Kindeswohl - Ian McEwan

  • Kindeswohl
    Ian McEwan
    Diogenes
    ISBN: 3257069162
    224 Seiten, 21,90 Euro


    Über den Autor: Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er für ›Amsterdam‹ den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für das Gesamtwerk. Sein Roman ›Abbitte‹ wurde zum Weltbestseller und mit Keira Knightley verfilmt. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences.


    Kurzbeschreibung: Fiona Mave ist eine angesehene Richterin am High Court in London, bekannt für ihre Gewissenhaftigkeit. Mit ihrem Mann Jack, einem Geschichtsprofessor, ist sie seit mehr als dreißig Jahren verheiratet – harmonisch, wenn auch in letzter Zeit vielleicht ein wenig distanziert. So fällt sie aus allen Wolken, als er ihr eröffnet, dass er ihren Segen für eine außereheliche Affäre will.
    Genau in diesem Moment wird ihr ein eiliger Fall vorgelegt: Ein 17-jähriger Junge, der an Leukämie leidet, benötigt dringend eine Bluttransfusion. Aber seine Familie – Zeugen Jehovas – lehnt das aus religiösen Gründen ab. Genauso wie er selbst. Doch ohne Transfusion wird er qualvoll sterben. Fiona bleiben für ihr Urteil weniger als 24 Stunden. Kann sie jetzt, inmitten ihres emotionalen Tumults, ihre kühle Professionalität bewahren? Eine brisante Geschichte über den Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft, Glaube und Ratio.


    Meine Meinung: Die Hauptperson in diesem Roman ist eindeutig Fiona, eine gewissenhafte Familien-Richterin und auf den ersten Blick etwas langweilig wirkende Ehefrau, die mit Ende fünfzig ihre besten Jahre gemeinsam mit ihrem Ehemann Jack verbracht hat. Der nun, will ausbrechen aus dem plötzlich von ihm als langweilig empfundenen Eheleben und sich noch einmal im Bett einer jüngeren Frau austoben und dazu erbittet er die Genehmigung seiner Frau. Eine recht ungewöhnliche Bitte, die er stellt und da Fiona nicht aus ihrer Haut kann, geht der Konflikt seinen ganz eigenen Weg.
    Zeitgleich wird ihr der Fall einer Familie von Zeugen Jehovas vorgelegt, deren siebzehnjähriger Sohn an Leukämie sterben wird, wenn er keine Bluttransfusion bekommen wird, die er und seine Eltern aber ablehnen.


    Das ist nicht der erste Fall der Richterin, den der Leser vorgestellt bekommt und ich war anfangs etwas irritiert, was diese wirklich sehr interessanten und schwierig zu lösenden Gerichtsfälle mit der Handlung zu tun haben, doch das wird im Verlauf der Geschichte immer deutlicher – sie gehören alle zu Fiona als Person. Die Fälle, ihre Gedanken dazu und ihre Urteilsbegründungen zeigen ihre Persönlichkeit sehr deutlich auf und man versteht die Feststellung, die sie eines Tages über sich selbst trifft: „Sie gehörte dem Gesetz, wie manche Frauen früher Bräute Christi gewesen waren.“


    Zugegeben, ich hatte beim Lesen der Kurzbeschreibung die leise Befürchtung, mich würde ein etwas trocken geschriebenes Ehedrama erwarten und war froh über die geringe Seitenzahl des Buches. Schon nach wenigen Zeilen aber, hat mich dann der Schreibstil von Ian McEwan so fasziniert, dass ich das Lesen genossen habe und es bedauert habe, dass der Blick in dieses Miniuniversum seiner Figuren so schnell wieder beendet war. Hier stimmt einfach alles; die Ausarbeitung der einzelnen Figuren, die Entwicklung der Dialoge, die Schilderung des Seelenlebens der Fiona und sogar die bemessene Zeit der beschriebenen Gerichtsfälle. All das und die Dichte er Erzählung ergeben in meinen Augen einen perfekt abgerundeten Roman.


    Ich muss gestehen, dass es das erste Buch von McEwan ist, das ich in den Händen gehalten habe und dass mir recht schnell bewusst wurde, welchen großartigen Schriftsteller ich bisher verpasst habe. Nun freue ich mich darauf, weitere Bucher von ihm kennenzulernen und gebe diesem Buch begeisterte 10 Eulenpünktchen und eine dicke Leseempfehlung.

