem Unterbewusstsein gesteuerter Entschluss zu stoppen und eine Fremde mitzunehmen.
Seltsamerweise machte mich ihre Anwesenheit unsicher. Ich starrte nur nach vorne und vermied jeden Seitenblick. Trotzdem spürte ich, dass sie reden wollte, anscheinend aber ebenfalls keinen Anfang fand. Ganz beiläufig fragte ich deshalb: "Stört Sie die Musik?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, nein, im Gegenteil. Sie ist irgendwie - ganz passend." Ich wartete auf eine weitere Erklärung, doch es kam keine. Wir schwiegen im Duett.
"Sie sind spät unterwegs," stellte ich fest, "den Bus verpasst oder so was?" "Oder so was," antwortete sie und starrte aus dem Seitenfenster.
Ich zuckte mit den Schultern. Sie war nicht verpflichtet, mir Auskünfte zu geben. "Wo müssen sie eigentlich hin," fragte ich dann. "Nach Traunreut rein," sagte sie, "geht das?" "Natürlich, ich muss nach Tacherting." Kurzes Schweigen. "Ich wohne da," erklärte ich zusätzlich und kam mir dabei irgendwie idiotisch vor. Sie nickte nur.
"Sie können mich an der Kirche aussteigen lassen." Ich zuckte zusammen. Vor Schreck wäre ich beinahe voll in die Bremse gestiegen. Meine Gedanken waren überall und nirgendwo gewesen. Vor allem aber bei ihr, ihrer Anwesenheit in meinem Wagen und wie selbstverständlich ihre Gegenwart plötzlich war. Die Strecke durch Kirchanschöring und Otting war ich ganz automatisch gefahren und nun waren wir schon am Ortsrand von Traunreut.
Kurz darauf hielt ich an der Kirche. Bevor ich aussteigen und ihr die Tür öffnen konnte war sie schon draußen. Sie beugte sich kurz vor. "Danke," sagte sie nur und warf die Türe zu. Ich sah ihr nach. Ohne sich noch einmal umzusehen, als hätte es mich für sie nie gegeben, ging sie an der Kirche vorbei und verschwand in einer Seitenstraße. Ihr Gang kam mir leicht schwankend vor. Als sie mit dem Schatten der Häuser eins wurde, zündete ich mir eine Zigarette an und fuhr los. Die letzten Minuten zogen noch einmal an mir vorbei. Ich wusste nichts von ihr, weder ihren Namen, noch woher sie kam oder wo sie wohnte. Ich wusste nur eins, ich wollte sie verdammt gerne wiedersehen.
Kapitel 1
Irgendwie war ich in dem Glauben, sie vergessen zu haben. Doch weil ich immer wieder an sie dachte, war es wohl genau das Gegenteil. Tagsüber ging es ja noch, meine Arbeit verhinderte fruchtloses Grübeln. Aber die Abende!
Ich lief unruhig durch meine Wohnung und suchte nach irgend etwas. Wenn das so weiterging, brauchte ich bald einen neuen Teppichboden. Meistens ging es dann aber sehr schnell, mich selbst zu überreden, ins Auto zu steigen und nach Traunreut zu fahren. Ich suchte sie - und verleugnete diesen Gedanken gleichzeitig. Sie ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich wollte nicht an sie und ein erneutes Treffen denken und dachte bald an nichts anderes mehr. Sehr zur Freude der einheimischen Gastronomie klapperte ich ständig die Lokale und Discos ab.
Eines Morgens, an einem Freitag drei Wochen nach der ersten Begegnung, starrte ich in den Spiegel und versuchte den Menschen zu ergründen, den ich vor mir sah.
"Du bist verrückt, Junge," murmelte mir das Gesicht im Spiegel zu. "Ich bin verrückt," nickte ich und der andere nickte auch. "Wer bist Du eigentlich, führst Dich auf wie ein verliebter Primaner und machst Dich selbst zum Idioten." Das Gesicht im Spiegel starrte mich an ohne eine Antwort zu geben.
Also machte ich Inventur. "Du bist Rolf Wagner, einunddreißig Jahre alt, ein Meter achtzig groß, dunkelhaarig und seit der Scheidung zupfst Du heimlich die grauen Haare raus." Ich grinste mich an und studierte mein Gesicht. Durch das Grinsen trat die Falte am linken Mundrand deutlich hervor. Magenfalte nennt man so etwas. Sie zierte mich bereits seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. Anscheinend war meine Jugend sehr stressig gewesen, denn wer sonst hat mit fünfzehn schon sein erstes Magengeschwür? Doch weiter mit der Bestandsaufnahme. Meine manchmal zynische Art äußere ich durch einen schmallippigen Mund, dessen obere Lippe von einem Schnurrbart verdeckt wird, den ich nie gleichmäßig geschnitten hinbekomme.
Auf der Stirn, direkt unter dem Haaransatz, habe ich eine dünne, fünf Zentimeter lange Narbe. Ich lasse sie gerne von Frauen begutachten. Meistens streicheln sie mit ihren Fingern darüber und ich konzentriere mich dabei auf anderes.
Ich grinste mich wieder an. "Arschloch," sagten ich und mein Spiegelbild gleichzeitig und wir zwinkerten uns zu. Anscheinend fühlte sich mein Spiegelbild jetzt wohler, also beschloss ich, es ihm nachzumachen. Pfeifend schlenderte ich in die Küche, schaltete den Wasserkocher ein und brühte mir eine Tasse löslichen Kaffee auf. Von Bohnenkaffee wird mir immer schlecht, aber löslichen Kaffee trinke ich in Mengen, von denen anderen übel werden würde.
Aus dem Nachbarhaus sah die alte Dame herüber, die sonst immer freundlich grüßte. Doch diesmal schüttelte sie missbilligend ihren Kopf. Mit einem Ruck wurde die Gardine zugezogen. Ich schüttelte ebenfalls den Kopf, kam aber nicht darauf, warum sie das getan hatte. Erst als mir der heiße Kaffee auf die nackte Haut tropfte, fiel mir auf, dass ich nackt vor dem Fenster stand.
"Hauhau," murmelte ich, winkte entschuldigend zu dem Fenster und verschwand eiligst wieder ins Badezimmer. Komplett angezogen schlürfte ich meinen restlichen Kaffee, starrte wieder zum Fenster hinaus und nebenbei bemerkt, die Gardine wurde wieder zurückgezogen. So einfach kann die Welt für manchen Menschen wieder in Ordnung gebracht werden.
Ich aber überlegte, was ich heute machen wollte. Mein kleines Immobilienbüro läuft, dank eines tüchtigen Angestellten, der nicht den Mut zur Selbstständigkeit besitzt, hervorragend und meine kurzfristigen Besuche dienten wirklich nur dazu, ihm ab und zu einige Streicheleinheiten zu verpassen. Er machte die Arbeit, ich die Kohle.
Außerdem war ich zu einem Drittel an einem kleinen Verlag beteiligt, der unter anderem eine gesponserte Motorrad-Zeitung herausgab. Von Motorrädern verstehe ich soviel wie ein Stier vom Melken, aber ich hatte den Anzeigenverkauf der Zeitung aufgebaut, inzwischen aber auch diese Tätigkeit anderen guten Mitarbeitern übergeben, so dass ich eigentlich nur einmal im Monat die Höhe des Schecks überprüfen musste, der mir ins Haus flatterte.
Ansonsten lebe ich noch vom Verkauf meiner Graphiken, zwei pro Monat zeichne ich, eine pro Monat wird verkauft. Nur wer sich rar macht, kann sich teuer verkaufen. Alles in allem lebte ich nicht schlecht. Wenn ich keine Lust zum Arbeiten hatte, ließ ich es einfach bleiben und machte mir einen schönen Tag. Die Phase des Materialismus hatte ich hinter mir. Meine superteure Stereoanlage sahen nur wenige, ich lasse nicht viele Menschen in meine Wohnung und der Damenbesuch interessierte sich mehr für die technischen Details auf bzw. an meinem Bett.
Wie ich schon erwähnte, ich überlegte, was ich heute machen sollte. Die Sonne brannte schon in der Frühe so heiß herunter als bekäme sie Geld dafür, also beschloss ich, mir etwas von ihr zu nehmen, nachdem es mir ja nichts kostete.
Scheinheilig fragte ich telefonisch im Büro nach, ob es etwas Wichtiges gäbe. Nein, natürlich nicht. Also war ich ab sofort geschäftlich unterwegs und beschloss, zum Waginger See zu fahren.
Eine Stunde später lag ich am Ufer in der Sonne. Meine Grübelei über die Unbekannte nahm aber auch hier kein Ende. Ich wusste, auch an diesem Abend würde ich wieder auf die Suche gehen.
Schon nach kurzer Zeit ging mir das Geplärre der zahlreichen Touristen, die sich wie eine Besatzungsmacht aufführten, auf die Nerven. "Nichts als Preußen," murmelte ich in einer Lautstärke, die mein Nachbar, ein dicker, ältlicher Mann, den seine Kappe als einen Norddeutschen auswies, noch hören konnte und böse aufblicken ließ.
"Könnte der Beginn von Hautkrebs sei," sagte ich und wies auf seinen beginnenden Sonnenbrand. Bevor er sich aufregen und mich durch die dann bevorstehende Diskussion selber als Rheinländer, also ebenfalls einen Preußen entlarvten konnte, schlenderte ich zum nahegelegenen Kurhaus-Restaurant.
Das dazu gehörende Kurhaus-Stüberl wurde von einem Prominentenkoch geführt, der nicht nur mit seinen Rezepten für Schlagzeilen sorgte. Solange seine Eskapaden die Qualität seiner Speisen nicht beeinträchtigten, war den Promis aber wohl alles egal und was er ihnen sonst noch als Nachspeise servierte, ging mich nichts an und interessierte mich auch nicht.
Nun, ich war weder ein VIP noch fühlte ich mich als Promi, also setzte ich mich an einem Tisch auf der Terrasse des Restaurants. Von meinem Platz aus sah ich genau zum Sprungturm. Mit mäßigem Interesse beobachtete ich die kleinen Jungs, die immer wieder mit schrillen Schreien in den See sprangen. Die Terrasse war mit zwei Meter hohen Glasscheiben eingefasst zum Schutz vor irgend etwas. Die Sonne schien genauso herein und die vorbeischlendernden Menschen begafften einen auch durch diese durchsichtige Wand. Ich kam mir vor wie in einem riesigen Aquarium, nur dass das Wasser draußen vor der Glaswand war und preußische Fische zum erstenmal Land betraten.
Ein mürrischer Kellner unterbrach meine evolutionären philosophischen Betrachtungen, wischte mir die hinterlassenen Frühstückskrümel des letzten Gastes auf meine Hose und wollte wissen, was ich wünschte. Ich sagte ihm, dass er mir das, was ich mir wünschte, nicht geben könnte, aber wenn er wollte, dürfte er mir eine Radlerhalbe bringen.
Was ist die Steigerung von mürrisch? Keine Ahnung, aber er kannte sie und konnte sie auch zum Ausdruck bringen. Die Speisekarte drückte er mir mit einer Mimik in die Hand, der ich entnehmen konnte, für hundert Mark Kaution dürfte ich einen Blick hineinwerfen. Als er mir in die Augen sah verzichtete er auf die Kaution, aber sein Blick verriet mir nichts Gutes. Ich nahm mir vor, genau darauf aufzupassen, ob er mir nicht heimlich in mein Glas spucken würde. Eine Kellnerin aus Waldkraiburg hatte mir einmal verraten, sie würde dies bei unangenehmen Gästen immer so machen und viele ihrer Kollegen ebenfalls.
Während ich unter seinen misstrauischen Augen die angebotenen Speisen studierte, leckte ich mir genießerisch die Lippen und als die Spannung für uns beide unerträglich wurde, sagte ich: "Ach ja, bitte bringen Sie mir - eine Gulaschsuppe."
Wenn die Speisekarte dolchförmig gewesen wäre, hätte er sie mir mitten ins Herz gestoßen. So aber begnügte er sich damit, sie mir nur aus der Hand zu reißen und für einen Augenblick sah ich Mordlust in seinen Augen.
Eine Kollegin von ihm brachte mir meine Radlerhalbe und während ich auf meine Gulaschsuppe wartete, beobachtete ich durch die Glasscheibe alle Leute, die vorbeischlenderten und mich beschauten. Ein kleines Mädchen streckte mir die Zunge heraus. Ich machte es ihr nach. Die Kleine lachte, doch die junge Mutter, die sich das gleiche nicht getraut hatte, riss sie weiter und warf mir einen bösen Blick zu.
Mein Blick fiel auf eine Gruppe junger Leute, die sich vom Sprungturm her dem Restaurant näherte und aus zwei Mädchen und drei jungen Männern bestand. Eines der Mädchen wurde von den Davorgehenden verdeckt. Trotzdem kam sie mir irgendwie bekannt vor. Ich schluckte aufgeregt. Das musste sie sein, nein, das war sie!
Ich wusste es schon, bevor ich sie richtig sah. Und sie kamen immer näher, betraten die Terrasse und setzten sich. Krampfhaft bemühte ich mich, ihren Blick auf mich zu lenken doch sie sah einfach durch mich durch oder über mich hinweg.
Da saß sie nun, nur drei Tische von mir getrennt und ich wusste nicht, wie ich ihre Aufmerksamkeit erregen konnte. Zwei oder dreimal blickte sie mich direkt an, aber anscheinend erkannte sie mich nicht wieder. Mein kurzes Nicken übersah sie oder empfand sie als dumme Anmache.
"Na ja," dachte ich. "Drei Wochen ist es her, dunkel war es auch, anscheinend hatte sie zuviel getrunken, wie sollte sie sich da an mich erinnern?"
Ich bedeutete ihr nicht mehr als einer der anderen Männer, die an der Terrasse vorbeigingen und von ihr genau so wenig beachtet wurden wie ich. So wie sie aussah, war sie an Blicke sicher gewöhnt. Mein erster, durch die Dunkelheit behinderter Eindruck, war richtig gewesen. Sie war schön, sie war begehrenswert und ich begehrte sie, wie ich selten eine Frau begehrt hatte.
Ab und zu drangen Wortfetzen von der Gruppe zu mir herüber und manchmal hörte ich ihre herb klingende Stimme heraus.