Zoran Drvenkar - Still * Achtung, Spoiler, es wird diskutiert!*

  • Im Rezensions-Thread berichtet Arter davon, dass das Ende des Romans ein fades Gefühl bei ihm hinterließ, konnte aber nicht näher darauf eingehen ohne zu spoilern. Mich hat das Buch rundum überzeugt, daher bin ich neugierig, welche Schwachpunkte Arter aufgefallen sind und habe ihn eingeladen, hier ein wenig darüber zu plaudern.


    Wer also das Buch erst noch lesen möchte, sollte jetzt besser nicht weiterlesen, ansonsten sind natürlich alle Eulen zum Austausch eingeladen!

  • Hallo Tilia,


    vielleicht ist "Schwachpunkt" nicht ganz das richtige Wort, denn das was mich an der Geschichte stört, sehen andere eventuell als Stärke und der Autor hat es ja mit voller Absicht so gestaltet. Insofern ist es kein Vorwurf an den Roman sondern "nur" der Grund, warum er bei mir ein zwiespältiges Gefühl hinterlässt.


    Der Twist von einer Abgründigkeit in die andere ist mir persönlich zu heftig. Das Pädophilie-Thema ist ja schon schwer zu verkraften und es stellt für mich hier schon eine Grenzfrage dar, ob es legitim ist, diese Problematik im Zusammenhang von Unterhaltungsliteratur zu verwenden. Aber das Thema an sich ist ja nichts Ausgedachtes sondern etwas, wozu wir uns alle positionieren sollten. Insofern kann ich diese Ansätze schon irgendwo nachvollziehen.


    Anders ist es bei der Wendung hin zu der frei erfundenen "Jagd"-Thematik. Der Gedanke dressierte Kinder als Killermaschinen abzurichten, um in einer sektenartigen Gemeinschaft eine spezielle "geistige Erhöhung" zu erfahren, geht für mich weit über das hinaus, was ich in einem Gegenwartsroman lesen will. Irgendwie sollte ein Thriller immer noch einen nachvollziehbaren Bezug zu real vorstellbaren Szenarien darstellen. Es ist mir einfach entschieden zu viel an ausgedachter Abgründigkeit. Und ich werde auch das Gefühl nicht los, dass es (vielleicht unbewusst) inspiriert wurde von dem aktuellen Dystopie-Hype, der sich in der Jugendliteratur in den letzten Jahren breit gemacht hat. Ich habe vor einiger Zeit hier an anderer Stelle bereits mein Befremden über "Panem" geäußert, das für mich damals einen bedenklichen Tabubruch darstellte. Inzwischen sind wir ja alle irgendwie abgestumpft und ich selbst lächele nur noch über meine anfänglichen Skrupel. In diesen Dystopien handelt es sich aber wenigstens noch um reine Fiktion. Der Schritt, Gladiatorenspiele mit Kindern in ein Jetztzeit-Szenario zu übertragen ist vielleicht nur ein logischer nächster Schritt, aber ich gehe ihn nur mit einem sehr sehr schlechten Gefühl mit.

  • Ich kann deine Zwiespältigkeit gut verstehen. Mir hat die Gegenüberstellung von "realer" Thematik und Fiktion sehr gut gefallen, was zum großen Teil tatsächlich an der in meinen Augen sehr gelungenen formalen Struktur des Romans liegt: die gewählten Perspektiven sind gut durchdacht und die beiden Handlungsstränge um den Vater und den Pädophilen-Ring auf der einen und der "geheimen Jagdgesellschaft" auf der anderen Seite sind klug miteinander kombiniert - als Leser habe ich zwar immer wieder beim Lesen gedacht, da könne etwas nicht stimmen, aber wie genau alles zusammen hängt, wurde mir erst später klar. Man merkt dem Buch einfach an, dass sich der Autor nicht nur über das Was seiner Geschichte Gedanken gemacht hat, sondern auch über das Wie. Hier hat tatsächlich jedes Detail, jede Perspektive Hand und Fuß. Es gibt andere Thriller, da ist mir bis heute nicht klar, warum nun genau jene oder diese Perspektive gewählt wurde, und für die meisten ist diese Frage auch völlig unwichtig, weil es einfach keine Rolle spielt.


    Ich hör jetzt auf zu schwärmen. Ein Buch besteht ja nicht nur aus Formalitäten, die Geschichte spielt natürlich die größere Rolle (zumindest geht es mir so).


    Die Frage nach der Legitimität, diese spezielle Thematik für einen Roman zu nutzen, wird immer mal wieder thematisiert, vor allem im Zusammenhang mit Gewaltdarstellungen.
    Literatur greift Themen auf, die in der Gesellschaft gerade aktuell sind, an denen sich die Gesellschaft reibt. Romane sind eine Möglichkeit unter vielen, sich mit den Schattenseiten der Menschheit auseinanderzusetzen. Du schreibst, der "Twist von einer Abgründigkeit in die andere" war dir zu heftig.
    Pädophilie wird allerdings auch in anderen Krimis aufgegriffen, ebenso der Mord an Kindern. Dennoch berühren diese Bücher nicht automatisch so, wie Still. Dabei verliert sich Drvenkar nicht einmal in irgendwelchen blutigen Details - auf der rein sachlichen Ebene schreibt er gar nicht soviel Entsetzliches. Es sind die Zwischentöne, die ihr das Dunkle im Menschen erahnen, die das Buch schwer auszuhalten werden lassen.
    Von daher ist es fast ein wenig unfair, Drvenkar den leisen Vorwurf zu machen, mit dieser Thematik (nur) unterhalten zu wollen. Unterhalten wollen die unzähligen x-beliebigen Thriller, aus deren Seiten das Blut trieft. Drvenkar hingegen hält den Spiegel hoch. Was nicht heißt, dass er nicht unterhalten will. Er tut es nur anständig und dem Thema angemessen.