Heinrich Steinfest: Der Allesforscher

  • Alles nichts, oder?


    Es empfiehlt sich, vor der Lektüre dieses Romans dessen letzte Seiten aufzuschlagen, also die Anmerkungen des Autors zu lesen. Keine Sorge, darin verrät der Autor fast nichts über den Inhalt, dafür jedoch zwei interessante Aspekte, die Entstehungsgeschichte der Erzählung anbetreffend. Zum einen deutet Steinfest an, dass die Textanteile zu sehr unterschiedlichen Zeiten entstanden sind, und zum anderen erzählt er davon, welche Änderungen auf welchen Rat hin noch vorgenommen worden sind. Es schadet deshalb nicht, diese Anmerkungen zuerst zu lesen, weil sich genau dieser Eindruck ohnehin während der Lektüre einstellen wird: Das Buch ist inkonsistent und leider ziemlich willkürlich.


    "Der Allesforscher" beginnt rasant, originell, auf intelligente Weise salopp und verblüffend Steinfest-untypisch: Man begegnet dem vergleichsweise jungen Sixten Braun, der für ein Großunternehmen in Asien unterwegs ist, genauer in der Millionenstadt Tainan. Dort passieren ihm kurz nacheinander drei bemerkenswerte Dinge. Er wird Opfer einer Wal-Explosion, er begegnet der hinreißenden, aber seltsamen Ärztin Lana, und er stürzt mit einem Passagierflugzeug ab. Diesen Absturz überlebt er nur, weil er versehentlich einem anderen Passagier dessen Schwimmweste entreißt. Halb so wild - der andere Fluggast wird auch überleben, jedenfalls vorläufig.
    Nach diesem fulminanten ersten Abschnitt kehrt Sixten Braun in die schwäbische Provinz zurück, wird dort zuerst Bademeister und später dann Adoptivvater eines Jungen, der sehr wahrscheinlich Lanas Sohn ist. Dieser Sohn ist mindestens so merkwürdig wie die Mutter, aber auf andere Art. Er kann äußerst geschickt klettern, was Sixten fortwährend an die eigene Schwester erinnert, die mit 23 Jahren beim Bergsteigen tödlich verunglückt ist. Was dann folgt, ist zwar hin und wieder ganz gut erzählt, meistens jedoch nervtötend, wirkt sinnlos konstruiert, und ergibt vor allem keinen Sinn.


    Ich erlaube mir ein paar Spekulationen. Heinrich Steinfest hat den originellen Anfang dieser Geschichte vor vielen Jahren verfasst und irgendwann wiederentdeckt. Das war gut. Dann hat er darüber nachgedacht, was er aus diesem Romansäugling machen kann. Das war nicht so gut, denn er hat sich dafür entschieden, eine recht obskure, zuweilen ziemlich esoterische, motivüberfrachtete, episodische, sprachlich und inhaltlich sehr wirre Story zu entwickeln, deren Verbindungen zum Anfang - wohlwollend ausgedrückt - lose sind, die aber vor allem leider keine (Story) ist: Obwohl es eine Vielzahl von Referenzen, rätselhaften Ereignissen, Traumsequenzen und anderem Hokuspokus im Übermaß gibt, versandet "Der Allesforscher" etwa in der Mitte und löst sich gegen Ende völlig auf. Nur ein furioser Anfang und ein fraglos großartiger Titel reichen nicht für einen bemerkenswerten Roman, und obwohl, wie Steinfest in den Nachbemerkungen ausführt, noch viele Ratgeber versucht haben, das Ding zu retten, ist zumindest diese Expedition gescheitert. Erstaunlich, dass es dennoch einige Kritiker und sogar Buchpreisjuroren gab, die meinten, hier etwas vorgefunden zu haben, das zumindest ich nirgendwo entdecken konnte, nämlich ein Buch, das gar zu den besten im Jahr 2014 zählen sollte. Ohne Zweifel gehört Heinrich Steinfest zu jenen deutschen Autoren, die sich auf wohltuende Weise abheben, sprachlich wie dramaturgisch, was längst nicht nur für seine originellen Cheng-Krimis gilt, doch zuletzt - mit "Das himmlische Kind", aber eben auch mit "Der Allesforscher" - hat sich das in eine Richtung entwickelt, der zumindest ich nicht mehr zu folgen in der Lage bin. Eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte. "Der Allesforscher" ist keine.

  • Als Sixten Braun in Taiwan von einem explodierenden Wal getroffen wird und sich im Hospital in seine behandelnde Ärztin verliebt, ahnt er nicht, dass diese Liebe ihn sein Leben lang verfolgen wird. Sixten, der nach seiner abenteuerlichen Rückkehr nach Deutschland, zum Bademeister avanciert, ist ein ganz normaler Mensch – mit einem ganz und gar nicht normalen Werdegang.
    Ständig gerät er in skurrile Situationen, lernt seltsame Menschen kennen und ist schließlich Vater eines Kindes, ohne dessen Erzeuger zu sein. Explodierende Wale, Flugzeugabstürze, ein Wunderkind und Traumdialoge mit Verstorbenen sind bei Sixten absolut nichts Ungewöhnliches. Als Leser muss man sich allerdings erst einmal an die überbordende Fabulierfreudigkeit des Ich-Erzählers gewöhnen, denn er macht aus jedem winzigen Gedanken, jeder noch so kleinen Episode seines Lebens, eine eigene Geschichte. Manchmal hätte ich ihn gern dafür geschüttelt und bei spannenden Szenen zugerufen: „Nun komm endlich auf den Punkt!“


    Egal, wie heikel seine momentane Situation ist – er schweift ab und verliert sich teilweise in langen Erinnerungen, oder Assoziationen zu Personen, Umständen, Zeitaltern oder anderen ihm spontan einfallenden Gedankenspielen. Das allerdings tut er sehr unterhaltsam und klug und ohne den Leser zu langweilen. Trotzdem ist es mir zeitweise vorgekommen, als säße ich als Zuhörerin jemandem gegenüber, der zwar interessant und auf eine gewisse charismatische Art und Weise meine Aufmerksamkeit halten kann, der mich aber sprachlos zuhören lässt, weil er sein Thema so erzählt, dass nichts und niemand anderes ihm wichtig erscheint.


    Es ist nicht immer leicht, ihm zu folgen und ganz sicher ist „Der Allesforscher“ kein Buch, das man mal so eben nebenbei liest, denn durch die sprachlich dichte Erzählung, fordert es einen und verzeiht keine Halbherzigkeit –mit dieser Einstellung würde man es recht bald zur Seite legen. Immer wieder blitzt ein Humor durch, der zeigt, dass selbst der Erzähler sich und das, was ihm widerfahren ist, niemals wirklich ernst nimmt. Und in dieser Einstellung sollte man sich als Leser an das Buch heranwagen.


    Dass sich Brüche im Buch finden, ist den unterschiedlichen Zeiten geschuldet, in denen es entstanden ist. Mich hat das nicht gestört, denn obwohl der erste Teil grandios ist und es im Weiteren etwas konfuser wird, waren es die vielen kleinen Sequenzen, die mir so gut gefallen haben. Sicherlich kann man ihm vorwerfen, sich auf dem Weg verloren zu haben und etwas wirr, esoterisch oder motivüberfrachtet daherzukommen, doch das konnte ich ihm verzeihen, da ich viele Episoden des Buches für sich allein stehend mochte und mir Sixten, sowie sein „Sohn“ Simon im Laufe der Geschichte immer sympathischer wurden.
    Von mir 8 Punkte dafür.

  • In „Der Allesforscher“ passiert auf den ersten 50 Seiten mehr, als andere Autoren in einen ganzen Roman packen. Doch genau das, die überbordende Handlung und der vergnüglich zu lesende Sprachstil, hat mir an diesem Buch richtig gut gefallen und mich glänzend unterhalten.
    Im Zentrum des Buches steht Sixten Braun, ehemaliger Manager, im zweiten Leben Bademeister, der ein schicksalsergebenes Leben führt. Von Anfang an hatte ich das Bild eines rasenden Zuges im Kopf, der auf einen zukommt, dem man nicht ausweichen kann. Nur das Aufspringen bringt Rettung. So ähnlich verläuft Sixtens Leben.
    Das letzte Aufspringen beschert ihm einen Sohn, Simon, ein siebenjähriger Junge, der zum Kommunizieren eine eigene Sprache benutzt. Es zeigt sich, dass Simon ein begabter Kletterer, ein unschlagbarer Go-Spieler und ein genialer Zeichner ist. Und er bringt das Kunststück fertig, dass Sixten wieder einen Lebenssinn findet. Vollkommen geht er in der ihm zunächst untergeschobenen Vaterrolle auf.


    Zitat

    „Ein Flugzeug brachte ihn, wie andere Kinder der Storch.“


    Sixten ist quasi hauptberuflich Vater. Das ist mir in der Literatur so noch nicht untergekommen.


    Zitat

    „Es kam mir so vor, als wäre ich ein lebendes Nest, in das er immer wieder flog und wo er zur Ruhe kam, in der Obhut eines Mannes, der im entscheidenden Moment- damals im Konsulat in München- ‚Ja‘ gesagt hatte. Manchmal verbindet ein Ja Männer und Frauen, aber es gibt auch ein Ja, das Kinder und Erwachsene verbindet, und dann kann sie nichts mehr trennen.“


    Alle Erzähltaue, die Steinfest dem Leser quasi als vorübergehende Haltepunkte hinwirft, münden in diesen einen Sinn. Dass diese Taue skurril, witzig, unwahrscheinlich, fantastisch oder auch stinknormal sind, hat mich an diesem Buch so begeistert, das so ganz erfrischend anders ist.
    Die Figuren haben mich immer wieder an die John Irvings erinnert. Alle haben eine Absonderlichkeit, die sie interessant und liebenswert machen. Anders als Irving geht Steinfest allein bei seiner Hauptfigur Sixten in die Tiefe. Alle anderen Figuren kreisen in einem gewissen Abstand um den Protagonisten herum und halten diesen am Leben.
    Steinfest hat mich mit diesem Roman überrascht. „Alles ist möglich“- das ist für mich das Motto dieses Romans. Ein Autor, von dem ich zeitnah ganz bestimmt noch mehr lesen möchte.


    Unbedingt erwähnen möchte ich noch die kubistisch anmutenden Zeichnungen Steinfests, die immer wieder als Randnotiz auftauchen und das geschriebene Wort schmücken. Sie zieren auch das wirklich gelungene und stimmige Cover.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin