Shion Miura: Schneeschütteln in Kamusari (ab ca. 14 J.)

  • OT: Kamusari naanaa nichijou 2009


    Yuki hat gerade die Oberschule abgeschlossen. Ein guter Schüler war er nie, er hat wenig Ehrgeiz und seine Zukunft interessiert ihn nicht besonders. Das Leben nach der Schule besteht hauptsächlich daraus, mit seiner Clique in Yokohama abzuhängen und nebenher ein bißchen zu jobben. Yuki ist zufrieden damit. Seine Eltern sind es nicht. Als sein ehemaliger Lehrer auf ein Angebot der japanischen Regierung stößt, junge Männer für die aussterbende Forstwirtschaft zu rekrutieren, ist Yukis Schicksal besiegelt. Anfang April findet er sich in einem abgelegenen Gebiet wieder, das sich durch zwei Dinge auszeichnet: Berge und Bäume.
    Yuki kann es nicht fassen. Aber er bekommt wenig Gelegenheit, seine Beschwerden zu äußern. Die Menschen in Kamusarimura sind durch nichts aus der Fassung zu bringen. Ihr Kernsatz lautet: Naa, paßt schon. Und sie sind fest entschlossen, aus Yuki einen erstklassigen Forstarbeiter zu machen.


    Mit Yuki als Ich-Erzähler lernt man in dieser Geschichte eine sehr fremde Welt kennen. Nicht, weil das Buch in Japan spielt, sondern weil alles, was geschieht, den Ablauf der Jahreszeiten und der Pflege der Bäume unterworfen ist. Die Wälder herrschen, in ihrem natürlichen Wachstum ebenso wie in den Mythen, die die dort lebenden Menschen um sie spinnen. Yukis Fassungslosigkeit angesichts des zuerst merkwürdigen Gebarens der Menschen in dem kleinen Dorf, in das es ihn verschlagen hat, entspricht genau dem Staunen, das man beim Lesen empfindet.


    Wald und Bäume werden ebenso ausführlich geschildert wie die Menschen und geraten ebenso lebendig. Pollenstürme, Schneeschütteln, Erdbeben, ein Waldbrand sind die Abenteuer, die Yuki erlebt. Alles gipfelt in einem wahnwitzigen religiösen Ritual des Fällens einer vielhundertjährigen Zeder.
    Es ist ein ruhiges Buch, langsam, wie der Lebensrhythmus der Menschen des fiktiven Kamusari und der Bäume. Wie für Yuki Teil seines Lebens, werden sie auf gemächliche Weise Teil des Leselebens. Wie Yuki gewöhnt man sich auch an den seltsamen Dialekt der Menschen vor Ort. Der Dialekt ist von der Übersetzerin Antje Bockel auch witzig eingefangen.


    Die BewohnerInnen des Dorfs und die Gruppe von Forstarbeitern, denen Yuki zugewiesen wird, sind höchst eigenwillige Charaktere. Ihr Verhalten ist oft verblüffend, erst wenn man ihre Welt besser kennenlernt, versteht man sie allmählich. Von den technischen Entwicklungen der Gegenwart sind sie keineswegs abgeschnitten, es gibt Autos, Telefon. Yuki wird an einer Kettensäge angelernt, die er, ungeachtet der Blasen an den Händen, auch voll Stolz (und unter manchen Pannen) einsetzt. Andere in seiner Gruppe arbeiten nur mit Axt und Säge, Altes und Modernes wirkt zusammen.


    Das gilt auch für die Lebensgestaltung. Man verbringt Abende vor dem Fernseher, daß ein Kind einmal von den örtlichen Göttern entführt wird, ist aber genauso selbstverständlich.
    Gemessen an japanischen Verhältnissen, enthält der Roman einiges an Zivilisationskritik, ohne aber Althergebrachtes als den besseren Teil anzupreisen. Man nimmt von beidem, was wirklich wichtig ist.


    Das Leben mit dem Wald ist keine Idylle, die Gefahren bei der Arbeit sind immer gegenwärtig. Yuki lebt in ständiger Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, als junger Mensch, als junger Mann, als Städter. Und als Heimatloser. Das ist ein wesentliches Motiv dieser Geschichte. Erst in Kamusari, ein Ort, an dem man ihn zum ersten Mal in seinem Leben braucht, kann er erwachsen werden.


    Das Buch ist sehr schön ausgestattet, sechs kleine Silhouetten von verschiedenen Bäumen schmücken als Vignetten den Anfang der jeweiligen Großkapitel und erscheinen am Seitenrand zusammen mit der Seitenzahl. Am Ende gibt es ein ausführliches Glossar mit den japanischen Wörtern, die im Text auftauchen.
    Eine eigenwillige Geschichte, ein besonderes Buch.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus