Tomaten mögen keinen Regen – Sarah Michaela Orlovský (ab. ca. 13 J.)

  • Sie leben zusammen wie Geschwister, Eilis, Hovanes, Tiko, Gaya und Sirup. Aber sie sind keine Geschwister, sie sind Waisen. Noch dazu besondere, weil sie anders sind. Sie sind Kinder mit einer Behinderung, angeboren, erworben, geistig oder körperlich. Ein Heim gefunden haben sie in Haus Bethlehem, irgendwo auf dem Land, betreut werden sie von den beiden Ordensfrauen Rosa und Miki.
    Zur Zeit sind Sommerferien, aber das heißt nicht, daß es nichts zu tun gäbe. Die Kinder haben ihre Pflichten im Haushalt und besonders im Garten.


    Erzählt wird die Geschichte dieser Sommerwochen vom dreizehnjährigen Hovanes in Rückerinnerungen, ausgelöst durch eine aktuelle Krise, an der Hovanes nicht unschuldig ist.
    Er ist der älteste der fünf und kämpft mit seiner Behinderung ebenso wie mit den Gefühlen der Teenagerzeit. Hovanes ist dünnhäutig, auch wenn er das nicht zeigt. Er fordert von anderen ein hohes Maß an Zuneigung, was zugleich seine Neigung zur Eifersucht fördert, wenn das Maß nicht erfüllt wird. Die größten Probleme hat er mit Sirup, der ein wenig jünger ist und der zweite Junge im Haus. Sirup ist laut, unbeherrscht, er rennt und tobt und redet fast unablässig. Er ist damit das Gegenteil von Hovanes, der all das, was Sirup ist, nicht sein kann.


    Breiten Raum nimmt das Zusammenleben der Kinder und ihr Alltag ein. Ihre jeweilige Behinderung ist nicht Thema der Handlung und auch nicht vordergründig Teil der Charakterisierung der Figuren. Über weite Strecken muß man sich beim Lesen selbst zusammenreimen, mit welchem Handicap die Kinder jeweils zu kämpfen haben. Wesentlich ist, daß hier eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen als Kinder und Jugendliche agieren, mit ihren Streitereien, Freundlichkeiten, Nachlässigkeiten, ihrer Abneigung aufzuräumen, sich zu waschen, in der Küche zu helfen oder ordentlich am Tisch zu essen. Auf ihre Art ist Orlovskýs Geschichte die Geschichte eines Familienalltags über einige Wochen hinweg.


    Das Thema Behinderung kommt dann ins Spiel, wenn es um die Selbstwahrnehmung geht, z.B. wenn Gaya verstohlen ihre Angst äußert, daß sie weggesperrt werden oder in Arbeitslager kommen kann ‚wie früher‘. Oder bei Eilis, die immer noch Albträume von dem Unfall hat, seit dem sie nicht mehr laufen kann.


    Zum anderen wird das Thema wichtig in der Auseinandersetzung mit der Welt außerhalb von Haus Bethlehem. Eine Journalistin meldet sich an, die einen der üblichen Betroffenheitsartikel über behinderte Waisenkinder schreiben möchte. Es wird ihr nicht gelingen, die Begegnung mit den Kinder ändert ihre Einstellung gründlich. Die Figur bleibt ein wenig blaß, weil Orlovský stilistisch knapp und sparsam arbeitet. Das allerdings ist wiederum hilfreich, die tödlichen sentimentalen Fallen zu vermeiden, die gerade diesem kleinen Handlungsstrang inneliegen.


    Orlovskýs Geschichte enthält einige Elemente sentimentaler Tradition bei der Bearbeitung des Themas Waisenkinder wie Kinder mit Behinderung. Das Erstaunliche ist, daß nicht eines davon seine sentimentale Wirkung entfaltet, weder offen noch versteckt. Das gilt auch für die Behandlung des christlichen Umfelds. Obwohl der Bezug gegeben ist, ist das Buch nicht zur christlichen Tendenzliteratur zu rechnen. Elemente des Glaubens haben nichts mit der eigentlichen Handlung zu tun. Daran ändert auch der Abdruck des ‚Weisheitslieds Davids‘ am Ende nicht.


    Die wachsende Spannung des Romans entspringt emotionalen Konflikten der kindlichen Figuren und diese wirken beklemmend lebensecht. Zugleich verbreitet ihre Lebendigkeit eine ausgesprochene Wärme, die auch dann wirkt, wenn sich einzelne Figuren besonders übel betragen. Die Geschichte endet hoffnungsvoll, auch wenn die wenigsten Probleme gelöst werden.


    Sprachlich, in seiner Figurenzeichnung und wegen der Fragen, die gestellt werden, ist die Geschichte ein Schatz im Bereich des zeitgenössischen Jugendbuchs.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus