'Franziska Linkerhand' - Kapitel 09 - 10

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    Hier ist er: Ben. Der Fahrer. Ein gewisser Trojanowicz. Zwischen den Beiden entwickelt sich etwas, und ich habe den Eindruck, dass es für jeden von beiden etwas Anderes ist. Ben scheint sehr abgeklärt. Franziska und ihn trennen Welten der Erfahrungen, die er in Menge gemacht hat. Stellenweise hatte ich das Gefühl, dass er ihre vielen Worte und ihre Fachbegeisterung, die sie schon ein wenig eingleisig macht, mit dem Berg seiner Lebenserfahrung erdrückt.


    Schafheutlin hat sich für mich zu einer Figur entwickelt mit der ich Mitleid habe. Er ist ein Gestrandeter, sicher nicht ganz unschuldig daran und bequem geworden mit den Jahren, aber trotzdem einer, der nicht aus seiner engen Hülle heraus kann. Er lehnt Franziskas Wirrheit und sprühende Lebendigkeit ab, und doch bewundert er sie. Fast hätte ich gesagt: Er betet sie an. Allerdings versteckt er das gut hinter schroffen Worten und nach Außen getragener Kritik.


    Politisch fallen in diesen zwei Kapiteln Aussagen über Planwirtschaft, Kollektivismus und sozialistischem Frauenbild auf.
    Schafheutlin zum Beispiel äußert sich, in meiner Ausgabe auf Seite 415, zum Thema der Induvidualität in der Arbeit. Er spricht davon, dass es in dieser neuen Gesellschaft, der DDR, möglich, ja erforderlich ist, die persönlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse in Übereinstimmung zu bringen (frei zitiert). Also keine hochtrabenden Pläne und fantastischen Ideen mehr, es sei denn, sie bringen das Kollektiv voran und tragen zur Planerfüllung bei. Tja...
    An einer Stelle bezeichnet Franziska sich und die anderen werktätigen Frauen als "Erwerbsweibchen", ein schlimmes Wort. Um welchen Preis die Frauen den Spagat zwischen Vollzeitarbeit und Familie schaffen mussten, ob sie wollten oder nicht, hat sich erst mit den Jahren der DDR gezeigt.


    Noch eine Frage stellt sich mir: Wo ist der Bruder Willhelm geblieben? Habe ich einen Hinweis überlesen? Ich weiß noch, dass er Atomphysiker geworden ist, und dann? Ist er einfach so aus Franziskas Leben verschwunden? :gruebel

  • Zitat

    Original von Clare


    Noch eine Frage stellt sich mir: Wo ist der Bruder Willhelm geblieben? Habe ich einen Hinweis überlesen? Ich weiß noch, dass er Atomphysiker geworden ist, und dann? Ist er einfach so aus Franziskas Leben verschwunden? :gruebel


    Das stimmt. Plötzlich war er weg. Ist er vielleicht auch in den Westen gegangen? Aber ich habe den Eindruck, dass man aufgrund des Schreibstils schon mal etwas überlesen kann - denn manchmal werden wichtige Ereignisse gerade mal in einem Nebensatz nur angedeutet.


    Nach wie vor finde ich das Lesen des Buches anstrengend und nicht entspannend.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire


    Das stimmt. Plötzlich war er weg.


    Räumlich dürfte er irgendwo in der UdSSR sein (egal, ob als Wissenschaftler bei irgendetwas, was man lieber nicht so genau wissen will, oder in einem Lager), Seite 149 berichtet, dass er aus Moskau kam, aber der Punkt, dass er nicht mehr erwähnt wird, dürfte ein anderer sein: Franziska spricht ja selbst davon (Seite 43), dass Wilhelm "immer weiter weg von mir ... oder ich von ihm" rückt, "... aber es sind nicht die zweitausend Kilometer zwischen uns...". Es gibt für sie keinen Grund mehr, den erwachsenen, ihr entwachsenen Wilhelm zu erinnern, nur der vergötterte Bruder der kleinen Franziska und des jungen Mädchens sind der Erinnerung wert.
    Wenigstens ist das mein Eindruck.

