Titel: Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging
OT: Si tout n'a pas peri avec mon innocence
Autorin: Emmanuelle Bayamack-Tam
Übersetzt aus dem Französischen von: Christian Ruzicska und Paul Sourzac
Verlag: Scession Verlag für Literatur Zürich
Erschienen: Mai 2014
Seitenzahl: 320
ISBN-10: 3905951290
ISBN-13: 978-3905951295
Preis: 24.95 EUR
Kimberly ist ein junges Mädchen, das in einer großen und total chaotischen Familie aufwächst. Da ist die Mutter, entstellt durch eine Hasenscharte, die zwar operativ behandelt wurde – was aber an ihrer Hässlichkeit nicht viel geändert hat. Kimberlys Eltern haben fünf Kinder in die Welt gesetzt, die sich mehr oder weniger völlig selbst überlassen werden.
Um die beiden Brüder wird sich überhaupt nicht gekümmert.
Mit im Boot sind auch noch die Großmutter und der Großvater mütterlicherseits.
Die Mutter versucht ihre Defizite durch übertriebene sexuelle Gelüste wettzumachen. So strippt sie mit mehr oder weniger großen Erfolg in einem unterklassigen Striplokal, sie vögelt mit dem Schwimmtrainer einer ihrer Töchter und kommandiert die Familie wo sie nur kann – Widerspruch kann Gladys (so der Name der Mutter) überhaupt nicht ertragen.
Kimberly ist 20 Jahre alt als sie auf ihr bisheriges Leben zurückblickt und alles was sie erlebt hat Revue passieren lässt. Sie lehnt sich schon früh auf, ist nicht bereit die Gleichgültigkeit ihrer Eltern hinzunehmen, einer Gleichgültigkeit, die aber von einer Minute auf die andere ganz schnell in ein oberflächliches Interesse umschlagen kann. Trotzdem scheinen die Eltern nicht gewillt zu sein, Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Vielmehr sehen sie in ihren Kindern etwas Besonderes, doch die Kinder – mit Ausnahme von Kimberly – scheitern. Kimberly gibt dann aber eine vielversprechende Karriere in der Rhythmische Sportgymnastik auf.
Als Kimberly sich im Alter von 9 Jahren selbst befriedigt, ist sie dem Spott und dem Hohn ihrer Familie ausgesetzt. Gedemütigt und verhöhnt beschliesst Kimberly, diesen Tag als den einer neuen Geburt zu betrachten – sie sagt sich innerlich von ihrer Familie los und beschliesst allein zu bleiben. Nur für ihre jüngeren Brüder interessiert sie sich.
Der jüngere Bruder Lorenzo, rothaarig, wird seit seinem ersten Schultag gnadenlos gemobbt. Als Lorenzo sich im Garten erhängt, beginnt Kimberly sich zu protestuieren.
Bemerkenswert ist mit welchen einfühlenden Worten die Autorin diese menschliche Tragödie, den Tod des Bruders, schildert. Da ist man schon versucht das Buch beiseite zu legen und sich den eigenen Gedanken und Empfindungen hinzugeben.
Trost findet Kimberly immer wieder in der Lyrik Baudelaires. Sie findet in der Poesie ein Mittel zur Selbstbehauptung.
Es ist ein außergewöhnliches, ein großartiges Buch. Geschrieben von einer Autorin, die in Frankreich als Lehrerin arbeitet und bereits acht Romane geschrieben hat. Man kann nur hoffen, dass sie auch in Deutschland viel gelesen wird. Dieser Roman ist der zweite der in deutscher Sprache vorliegt.
Emmanuelle Bayamack-Tam schreibt in einer klaren Sprache, mal hart, mal poetisch – aber immer realistisch. Sie nennt die Dinge beim Namen, redet nicht drumherum, Abschweifungen sind notwendig und erhellen das Geschehen.
Ein sehr intensiver und sehr lesenswerter Roman. Ein Roman der sich auch mit der Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit innerhalb einer Familie beschäftigt, der menschliches Verhalten ohne Rücksicht transparent macht – nicht unbedingt zu Ehren der handelnden Personen.
10 Eulenpunkte für ein großartiges Buch. Ich habe dieses Buch mit großer Begeisterung gelesen. Endlich mal wieder ein Treffer im zumeist langweiligen Einheitsbrei der zeitgenössischen europäischen Literatur.