1. Dezember 2014 von Eskalina
Die Weihnachtsgans
„Schatz, du weißt, dass heute der Weihnachts-Skatabend in unserer Firma ist?“ mein Mann grinste mich an: „Was soll ich denn dieses Mal für uns gewinnen?“ fragte er. Ein Running Gag, den er jedes Jahr wieder anbringt, genauso wie die phänomenalen Gewinne, die am Ende des Abends dort leider sehr großzügig verteilt werden. Es gibt Spieler, die sehen die Teilnahme an diesem Abend sportlich und nehmen teil, nur um sich am leckeren Büffet zu bedienen und sich nebenbei mit Kollegen zu unterhalten, die man in diesem großen Institut nicht so oft sieht. Leider sind nicht alle sportlich – manche sind ehrgeizig und wollen gewinnen. Egal was, Hauptsache, es geht auf das Siegertreppchen. Dass ich mit einem solchen Exemplar verheiratet bin, muss ich nicht noch extra erwähnen? Bereits im Sommer beginnt er mit dem Training am PC. Seine virtuellen Gegenspieler haben die Namen seiner Brüder bekommen und sie sind nur dazu da, um zu verlieren.
Wenn dann der große Abend gekommen ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu Hause die Daumen zu drücken, dass er doch wenigstens nur ein einziges Mal ohne Preis nach Hause kommt. Mich gruselt es heute noch, wenn ich an die gewonnene Heide-Kutschfahrt denke, bei der wir auf einer Kutsche voller angeschickerter, Heinolieder singender Senioren gelandet waren, oder an das 10-teilige Pfannenset, das sich als nicht hitzebeständig herausstellte, den Gutschein für ein Frühstück in einer kleinen Harz-Pension, für das wir morgens um 5 aufstehen mussten, um den Ort zu erreichen. Ich konnte es also kaum erwarten, dass er nach Hause kam und mir seinen diesjährigen Preis präsentierte…
Als er die Haustür aufschloss und ächzend eine überdimensionierte Kühltasche in den Flur zog, wurde mir ganz mulmig – als ich die riesige gefrorene Weihnachtsgans erblickte, musste ich mich setzen…Nicht, dass ich nicht schon Gans zubereitet hätte, doch in diesem Jahr hatten wir eine neue Küche bekommen und der neue Ofen war eindeutig zu klein für dieses Monster. Ich würde es brutal zerlegen müssen und auf diesen Kraftaufwand hatte ich wenig bis gar keine Lust, zudem rangierte Gänsebraten auf meiner persönlichen Hitliste ganz weit hinten – noch Meilen hinter Brechbohneneintopf oder Sauerkrautsuppe. Bliebe nur das Tiefkühlfach. Eins von zweien, die ich eigentlich gerne für andere Vorräte nutzte. Sie würde das komplette Fach als Wartezimmer auf den Bräter benötigen. Und überhaupt – bei der Größe würden wir entweder einen Monat brauchen, bis wir sie aufgegessen hatten, oder es mussten Gäste her und die bedeuteten bei all dem Stress, der sowieso in der Weihnachtszeit herrschte, zusätzlich Arbeit. Also wanderte das kalte tote Tierchen ins ewige Eis und wir waren uns einig, dass wir dann „später“ über das „Wohin mit der Leiche“ nachdenken würden.
Weihnachten gab es Rinderfilet – die Gans ruhte vergessen in ihrem kalten Grab. Im Frühjahr dachte ich wieder an sie, als ich ein weiteres Tiefkühlfach benötigte, ärgerte mich kurz und vergaß sie dann wieder. Im Sommer sprachen wir darüber, da ich sehr gerne einen Vorrat an Eiscreme angelegt hätte, was durch das dauerbelegte Tiefkühlfach verhindert wurde, doch bei der Hitze Gänsebraten zu essen – das ging ja gar nicht. Es wurde Herbst, und ich hatte immer noch weder Lust auf das Zerhacken der Gans, noch Appetit auf Gänsebraten. Sollte das Tier umsonst gestorben sein?
Eh wir uns versahen, brach der nächste Skatabend an.
Der stolze Sieger präsentierte dieses Mal neben einer CD mit Entspannungsmusik und einer Flasche Sekt, einen drei Kilo Kassler-Nackenbraten, der fast umgehend verspeist werden musste, da er nicht eingefroren werden konnte.
Weihnachten wollten wir bei meinen Eltern verbringen, wo es traditionell keine Gans, sondern Ente gab und so langsam begann ich mir Gedanken über die Haltbarkeit des Tierchens zu machen. Wie viele Jahre sollte sie noch bei uns logieren und ab wann war ihr Verfallsdatum überschritten? Im Internet waren Angaben zwischen 8 und 12 Monaten zu finden. Es war also höchste Zeit für sie. Das Tier zu zersägen war eindeutig nicht meine Absicht. Wegwerfen oder bestatten kam nicht in Frage. Die Idee kam mir im Supermarkt. Ich stand in der Tiefkühlabteilung, blickte zu den Weinregalen und sah, wie eine ältere Dame eine Flasche Wein in ihrer Tasche verschwinden ließ „der eine nimmt, der andere gibt…“ schoss es mir durch den Kopf. Es war so einfach wie genial: ich würde die Gans aussetzen und zwar hier im Supermarkt. Sie kam zwar aus Frankreich, während die Truhenbewohner aus Polen stammten und hatte eine farblich etwas andere Einschweißfolie als Pyjama gewählt, doch die blaue Banderole würde nur auf den zweiten Blick auffallen. Ob sich das Tier später an der Kasse würde einscannen lassen, war dann schon nicht mehr mein Problem.
Es war einen Tag vor Heiligabend, der Markt war übervoll mit den üblichen panischen Menschen, die Lebensmittel in ihre Einkaufswagen schmissen, dass man meinte, nach den Feiertagen würde es nie wieder eine Einkaufsmöglichkeit geben, also würde mich niemand beachten. Harmlos und unbeachtet fuhr ich mit meinem Einkaufswagen und der Tiefkühltragetasche neben die Tiefkühltruhe, mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich versuchte mich zu beruhigen und sagte mir, dass man mir, wenn man mich erwischen würde, wenigstens keinen Diebstahl vorwerfen könne. Ich nahm eine Gans aus der Truhe, drehte und wendete sie, legte sie zurück - nahm das nächste kalte Tier, drehte und wendete es, legte es zurück, griff in meine Tasche, schaute aus den Augenwinkeln, ob mich jemand beobachten würde, drehte und wendete meine Gans und…legte sie in die Truhe. Puhhh geschafft! Es war, als würde mir ein dicker Stein vom Herzen fallen.
Einen Meter weiter schnappte ich mir eine Packung Fischstäbchen, damit die Tiefkühltragetasche an der Kasse ihre Berechtigung haben würde und überließ das Tier seinem Schicksal. Mein Tiefkühlfach war wieder frei, und ich musste mir keine weiteren Gedanken über Hackmesser, Gänsebraten und nicht passende Bräter und Herde machen. Zu meinem Mann sagte ich kein Wort. Er schien die Sache eh schon vergessen zu haben.
Es würde ein friedliches Weihnachten werden. Bei meinen Eltern gab es Heiligabend traditionell Kartoffelsalat und Würstchen und ich freute mich auf die Ente am ersten Weihnachtstag. Als ich meiner Mutter nach dem Essen half, die Teller abzuräumen und wir in der Küche standen, sagte sie:“Du ich hatte in diesem Jahr überhaupt keine Lust auf Ente. Immer und immer wieder dasselbe, das war mir zu langweilig. Stattdessen habe ich uns etwas anderes besorgt. Hilfst du mir bei der Zubereitung für Morgen?“ Während sie sprach, öffnete sie das Tiefkühlfach. „Es war richtig schwierig, noch eine zu bekommen und es gab an der Kasse riesige Probleme mit dem Barcode, fast als solle es nicht sein. Das riesige Viech sollte doch für uns alle reichen, oder?“
Muss ich noch erwähnen, welche Farbe die Banderole dieser dummen französischen Gans besaß?