Simon Jaspersen: Bevor die Nacht kommt
Verlag: rororo 2014. 448 Seiten
ISBN-13: 978-3499268533. 9,99€
Verlagstext
Über der Reichshauptstadt türmen sich schwere Wolken. Inmitten der schlimmsten Hitzewelle sucht die Berliner Polizei nach einem Serienmörder: Vier junge Frauen verschwanden bisher, alle wurden erdrosselt aufgefunden. Nun hat der Täter erneut zugeschlagen. Die Reichskriminalpolizei glaubt, in Wilhelm Legner den Täter gefunden zu haben. Der junge Psychiater Dalus hegt jedoch Zweifel. Sein ehemaliger Patient ist zwar im Rotlichtmilieu bestens bekannt - aber ein Serienmörder?
Oberkommissar Mohrfels gerät immer stärker unter Druck. Auch Dalus rückt der Fall plötzlich schrecklich nah: Seine Schwester Marie ist wie vom Erdboden verschluckt. Ist sie ein weiteres Opfer dieser Stadt der korrupten Politiker, gierigen Finanziers und skrupellosen Gangsterbanden?
Der Autor
Simon Jaspersen, geboren in Hamburg, studierte Soziologie und Literaturwissenschaft in seiner Heimatstadt. Danach war er als freier Autor und Regisseur für den NDR im Bereich Hörspiel tätig, arbeitete als Lektor. Seit 2012 arbeitet Simon Jaspersen als freier Übersetzer und Lektor. Bevor die Nacht kommt ist der erste Roman des Autors wie auch der erste Fall für die Ermittler Dalus und Mohrfels.
Inhalt
Im außergewöhnlich heißen Sommer 1920 fiebert Berlin der Reichstagswahl am 6. Juni entgegen, die zum Verlust der Mehrheit der Weimarer Koalition führen wird. In der Stadt hat es eine Reihe von Morden an jungen Frauen gegeben, die vor ihrem Tod offenbar gefangen gehalten und schwer misshandelt wurden. Eine weitere junge Frau wird nun vermisst. In der Woche vor der Wahl spitzt sich die Suche nach dem Täter zu, den die Presse sensationshungrig den „Schlitzer“ nennt. Von der Polizei wird in dieser unruhigen Epoche erwartet, dass sie das Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt und der Öffentlichkeit schnell einen Verdächtigen präsentiert.
Ermittler der Reichskriminalpolizei ist Ernst Mohrfels, der als Person erst spät im Buch Konturen annimmt. Mohrfels verlangt vom Psychiater Dr. Johann Dalus, einen polizeibekannten Verdächtigen in die Psychiatrie einzuweisen, um den Volkszorn zu beschwichtigen. Dalus hat (vermutlich als Folge seiner Tätigkeit als Feldchirurg im Ersten Weltkrieg) mit einer unbehandelten Angsterkrankung zu kämpfen. Dalus Schwester Hedwig, die er seit Jahren nicht gesehen hat, konfrontiert ihn in dieser spannenden Woche mit verdrängten Ereignissen seiner Kindheit.
Mohrfels sieht sich in seinen Ermittlungen durch den Korpsgeist der Kaisertreuen in Militär und Polizei behindert und beginnt nicht nur an seiner professionellen Beobachtungsgabe zu zweifeln, sondern auch an der Solidarität innerhalb seiner Abteilung. Während der Kriminalkommissar sich von „ganz oben“ ausgebremst fühlt, läuft den Ermittlern die Zeit davon. Sie ahnen noch nicht, dass ein Anschlag auf ein Gala-Diner geplant ist, der mitten in Berlins linksgerichtete Kulturschickeria gerichtet ist.
Die komplexe Handlung mit ihrem sehr gut recherchierten historischen Hintergrund spielt in Berlin in der Woche vor der Reichstagswahl 1920 und folgt abwechselnd Mohrfels, Dalus und verschiedenen (verdächtigen) Personen, die zunächst vom Leser noch nicht eingeordnet werden können. Auch die Perspektive eines Hundes fliesst in die Geschichte ein. Auf einer zweiten Zeitebene erlebt man beunruhigende Ereignisse des Jahres 1905 auf einem Gut in der Grenzmark in Markersdorf/Niederschlesien mit. Die verschiedenen Blickwinkel und Zeitebenen müssen von den Lesern des Krimis entwirrt und einander zugeordnet werden. Obwohl die Leser den Ermittlern stets ein paar Schritte voraus sind, bleibt der Plot durch zahlreiche falsche Fährten bis zum überraschenden Finale spannend.
Fazit
Leider bieten Jaspersens Figuren wenig Gelegenheit, dem Volk aufs Maul zu schauen. Der außenstehende Erzähler mit seiner für die Zeit der Ereignisse auffallend modernen Ausdrucksweise dominiert zu stark und lässt zu wenig Raum für lebendige Dialoge. Für einen so komplexen Plot, der den detektivischen Jagdinstinkt der Leser anregt, wirkt die Sprache des Romans nicht immer präzise. Beim Rätseln, ob eine Szene so oder vielleicht doch anders gemeint sein könnte, fühlte ich mich unnötig oft im Lesefluss unterbrochen. Stolpersteine waren nicht ortstypische Ausdrücke (Krapfen für Pfannkuchen), Redensarten, die im Berlin der 20er noch unbekannt waren (mitten in der Pampa für Jottwehdeh) und für die Zeit zu salopp wirkende Modernismen (Sie müssen einen Arzt sehen, jemandem auf den Senkel gehen). Einige Details wirken für die Epoche vor 100 Jahren zu modern (China-Imbiss, fotografierender Journalist statt Fotograf, Persönlichkeitsrechte für Psychiatrie-Patienten). Letztlich ist es Geschmacksache, wie authentisch Leser der Gegenwart sich historische Krimis wünschen und wie viel Neutralisierung ein Stoff verträgt mit Blick auf mögliche Leser, die nicht zu tief in eine weit zurückliegende Epoche eintauchen wollen.
Lesern, die von einem historischen Berlin-Krimi nicht erwarten, dass darin authentisch „dem Volk aufs Maul geschaut“ wird, bietet sich hier ein komplexer, spannender Plot mit zahlreichen Verwicklungen.
7 von 10 Punkten