Tessa de Loo "Die Zwillinge"

  • Originaltitel:"De Tweeling" .


    Mußte bei der diesjährigen Oscar-Verleihung mit Überraschung feststellen, das dieses tolle Buch verfilmt wurde!
    Darum aus aktuellem Anlass hier meine Buchvorstellung:


    Mehr als 40 Jahre nach Kriegsende treffen sich zwei alte Damen in dem belgischen Kurort Spa und stellen fest, daß sie mehr verbindet als ihre Arthrose: Sie sind Zwillinge!
    Das Buch beschreibt, wie die Schwestern nach dem frühen Tod der Eltern getrennt wurden. Während Anna im Dritten Reich zur klassischen Mitläuferin wird, erlebt Lotte in Holland den Widerstand gegen die Nazis.
    Gemeinsam versuchen sie jetzt eine schmerzhafte Annäherung.


    Spannend und mit viel Gefühl geschrieben!!!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT

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  • Ich kann das Buch ebenfalls nur empfehlen!
    Seit Montag gibt es die DVD zum Film im Handel. Ich hatte noch das Glück ihn im Kino zu sehen und kann auch diesen wärmstens empfehlen.

    Illusionen werden aus Gedanken über das Leben geboren, aber sie sterben nicht am Denken, sondern am Leben.
    Lou Salome

  • In ihrem Roman “Die Zwillinge” beschreibt Tessa de Loo das Leben zweier Schwestern, die im Köln zwischen den Weltkriegen geboren werden. Anna und Lotte sind Zwillingsschwestern, wie sie im Buche stehen, jedoch trotzdem in vielen Dingen verschieden.


    Als die Elten früh sterben, werden Anna und Lotte getrennt und wachsen bei unterschiedlichen Verwandten auf.


    Anna wird zu ihrem Onkel gebracht, um dort auf dem Hof im Lippischen groß zu werden. Ihre Stieftante, die selbst keinen Handschlag tut, missbraucht Anna als billige Arbeitskraft so lange, bis der ortsansässige Pfarrer Anna auf eine kirchliche Hauswirtschaftschule schickt, um sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen.. Da ist Anna schon eine Jugendliche, die über 10 Jahre nichts von ihrer Schwester gehört hat.


    Lotte wird hingegen zu entfernten Verwandten in die Niederlande gebracht. Ihr Glück ist es, dass der Onkel im Lippischen das kränkelnde Kind nicht aufpeppeln und füttern will – Lotte hat TBC. Doch wird sie unter der liebevollen Pflege ihrer niederländischen Gastfamilie bald wieder gesund.


    Um den Kindern etwas Gutes zu tun, fangen die Erwachsenen sämtliche Briefe, die die Schwestern sich schreiben, ab, so dass beide völlig auf sich alleine gestellt sind und lange nichts voneinander hören.


    Während und nach dem zweiten Weltkrieg treffen sich die inzwischen erwachsenen Schwestern mehrmals, können sich jedoch nicht annähern. Ursachen dafür liegen in den verschiedenen „Welten“; in denen die Schwestern großgeworden sind.


    Und als sie sich jetzt, in der Rahmenhandlung des Buches, zufällig in einem Kurort in Belgien treffen, sind beide schon über 70. Dort beginnt ein sehr sehr langsames Herantasten an die jeweils andere Schwester, Anna versucht auch, ihre Sicht der Dinge darzustellen, die es der Schwester erklären kann, warum Anna einen SS Offizier geheiratet hat, während ihre Schwester in den Niederlanden untergetauchte Juden versteckt hat.


    Mir hat dieses Buch sehr gut gefallen, obwohl ich die grobe Handlung schon von dem gleichnamigen Film kannte.


    Das Buch geht sensibel mit den betreffenden Themen um, sei es nun die deutsch-niederländische „Freundschaft“ nach dem Krieg, das Erleben desselben auf zwei verschiedenen Standpunkten oder auch die Uneinsichtigkeit von Lotte, deren Verlobter in Auschwitz umkam und die es ihrer Schwester nicht verzeihen kann, dass sie mit dem Feind in einem Boot saß – im Gegensatz zu Anna, die auch glaubwürdig ihre Sicht der Dinge darlegt und vehement versucht, Verstehen für ihre damaligen Handlungen bei der Schwester zu erreichen, auch, wenn sie eine klassische Mitläuferin war.

    :lesend Anthony Ryan - Das Heer des weißen Drachen; Navid Kermani - Ungläubiges Staunen
    :zuhoer Tad Williams - Der Abschiedsstein

  • Anna und Lotte sind Zwillinge. Allerdings haben sie ihr Leben nicht wie die meisten Geschwister gemeinsam verbracht, sondern wurden im Alter von nur sechs Jahren nach dem tragischen Tod ihrer Eltern getrennt. Anna blieb bei ihren Großeltern in Deutschland, während Lotte bei Verwandten väterlicherseits in den Niederlanden aufwuchs. Was heute keine große Entfernung mehr darstellt, war 1922 schier unüberwindbar. Die Zeit der Weimarer Republik und der sich anbahnende Zweite Weltkrieg trennte das Geschwisterpaar viele Jahre. Der Kontakt wurde nie wieder so innig wie sie ihn als Kinder hatten und brach schließlich ganz ab. Erst im Alter von über 70 Jahren treffen sich die beiden im Belgischen Kurort Spa wieder. Zögerlich berichten sie von ihren Leben, die so unterschiedlich verbracht wurden.


    Tessa De Loo schafft mit ihrem Roman über die Zwillinge Anna und Lotte eine außergewöhnliche Sichtweise auf die Entwicklung eines Menschen und wie sehr das Umfeld prägend sein kann. Gleichzeitig legt sie ein Zeitzeugnis über die Umbruchszeit in der Weimarer Republik ab. Anna verbringt ihr Leben in Westfalen, wo sie auf dem Hof ihrer Großeltern helfen muss. Viel Zeit für eine schulische Ausbildung blieb ihr nicht. Ganz anders erging es Lotte, die in den Niederlanden ein privilegiertes Leben führte. Diese Unterschiede haben offenbar dazu geführt, dass die beiden Frauen sich auch charakterlich unterschiedlich entwickelten. Anna ist lebensfroh und geht offen auf andere Menschen zu, während Lotte introvertiert ist und anderen gegenüber eine ablehnende Haltung hat. Selbst ihrer Schwester gegenüber gibt sie sich spröde. In ihr brodelt eine Wut, die Anna zunächst nicht nachvollziehen kann.


    Die beiden Frauen haben nun in ihrer Kur Gelegenheit, die Jahre ihrer Trennung aufzuarbeiten. Die Gespräche schildern die unterschiedlichen Lebensbedingungen der benachbarten Länder. Die Zeit vor dem Krieg wird bei ihnen überschattet mit der Trauer um die Eltern und der Sehnsucht nacheinander. Der Krieg wirft natürlich andere Probleme auf, in denen die Frauen reifen. Ihre Lebenswege sind so unterschiedlich, dass sie sich mehr und mehr entfremden, bis sie sich schließlich nichts mehr zu sagen haben. Das familiäre Band reißt dennoch nie ganz ab. Die Autorin schafft hier einen dermaßen großen Einblick in die Charaktere, dass der Leser sich wie ein heimlicher Beobachter der Szene fühlt. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen schließen sowohl persönliche Handlungen als auch politische mit ein. Das Lesen ist nicht nur unterhaltsame Zeitgeschichte, sondern fördert durch Anna und Lotte das Völkerverständnis.


    Tessa De Loo beeindruckt mit ihrem Roman. Die fiktive Geschichte ist detailliert ausgearbeitet und durchgängig glaubhaft. Lottes Enttäuschung über die Trennung von ihrer Schwester ist wie ein roter Faden durch ihren gesamten Lebenslauf. Nur schwerfällig lässt sich diese entstandene Lücke füllen. Mit dem Ausbruch des Kriegs verliert sie obendrein ihre Wurzeln und schämt sich hinterher sogar ihrer Herkunft. Auch hier ist es der Autorin gelungen, der jüngeren Generation die Denkweise der Älteren begreifbar zu machen. Die Dialoge lassen die Leser ganz nah an die Figuren herankommen und mitfühlen. Die Zeit soll nicht etwa vergessen, sondern vielmehr durch Verständnis füreinander aufgearbeitet werden. Die Erzählweise weckt Emotionen und ist ein nachhaltiges Leseerlebnis, das ich gerne empfehle.