  • Zitat

    Original von Lipperin


    Räumlich dürfte er irgendwo in der UdSSR sein (egal, ob als Wissenschaftler bei irgendetwas, was man lieber nicht so genau wissen will, oder in einem Lager), Seite 149 berichtet, dass er aus Moskau kam, aber der Punkt, dass er nicht mehr erwähnt wird, dürfte ein anderer sein: Franziska spricht ja selbst davon (Seite 43), dass Wilhelm "immer weiter weg von mir ... oder ich von ihm" rückt, "... aber es sind nicht die zweitausend Kilometer zwischen uns...". Es gibt für sie keinen Grund mehr, den erwachsenen, ihr entwachsenen Wilhelm zu erinnern, nur der vergötterte Bruder der kleinen Franziska und des jungen Mädchens sind der Erinnerung wert.
    Wenigstens ist das mein Eindruck.


    Jetzt wo du es sagst, erinnere ich mich auch daran, dass etwas von der SU gesagt wurde. Danke!


    Mich strengt das Lesen des Romans extrem an. Das liegt sicher zu Teil daran, dass ich arbeitsmäßig sehr angespannt bin, zum anderen aber an den vielen Andeutungen in Mitten verschachtelter Sätze und loser Gedanken, den Zeitsprüngen mitten in Satz und Absatz...
    Nun ja, wer hat versprochen, dass es einfach sein würde.
    Ich bin froh, dass du folgen kannst und aufpasst, Lipperin! :anbet

  • Seite 357 taucht ein Gedanke auf, der mich, seit ich das Buch kenne, beschäftigt: Ein Mann und eine Frau lernen sich kennen, erfahren über einander und nun, wie hier formuliert, ist der andere das „unbekannte Land“. Die Geschichten, die Franziska für ihn hatte, für sie plausibel, für sie erklärbar und hinterfragbar, tragen nicht mehr, weil die seinen dagegen stehen und das dann noch immer mit dem Anspruch, die Wahrheit kundzutun. Es trifft das Grundproblem von Erwartung und Wirklichkeit, von Hoffnung und Enttäuschung, aber so wunderschön ge- und beschrieben wie hier habe ich es selten gelesen.
    Ben jedenfalls ist außerordentlich gebildet, belesen, er weiß einzuschätzen und fundiert zu argumentieren, wie beispielsweise hier seine Erläuterungen zu Neustadt. Für mich sind die Sätze und Absätze ab Seite 358 letzter Absatz eine Erwiderung auf Franziskas Theorie von der „planerischen Idee, die“ Häuser „zur Stadt verbinden“ (Seite 336). Dass er „nur“ Fahrer ist, glaubt nicht einmal Franziska. Er ruht aber doch in gewisser Weise in sich selbst, wobei die Frage, ob das „anerzogen“ oder „natürlich“ ist, nicht (oder noch nicht) so leicht zu beantworten ist. Die dunklen Momente aus seiner Vergangenheit sind bei ihm wohlverwahrt, die vertraut er nicht so leicht jemandem an; vielleicht auch, weil er nicht mehr erinnert werden will, sich selbst nicht mehr erinnern will. „Raskolnikow“ (Seite 423)? Nein, für mich passen Ben, auch eventuell der „frühe“ Ben und jener nicht so recht zusammen, meine Vorstellungen von den beiden sind doch einigermaßen auseinander.


    Franziska als Objekt der Begierde, auch der Schafheutlinschen, natürlich, sie ist zu apart, um dem zu entgehen. Dass ihr Ehemann nicht gut für sie war, merkt man an vielen Dingen, unter anderem – meiner Meinung nach – auch an dem Quantum Alkohol, das sie verträgt. Das ist schon erheblich, nebenbei bemerkt hat die Romanfigur mit ihrer Schöpferin auch da etwas gemein. Bemerkenswert finde ich ihre Ansicht zu Schafheutlin, dass er „zu keiner Zeit eine Kollektion von Gesichtern besessen“ habe; das deckt sich mit meiner Meinung über ihn, er ist ein ehrlicher Mensch und im tiefsten Grunde seines Herzens ist er ein gutmütiger Mensch. Auf ihn kann man zählen, auf ihn kann man sich verlassen – wenn man sich denn die Mühe macht, den Menschen Schafheutlin hinter dem Genossen und Stadtarchitekten (hinter der Teufelsmaske) zu suchen.


    Der Name Stalin fällt tatsächlich auch (Seite 388). Abstrusum: Das Denkmal bzw. die Denkmäler verschwanden, die Namen für Straßen und Gebäude wohl auch, aber der ganz alltägliche Stalinismus blieb.
    Und auch eine der alten DDR-Legenden taucht auf (Seite 421 f.): „Das war drüben, ja“ (Seite 422), die Eichmann, die Hakenkreuze, der Nationalsozialismus, „die Hitlerei“. Natürlich, man brauchte ja schließlich etwas, um daran zu glauben, dem eigenen Staat eine Legitimationsgrundlage zu geben: Man war ja so dagegen, man war ja so im Widerstand. Und dann kam da noch ein Roman, "Allein unter Wölfen", und man hatte, was man brauchte.

  • Das letzte Kapitel konnte mich wieder richtig fesseln. Meinem Mann war mein ungewöhnliches Leseverhalten aufgefallen. Oft nehme ich das Buch zur Hand, lese ein paar Seiten und lege es dann wieder weg.
    Es ist kein Buch, das sich einfach wegliest. Es stecken so viele Details zwischen und in den Zeilen, dass ich immer wieder pausieren muss. Ich kann das Lesen mit einer Bergwanderung vergleichen. Es geht stetig bergauf, so dass man zur Langsamkeit gezwungen wird. Mal erreicht man ein Plateau, von dem man Ausschau halte kann, mal geht es etwas leichter bergan, mal muss man ausruhen und den Ausblick genießen.


    Zitat

    Original von Clare
    ...
    Hier ist er: Ben. Der Fahrer. Ein gewisser Trojanowicz. Zwischen den Beiden entwickelt sich etwas, und ich habe den Eindruck, dass es für jeden von beiden etwas Anderes ist. Ben scheint sehr abgeklärt. Franziska und ihn trennen Welten der Erfahrungen, die er in Menge gemacht hat. Stellenweise hatte ich das Gefühl, dass er ihre vielen Worte und ihre Fachbegeisterung, die sie schon ein wenig eingleisig macht, mit dem Berg seiner Lebenserfahrung erdrückt
    ...


    Die Umstände dieser Beziehung habe ich schon sehnsüchtig erwartet. Sie spricht mit so viel Liebe und Nähe von Ben, dass ich ganz neugierig auf diesen Menschen bin.
    Mein Eindruck bis jetzt: ein außergewöhnlicher Mensch.


    Zitat

    Original von Clare
    ...
    Schafheutlin hat sich für mich zu einer Figur entwickelt mit der ich Mitleid habe. Er ist ein Gestrandeter, sicher nicht ganz unschuldig daran und bequem geworden mit den Jahren, aber trotzdem einer, der nicht aus seiner engen Hülle heraus kann. Er lehnt Franziskas Wirrheit und sprühende Lebendigkeit ab, und doch bewundert er sie. Fast hätte ich gesagt: Er betet sie an. Allerdings versteckt er das gut hinter schroffen Worten und nach Außen getragener Kritik.
    ...


    :write Ich finde schon, dass man durchaus von Anbeten sprechen kann.


    Zitat

    Original von Clare
    ...
    An einer Stelle bezeichnet Franziska sich und die anderen werktätigen Frauen als "Erwerbsweibchen", ein schlimmes Wort. Um welchen Preis die Frauen den Spagat zwischen Vollzeitarbeit und Familie schaffen mussten, ob sie wollten oder nicht, hat sich erst mit den Jahren der DDR gezeigt. ...


    Falls du das liest, liebe Clare:
    Wie meinst du das? Das würde mich sehr interessieren. Das Thema ist ja gerade hochaktuell.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Seite 357 taucht ein Gedanke auf, der mich, seit ich das Buch kenne, beschäftigt: Ein Mann und eine Frau lernen sich kennen, erfahren über einander und nun, wie hier formuliert, ist der andere das „unbekannte Land“. Die Geschichten, die Franziska für ihn hatte, für sie plausibel, für sie erklärbar und hinterfragbar, tragen nicht mehr, weil die seinen dagegen stehen und das dann noch immer mit dem Anspruch, die Wahrheit kundzutun. Es trifft das Grundproblem von Erwartung und Wirklichkeit, von Hoffnung und Enttäuschung, aber so wunderschön ge- und beschrieben wie hier habe ich es selten gelesen.
    ...


    Genau solche Stellen meine ich mit den oben beschriebenen Plateaus. :-]

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin