Menno Schilthuizen: Darwins Peepshow. Was tierische Fortpflanzung über das Leben und die Evolution enthüllen. OT: Nature’s Nether Regions. What the Sex Lives of Bugs, Birds and Beasts Tell uns about Evolution, Biodiversity and Ourselves, aus dem Englischen von Kurt Neff, München 2014, dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-423-28041-9, Hardcover mit Schutzumschlag, 341 Seiten mit 28 s/w-Illustrationen, Format: 14,1 x 3,2 x 21,6 cm, Buch: EUR 19,90, Kindle Edition: EUR 15,99.
„Der KWW-Theorie zufolge evolvieren G e n i t a l i e n größtenteils deswegen, weil Weibchen sich aus der Zahl der verfügbaren F r e i e r die besten heraussuchen (...) um seinen Nachwuchs mit den besten Genen auszustatten, an die es kommen kann. Für das SAK-Lager dagegen verläuft die G e n i t a l evolution als ein sich wechselweise aufschaukelnder männlich-weiblicher Kampf darüber, wer das letzte Wort in Sachen Befruchtung hat (...)“ (Seite 278)
Als durchschnittlich informierter Homo sapiens fragt man sich, was bitte an der Fortpflanzung von Tieren so spannend sein soll, dass man darüber forschen und Bücher wie dieses schreiben kann. Funktioniert das nicht überall gleich? Es gibt ein Dingens, das Eier beinhaltet und ein anderes, das Samen injiziert. Bei großen Tieren sind diese Dinge groß, bei kleinen Tieren klein – und das war’s. Oder? – Nein, so simpel ist die Natur nicht gestrickt. Bei manchen Insekten, Schnecken, Vogelarten und sogar Säugetieren gibt es derart komplizierte „Apparate“ und Prozesse, dass sich selbst Forscher zu der Bemerkung hinreißen lassen: „Warum einfach, wenn’s auch umständlich geht?“.
Nun macht die Natur nichts aus Jux und Dollerei. Nur was zweckmäßig ist, setzt sich durch. Wenn sich also eine Vielzahl hochkomplexer Organe und Methoden entwickelt hat, wo theoretisch das Modell „Injektionsspritze“ + „Eierbehältnis“ ausreichen würde, muss es dafür gute Gründe geben.
In den 70er-Jahren fragte sich William G. Eberhard, der als studentische Hilfskraft im Museum für Vergleichende Zoologie an der Harvard-Universität arbeitete, wieso man unterschiedliche Tierarten der gleichen Familie oft nur zweifelsfrei an den G e n i t a l i e n unterscheiden kann. Warum braucht die Natur beispielsweise bei Käfern, Schaumzikaden und Spinnen eine gerade unüberschaubare Vielfalt an P*nis-Modellen?
- Passen die G e n i t a l i e n von Männchen und Weibchen vielleicht wie der Schlüssel ins Schloss, damit nah verwandte Arten sich nicht untereinander vermischen? ---> Schlüssel-Schloss-Theorie
- Sind all die Varianten das Ergebnis einer s*xuellen Evolution? Das hieße, es pflanzt sich eben die Variante am erfolgreichsten fort, die von den potenziellen Paarungspartnern als die attraktivste angesehen wird. Und weil im Tierreich meist Damenwahl herrscht, hat das den größten Erfolg, was den Weibchen gefällt. ---> Kryptische Weibchenwahl (KWW)
- Oder geht es in Wahrheit darum, zu bestimmen, wer sich fortpflanzt? Die Männchen entwickeln Strategien, um möglichst viele Nachkommen zu zeugen, die Weibchen ihrerseits sind bestrebt, nur von den stärksten und gesündesten Männchen Junge zu bekommen. Wer also entscheidet, wessen S p e r m i e n zum Zuge kommen? Hier setzt so eine Art Wettrüsten ein: Entwickeln sich auf weiblicher Seite Methoden, die es den Damen ermöglichen eine diesbezügliche Wahl zu treffen, wird auf männlicher Seite bald eine Gegenstrategie entwickelt. Und so wird die Sache mit dem Zeugungsakt immer komplizierter. „Die Schwerter werden schärfer, also werden die Schilde dicker. Also werden die Schwerter noch schärfer“, bringen Richard Dawkins und John Krebs die Sache auf den Punkt. (Seite 174) ---> Sexuell antagonistische Koevolution (SAK)
Der Leser entdeckt eine Vielzahl sonderbar ausgestatteter Tiere und geradezu absurd aufwändig erscheinender Balz- und Paarungsmethoden. Dabei sind Hermaphroditen wie die Schnecken und Muscheln nicht mal die Exotischsten. Für sie ist es nur besonders schwierig, weil sich jede von ihnen blitzschnell entscheiden muss: Männchen oder Weibchen? Befruchten oder empfangen? Wobei ersteres bevorzugt wird. Ist halt irgendwie weniger Aufwand. Und bei manchen Tierarten ist das Paarungsritual so brutal, dass man sich fragt, warum die nicht schon längst ausgestorben sind. Da wird geritzt und gestochen, mit Kalkpfeilen geschossen, angeknabbert, amputiert – und am Schluss aufgefressen. Es gibt sogar Tiere, die sich vorsätzlich selbst verstümmeln. Sei es, weil dies die Chancen auf Nachkommenschaft erhöht oder aus reinem Selbstschutz – weil die „Ornamente“, die ihnen im Zuge der kryptischen Weibchenwahl angezüchtet wurden, im Alltag so hinderlich sind, dass es lebensbedrohlich ist.
Auch die Forschungsarbeit an sich ist kein Streichelzoo. Da sind schon einige für den Laien recht wüst klingende Tierversuche dabei.
Wir lernen das „Bateman-Prinzip“ kennen, das da lautet: „Sp*rmien sind billig, Eier sind teuer, deswegen sind Weibchen wählerisch, Männchen zügellos“ (Seite 75) und die Meinung der Kritiker dazu. Wir erfahren vom Bruce-Effekt, der bei den Weibchen mancher Tierarten wie z.B. äthiopischen Blutbrustpavianen und bei diversen Nagern einen Schwangerschaftsabbruch auslöst, sobald ein neues Alphamännchen an die Macht kommt. Dieses würde die Kinder seiner Vorgänger ohnehin töten, also hat es gar keinen Sinn, dass die Weibchen sich mit dieser Schwangerschaft belasten. Allein der Geruch des neuen Chefs löst eine hormonelle Veränderung aus, die die Trächtigkeit vorzeitig beendet und den Weg frei macht für Nachwuchs vom neuen Alphatier.
Muss man das alles wissen? Nein, aber es ist einfach unterhaltsam und hochinteressant! Die Wissenschaftler, die sich mit diesem Themenkomplex befassen, müssen sich selbst einiges an Spott gefallen und der Geldverschwendung bezichtigen lassen. Tierp*mmel werden als Forschungsobjekt einfach nicht ernst genommen. Kees Moeliker, der Kurator des Naturkundemuseums Rotterdam, durfte sich sogar über den „Ig-(bzw. Anti-)Nobelpreis freuen – für einen Artikel über das befremdliche Treiben zweier Argentinischer Ruderenten-Erpel. Das heißt, nur einer trieb, der andere war nach einer Kollision mit einer Glasscheibe bereits verschieden. Die Story ist so abgefahren, die sollte man sich am besten von Professor Schilthuizen selber erzählen lassen. Er macht das klasse: Seite 188 ff. „Zum Andenken an den unrühmlichen Tod des Objekts NMR 9980-00232 begeht das Naturkundemuseum Rotterdam an jedem Jahrestag des Ereignisses den „Tote-Ente-Tag“ (...) – krönender Abschluss (...) ist ein gemeinsames Abendessen der Teilnehmer (Pekingente) in einem örtlichen China-Restaurant.“ (Seite 190)
Man sieht: (Populär-)Wissenschaft muss nicht staubtrocken sein. Auch wenn’s in Natur und Forschung manchmal ruppig bis brutal zugeht: Das Buch hat eine ganze Menge komischer Momente. In lockerem Plauderton erzählt uns der Autor, was die Wissenschaft über die Fortpflanzungsmethoden der Tiere inzwischen weiß, wo noch Fragen offen sind – und was das für das Leben, die Evolution, die Biodiversität und uns selbst zu bedeuten hat.
Die Übersetzung von Kurt Neff ist genial. Wenn man nicht wüsste, dass das kein ursprünglich deutscher Text war, man würde nicht drauf kommen. Metaphern, alberne Sprüche, Redensarten, bildhafte Vergleiche, was auch immer Professor Schilthuizen auffährt – Neff findet immer eine elegante deutsche Lösung für das, was der niederländische Autor ursprünglich mal auf Englisch geschrieben hat. (Was ich natürlich nicht beurteilen kann: Ob das für die Fachausdrücke ebenfalls gilt. Ich bin kein Biologe, sondern gehörte zur Zielgruppe der interessierten Laien, für die das Buch geschrieben wurde.)
Manche Tiere wird man, nachdem man dieses Buch gelesen hat, mit ganz neuen Augen sehen und vielleicht nie wieder unbefangen betrachten können. Den Tigerschnegel, eine Nacktschneckenart, zum Beispiel. Oder Enten.
Der Blick in die „Schlafzimmer“ der Tierwelt ist amüsant und interessant. Und er gibt einem zu denken. 21 Seiten mit Anmerkungen, ein 28seitiges Literaturverzeichnis sowie ein sechsseitiges Register „verraten“ den wissenschaftlichen Autor und runden den Band ab.
„Menno Schilthuizen hat einen unglaublichen Sinn für Humor und schafft es auf eine klare und sehr unterhaltsame Weise das komplexe Thema S*x zu erklären. Bei der Lektüre musste ich lachen und war gleichzeitig - wieder einmal - völlig perplex angesichts der Vielfalt der Natur.“ Isabella Rossellini
Der Autor
Prof. Dr. Menno Schilthuizen, Jg. 1965, ist als Evolutionsbiologe am „Naturalis“, dem niederländischen Zentrum für Biodiversität, tätig und lehrt an der Universität Leiden. Er hat zahlreiche Fachveröffentlichungen sowie populärwissenschaftliche Bücher (›Frogs, Flies & Dandelions: The Making of Species‹, ›The Loom of Life; Unravelling Ecosystems‹) vorgelegt und schreibt für Zeitschriften wie ›Natural History‹, ›New Science‹, ›Science‹ oder das niederländische ›Handelsblad‹.