  • Vielen Dank für deine Einschätzung, Eska! :-)
    Das Buch steht ganz oben auf meiner Wunschliste.
    Aus persönlichen Gründen interessiert mich auch der Umgang mit dem Thema "Zeugen Jehovas" sehr.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

  • Ich habe Eskalinas stimmigen Rezension wenig hinzuzufügen. Ich habe das Buch ähnlich empfunden und auch 10 Punkte vergeben.


    Das Buch hat mir nicht nur sehr gefallen, sondern mich auch sehr beeindruckt. Auf so wenigen Seiten schafft Ian McEwan eine sehr komplexe Geschichte rund um die Familienrichterin Fiona Mave. Die Informationen über das englische Rechtssystem sind dabei alles andere als langweilig geschildert. Ich fand diesen Einblick sehr interessant. Dasselbe gilt für die, in meinen Augen sehr gut recherchierten Informationen über die Zeugen Jehovas, insbesondere in Bezug auf die komplizierte "Blutfrage".
    Auch wenn der Klappentext vielleicht auf eine etwas rührselige oder dramatische Geschichte hindeutet, findet man alles andere als das. Ich hatte während des Lesens immer das Gefühl ein Buch eines großartigen Schriftstellers in der Hand zu halten, dem es gelingt seinen Figuren Authentizität zu verleihen und das auf sehr eindringliche Weise.


    Das war auch mein erster Roman von Ian McEwan. Ich freue mich jetzt auf seine weiteren Geschichten.

    "There is beauty in imperfections. They made you who you are. An inseparable piece of everything…" Arcane

  • Einer der besten Romane McEwans


    Fiona Maye ist sechzig, eigentlich glücklich verheiratet und arbeitet erfolgreich als Familienrichterin am Londoner High Court. Sie ist ganz und gar typische Bildungsbürgerin, liebt klassische Musik, spielt mehr als leidlich gut Klavier, isst gerne und gut, und sie mag die dekadente Abgeschiedenheit der kleinen, innerstädtischen Wohnsiedlung, in der außer ihr und dem Gatten vor allem Juristen leben.
    Fiona verhandelt Scheidungssachen und Sorgerechtsfälle, doch die Routine wird fast schon regelmäßig durch Prozesse unterbrochen, in denen es um weit mehr geht. Da sind die strenggläubigen Katholiken, Eltern siamesischer Zwillingskinder, von denen nach Gutachtenlage nur eines überleben könnte, wenn man zulassen würde, dass das andere bei der Trennung stirbt. Die Eltern jedoch wünschen, dass die Kinder ihrem Schicksal, also Gottes Wille überlassen werden, was zur Konsequenz hätte, dass wahrscheinlich beide sterben würden. Da ist die Mutter zweier Mädchen, die sich nach der Trennung vom Vater wünscht, dass die Kinder, die bislang nach den Regeln des chassidischen Judentums erzogen wurden, die Gelegenheit bekommen, mehr über die Welt zu erfahren und von ihr zu erleben, als die orthodoxe Strömung zulässt. Und da ist Adam Henry, der siebzehn Jahre alte, an Leukämie erkrankte Junge, der nach einer erfolgreichen Behandlung Bluttransfusionen benötigen würde, um weiterleben zu können. Doch Adam Henry und seine Eltern sind Zeugen Jehovas, die Transfusionen kategorisch ablehnen. Auch der kluge und wissbegierige, sehr kurz vor der Volljährigkeit stehende Junge, den Fiona Maye - recht unorthodox - sogar im Krankenhaus aufsucht, wünscht sich den Verzicht auf die Behandlung, aber Fiona Maye hat nach dem zu urteilen, was dem wichtigsten Prinzip, der Grundlage all ihrer Entscheidungen entspricht, nämlich dem Kindeswohl. Nur: Was ist das eigentlich?


    Doch in McEwans neuem Roman geht es nicht nur um das Wohl tatsächlich existierender Kinder, sondern auch um das derjenigen, die nie geboren wurden, weil die Eltern keine Zeit für sie hatten oder gehabt hätten. Fiona und ihr Mann sind kinderlos; eine Entscheidung, die nie faktisch getroffen, sondern diskussionslos verschoben wurde - und für die es irgendwann zu spät war. Seit dem Prozess um die siamesischen Zwillinge und einem Urteil, das direkt zum Tod eines der beiden Kinder geführt hat, ist in Fiona etwas zerstört, das sie kaum benennen kann und auch dem Mann gegenüber nicht thematisiert. Weil ihm der Sex fehlt, sucht sich der Gatte eine Geliebte - und stellt die eigene Frau vor die Entscheidung, die Affäre zu akzeptieren oder abzulehnen. Die Richterin urteilt ungewöhnlich schnell und setzt den Mann vor die Tür.


    "Kindeswohl" ist aus der Sicht der weiblichen Hauptfigur erzählt, und das mit extrem hoher Präzision und Empathie. McEwan gelingt eine bestechend detailreiche, jederzeit spannende Schilderung der Abläufe und Entscheidungen vor Gericht, vor allem aber deren Vorbereitung durch Fiona Maye, die es sich keinesfalls leicht macht, die zumeist religiösen Implikationen zu respektieren versucht und dennoch einen Weg findet, der ethische, moralische, juristische und faktische Aspekte verbindet. Das ist mehr als einfach nur atemberaubend, und die Ansichten der Glaubensvertreter werden keinesfalls der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern in durchaus ehrenhafter Weise betrachtet. Das ändert wenig daran, dass die Dogmen und Regeln oft ans Absurde grenzen und mit säkularer Gerichtsbarkeit kaum zu vereinbaren sind. Aber "Kindeswohl" ist kein vordergründig religionskritischer Roman. Natürlich kommt Fiona Maye im Rahmen der entsprechenden Prozesse fast immer zu Urteilen, die die weltliche Justiz, vor allem aber eben das Kindeswohl über die religiösen Regeln stellen, aber in der Innenschau - etwa in der Romanmitte - meint sie sinngemäß, dass Religionen, überhaupt moralische Prinzipien wie die Gipfel einer Bergkette am Horizont sind, keiner davon deutlich höher als der andere. Moral und Ethik sind keine absoluten Kategorien, sondern vergängliche Prinzipien, subjektiv und durchaus relativ, zwar von unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit und Wahrhaftigkeit, aber nicht nur allein deshalb falsch oder richtig, weil die Gruppen, die ihnen folgen, größer oder kleiner, mächtiger oder wehrloser, intelligenter oder dümmer, offener oder verschlossener wären. Was ihnen fraglos oft entgegensteht, dass ist die reale Gegenwart, und im konkreten Fall die Notwendigkeit, ein Urteil zu fällen, dass die Dogmen zwar nicht hinterfragt, ihre Bedeutung im Hinblick auf das Kindeswohl jedoch relativiert. Und natürlich ist das dann doch wieder religionskritisch, aber auf so klug-indirekte Weise, dass man eigentlich nur zustimmen kann.


    Der Eindruck, den diese Rezension bis hierhin macht, mag unrichtig sein. Gleichwohl im Zentrum der Handlung stehend, geht es im Roman nicht nur um Mayes Urteile, sondern um ihr Privatleben und die dortigen Konsequenzen ihres professionellen Handelns. Diese zeigen sich konkret im Fall des jungen Zeugen Jehovas, der nach der richterlichen Entscheidung versucht, sich an dieser Richterin zu orientieren, sich ihr zu nähern, was Fiona Maye irritiert, was sie verweigert. Parallel muss sie erkennen, dass Objektivität und Sachlichkeit ihre Grenzen haben, wenn es um Emotionen geht, ohne die eine funktionierende Liebesbeziehung schlicht nicht auskommen kann. Auch in einer Ehe sind die Kausalitäten nicht mit dem Präfix "Mono" ausgestattet.


    Ian McEwan ist ein brillanter, zwingender Erzähler, dem die Robe der Richterin gut passt. "Kindeswohl" gehört zweifelsohne zu seinen besten Romanen, besticht durch die thematische Stringenz und exzellente Recherche. Das zwar nicht sehr überraschende, wohl aber verblüffende Ende nimmt der vermeintlichen Eindeutigkeit des Vorangegangenen einiges an Wind aus den Segeln, unterstreicht vor allem jedoch die Frage, wer eigentlich nach einem Urteil die Verantwortung für dessen Folgen trägt. Ein sehr, sehr gutes Buch!

  • Als einer von denen, die beruflich im selben Saal auf der anderen Seite des Tisches sitzen kenne ich die von Ian McEwan hier geschilderten Situationen alle aus eigenem Erleben. Daher gehen mir die Schilderungen recht nahe. Der Autor hat den richtigen Ton getroffen und einen grandiosen Roman geschrieben- wer die Materie nicht kennt muss aufpassen, dass er nicht zur weit geht.

  • Ich habe mir das Buch letzthin auf die WL gesetzt, weil hier bei den Eulen jemand nach Büchern über Sekten gefragt hat und da wurde dieses Buch empfohlen.


    Nachdem ich jetzt eure Rezis gelesen habe, muß ich es gleich bestellen.


    Edit - und schwups schon bestellt :grin