'Bevor die Nacht kommt' - Seiten 001 - 076

  • Es ist ja jetzt nach 0 Uhr :lache


    Der erste Abschnitt hat mir sehr gut gefallen. Dalus ist für mich ein sympathischer Psychiater und ich hoffe, dass er im weiteren Verlauf noch mehr aus seinem Beruf preis gibt.


    Mohrfels ist für mich der Inbegriff des grimmigen Ermittlers. Damit passt er hervorragend in das Berlin der 20er Jahre. Meine Sympathie konnte er noch nicht gewinnen, aber zumindest ist er ein Polizist, der sich seiner Verantwortung bewusst ist.


    Ich fühlte mich beim Lesen auch direkt in der Zeit zurückversetzt, dabei hält sich der Autor mit geschichtsträchtigen Details eher zurück. Auf jeden Fall bin ich auf den nächsten Abschnitt gespannt.

  • 31.5. bis 1.6.1920
    Simon Jaspersens Kriminalroman spielt im außergewöhnlich heißen Sommer 1920 in der Woche vor der Reichstagswahl. Der Prolog liegt zeitlich nach dieser entscheidenden Woche. In kursiver Schrift wird die Sicht von Personen/Lebewesen gezeigt, die bisher noch nicht aufgetreten sind, darunter der Hund Alois. Hauptfiguren sind Johann Dalus, ein Psychiater, und Ernst Mohrfels, Kommissar bei der Reichskriminalpolizei. Mohrfels verlangt von Dalus, einen polizeibekannten psychisch kranken Gewalttäter in die Psychiatrie einzuweisen. In der Stadt hat es eine Reihe von Morden gegeben und wieder ist eine junge Frau verschwunden. Mohrfeld steht vermutlich unter Druck, der Öffentlichkeit einen Verdächtigen zu liefern – der nicht unbedingt der Täter sein muss.


    Mein Sorgenkind ist gerade die Figur des Psychiaters Dr. Dalus, der im 1. Weltkrieg Feldchirurg war und unter einer unbehandelten Angststörung leidet. Dalus hat seine Arztausbildung vermutlich im Lazarett absolviert und weniger im Hörsaal.

    Mohrfels scheint es auch nicht gut zu gehen, er macht einen deprimierten Eindruck. „Er empfindet die letzte Zeit als Aneinanderreihung von Misserfolgen.“


    Mohrfels Abteilung hat eine Assistentin, die ihren Arbeitsplatz in seinem Vorzimmer hat und auch seiner Sonderkommission zur Ermittlung des Serienmörders zugeteilt wird.


    1920 gab es evtl. schon die ersten Polizeiassistentinnen, Frauen mit einer sozialpädagogischen Ausbildung, die sich um Frauen und Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen kümmern sollten. Sie waren vermutlich auch hilfreich, um Frauen und Kinder als Zeugen zu vernehmen. Offiziell wurden die Assistentinnen erst 1926 bei der Berliner Polizei eingeführt. Mohrfels setzt sich am liebsten über Hierarchien hinweg, wahrscheinlich wäre es ihm lieber, wenn es für den Einsatz dieser Asisstentinnen keine laufbahnrechtlichen Hindernisse geben würde. (Das Thema Polizei-Assistentinnen hat die Jugendbuchautorin Lisa Tetzner eingeführt, die ursprünglich gern Polizeiassistentin geworden wäre).


    Ein Rückblick erzählt Ereignisse des Jahres 1905 auf einem nicht näher beschriebenen Hof in Markersdorf. Es gibt ein Markersdorf in der Grenzmark, in Niederschlesien. Als Schauplatz bietet der Ort viele Möglichkeiten, die Nachbarländer sind nah und Einheimische können sich dort vermutlich für allerlei Geschäfte ungesehen bewegen. Der noch namenlose “Junge“ wird 1895 oder früher geboren sein und wäre 1920 mindestens 25 Jahre alt. Er hat eine Schwester Marie.


    In Berlin wird eine weitere Frauenleiche gefunden. Die Beschreibung der Auffindung ist nicht sehr präzise, gibt es dünne Leichen oder eher Leichen sehr schlanker Personen? Wenn die Frau mit dem Gesicht nach unten liegt, wie kann ich als Beobachter ihre Beckenknochen sehen? Ist der Kopf vom Körper getrennt oder liegt sie mit dem Kopf nach unten an der Böschung?


    Auf den ersten paar Seiten tappt man als Leser noch völlig im Dunklen, besonders, weil Mohrfels als Person noch nicht einzuordnen ist. Ist er alt, jung, Kriegsteilnehmer, ist er Berliner oder kommt er von außerhalb, hat er Verantwortung für eine Familie? Als Kommissar müsste er mindestens 30 sein und „gedient“ haben. Er wäre deutlich vor 1890 geboren und ich schätze ihn als älter als Dalus ein. Dalus könnte 1914 bei Kriegsbeginn z. B. 22 gewesen sein und wäre vor 1892 geboren. Habig ist kein Berliner, er spricht ein „Kauderwelsch“ und geht auffallend „um den Block“, statt ums Karree. (S. 33)


    Der außenstehende Erzähler benutzt Redewendungen der Gegenwart und die Figuren gebrauchen in ihren Dialogen bisher kaum lokale idiomatische Redensarten. Hier habe ich mich zum ersten Mal gefragt, wie neutral eine Erzählerstimme wirken muss, ob sie den Ton einer späteren Epoche anklingen lassen darf, der zur Zeit der Handlung noch unbekannt war. Für einen Plot, in dem man als Leser selbst Hinweise sammeln könnte, Vermutungen anstellen und überprüfen, finde ich bisher die Beschreibung des eines Fundorts wenig präzise.

  • Es gibt einer Redensart nach ja Tage, an denen scheint man mit dem linken Bein zuerst aufgestanden zu sein. Kennt man so etwas auch bei Büchern?
    Könnte es der "Zuviel-Erwartet-Effekt" sein? Immerhin lobte, als ich das Buch bei ihm bestellte, mein Buchhändler diesen Roman recht vollmundig, sowohl nach dem Selbstlesen als auch vom Verkauf her.
    Zudem liegt die Messlatte nach Charlotte Lynes gewohnt brillantem "Kinder des Meeres" und Rothers/Monferats extrem gutem Orientexpressroman "Welt in Flammen" natürlich sehr hoch.
    Jedenfalls kann ich mich leider, daran wollte ich mich durch diese Vorrede langsam herantasten, dem bisher hier ausgesprochenen Lob - zumindest bisher - nicht anschließen.


    Die Handlung ist unbestreitbar spannend, die Stimmung düster, die Ermittler verfügen anscheinend über Unterhaltungspotential, ein Hauch von 20er-Jahre-Flair macht sich bemerkbar und das Cover passt auch.
    Womit ich mich nicht anfreunden konnte, ist der Stil.
    Dabei steht vorn in der Vorstellung, dass der Autor als Lektor arbeitet(e).
    Die oft überaus kurzen Sätze, teilweise ohne Verb, plakativ wirkend, mögen ja ein bewusst gewähltes Stilmittel sein. Was mich aber - sorry! - etwas nervt, ist die geradezu inflationäre Verwenung von "war" und "hatte".
    Beispiele:
    "Als Dalus aufwachte, WAR er schweißüberströmt.
    Er wusste nicht, wo er WAR.
    Schreckensstarr blinzelte er in die Dunkelheit.
    Es WAR jemand in der Wohnung."
    (Unsere Sprache ist so bunt und vielfältig. Es ginge doch genauso gut mit:
    "Als Dalus schweißüberströmt aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. ... Es kam ihm vor, als sei er nicht allein in der Wohnung.")
    Oder auf einer weiteren, willkürlich aufgeschlagenen Seite:
    "Er HATTE es letztlich mit der gesamten Bar aufgenommen.
    Als die Schutzpolizei ihn holte, HATTE er in einer Ecke gestanden...
    Dalus HATTE ihn in Behandlung genommen und ihn, nachdem sie ihn von dem Blut gereinigt HATTEN, in eine Zelle gesperrt.
    Dabei HATTE der Mann einen Gutteil der Zeit vor sich hingestarrt...."
    Vielleicht steigere ich mich da ja in etwas hinein (der ehemalige ZDF-"Wetterfrosch" Ben Wettervogel trieb mich mit seinen gefühlten 20 "dann"s pro Ansage fast in den Wahnsinn :lache) aber es kommt mir überproportional häufig vor (manchmal als letztes Wort im alten und gleich wieder als erstes im neuen Satz!)
    NOCH hoffe ich, dass es sich um ein Stilmittel handelt und nur vorübergehend angewendet auftritt.
    UND ich hoffe, dass diese meine Bemerkungen nicht übelgenommen werden (zur Not kann ich mich aus der Leserunde auch zurückziehen, bei meinem Buch handelt es sich nicht um ein Gewinnexemplar), aber irgendwie musste das jetzt raus, zuviele wars und hattens umtänzelten mich. :lache :gruebel :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Hallo, jetzt bin ich auch endlich online... :wave
    Ich freue mich auf die gemeinsam Leserunde von meinem Buch. Ein detailliertes Feedback zu der Erzählung zu bekommen: Handlung, Form, Figuren etc. ist für mich extrem wertvoll.
    Ich hatte zuerst gedacht ich frage Euch vor allem nach den Figuren, wie sie auf Euch wirken und ob sich bei der Handlung ihre Emotion mitteilt. Aber jetzt hat es schon so interessante Beiträge gegeben, dass ich den Fokus eigentlich wirklich nicht einschränken möchte.
    Ich bin gespannt auf positive, kritische oder wie auch immer geartete Anmerkungen und stehe gerne für Fragen (im anderen Thread und hier) zur Verfügung.
    Mit netten Grüßen,

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Maikäfer, auf dieser Seite habe ich auch ein wenig gefremdelt mit der Sprache.


    Zur Sprache allgemein kann man natürlich wenig sagen... Außer das gerade die Eröffnungsszene, in der Dalus und Mohrfels das erste Mal aufeinander treffen, im Endeffekt auch nicht zu meinen Lieblingsszenen gehört... Das soll keine Entschuldigung sein, bis zum Schluss habe ich den Abschnitt immer wieder überarbeitet, aber manchmal ist es eben einfach so.


    Ansonsten kann es sein das man sich an den Stil etwas gewöhnen muss. Ich persönlich wollte ihn so - gerade das kurze, stakkatohafte, die Geschwindigkeit - und war dann mit der Form auch dementsprechend zufrieden, aber das muss ja jeder für sich entscheiden. Ich habe versucht verständlich zu bleiben, also ohne zu viel "Vokabular" auszukommen (Begriffe und Redewendungen die man heute ev. nicht mehr kennt), und dennoch in die Zeit der 20er einzutauchen. Natürlich in der Hoffnung, dass die gegebenen Bezugspunkte genügen, um die 20er im Hintergrund vor dem geistigen Augen entstehen zu lassen...


    Aber auf jeden Fall auch von mir aus: nicht aussteigen - dran bleiben :wave

  • Zitat

    Original von maikaefer
    Zuviele wars und hattens umtänzelten mich. :lache :gruebel :wave


    Das ist interessant. Ich habe diese nie als Stilmittel gesehen, sondern bloß als zeitanzeigende Verbform. Die Zweite Szene die Du zitierst ist eine Rückblende, in der die Hintergrundgeschichte um Legner berichtet wird. Da kam ich um das Plusquamperfekt nicht herum.


    Nein, wird nicht übelgenommen...

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    31.5. bis 1.6.1920



    In Berlin wird eine weitere Frauenleiche gefunden. Die Beschreibung der Auffindung ist nicht sehr präzise, gibt es dünne Leichen oder eher Leichen sehr schlanker Personen? Wenn die Frau mit dem Gesicht nach unten liegt, wie kann ich als Beobachter ihre Beckenknochen sehen? Ist der Kopf vom Körper getrennt oder liegt sie mit dem Kopf nach unten an der Böschung?


    Gemeint waren die Beckenschaufelknochen, die bei einer dünnen Person - ich denke man kann auch "dünne Leiche" sagen - die auch noch kopfüber die Treppe runter zu liegen gekommen ist, hervortreten können. Der Kopf ist nicht abgetrennt.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    31.5. bis 1.6.1920


    Auf den ersten paar Seiten tappt man als Leser noch völlig im Dunklen, besonders, weil Mohrfels als Person noch nicht einzuordnen ist. Ist er alt, jung, Kriegsteilnehmer, ist er Berliner oder kommt er von außerhalb, hat er Verantwortung für eine Familie? Als Kommissar müsste er mindestens 30 sein und „gedient“ haben. Er wäre deutlich vor 1890 geboren und ich schätze ihn als älter als Dalus ein.


    Ist auch so gedacht. Mohrfels ist deutlich älter (60), was sich vielleicht ja auch in einen Knochenschmerzen und seinem Wegdämmern zu Beginn seiner ersten eigenen Szene (S. 24) andeuten könnte, und auch dadurch, dass er mit Winterberg über die veränderten Zustände seit dem Kaiserreich spricht. Bei Dalus ist es natürlich klarer, da er als junger Arzt geschildert wird.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    31.5. bis 1.6.1920


    Für einen Plot, in dem man als Leser selbst Hinweise sammeln könnte, Vermutungen anstellen und überprüfen, finde ich bisher die Beschreibung des eines Fundorts wenig präzise.


    Hallo Buchdoktor,
    bin gespannt, wie deine Beurteilung hier weiter verläuft. Man soll schon mitraten können. Das entwickelt sich noch, aber darüber sollte man vielleicht später noch mal sprechen?

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Mit dieser Ansicht, egal, ob von vorn oder hinten, verbinde ich die Vorstellung von mager, verhungert und den Gedanken, dass die Person lange gefangengehalten wurde, um so abgemagert zu wirken.


    Abgemagert ja, aber nicht wie jemand der nur noch Haut und Knochen ist und kurz vor dem Verhungern steht... So war es gemeint.

  • So habe ich es auch gelesen, eine sehr dünne junge Frau.
    Probleme habe ich mit den manchmal verschachtelten Relativsätzen. Es klingt ungelenk und manchmal ist es schwierig nachzuverfolgen, worauf sich welcher Satzteil gerade bezieht.
    Ein Beispiel von S. 41: "Zeitgleich wurden Männer auf der Rückseite des Gebiets sichtbar, wo der Schrottplatz mit einem Bauzaun abschloss, der an die Hochbahnstation grenzte, von deren Brücke aus Mohrfels und Habig den Vorgang beobachteten."


    Ich bin jetzt am Ende des ersten Abschnitts angekommen und beginne, mit der Geschichte warmzuwerden.

  • Mir gefällt es, trotz der vielen "war" und "hatte", die mir ebenfalls aufgefallen sind.


    Ich empfinde diese zielgerichtete und unprätentiöse Sprache im Moment als sehr angenehm, und deutlich weniger anstrengend als den weitschweifigen Stil von Welt in Flammen, bei dem mir häufig die Spannung abhanden kommt. Ich hab es halt gern etwas minimalistischer und Erzähl- und Sprachstil sind eben Geschmackssache.


    Es werden nicht viele unnütze Worte gemacht und trotzdem kommt auch für mich die Atmosphäre gut rüber. Ab und zu klingt leise Ironie durch und dafür bin ich immer empfänglich. Leider klingen auch schon antisemitische Töne an.


    Mohrfels scheint ziemlich verbissen und ehrgeizig, nicht auf Anhieb sympathisch, aber wohl geradlinig und hoffentlich auch fair. Ich kann seine Verzweiflung nachvollziehen angesichts dieser Morde und der Tatsache, dass er bei der Aufklärung überhaupt nicht voran kommt. Trotzdem erscheint mir die Vorgehensweise bedenklich: eine Einweisung gab es schneller als einen Haftbefehl.


    Erzählen die kursiven Passagen aus Tätersicht? Ich hab das Gefühl, manchmal ja und manchmal auch nicht. S. 58 ist es jedenfalls aus der "Hundeperspektive".


    Hat der Täter jetzt Dalus`Schwester in seiner Gewalt?


    Die Rückblende in das Jahr 1905 lässt auch noch keine Schlüsse zu.


    Hakatisten musste ich googeln, falls noch jemand Info braucht klick.


    Es ist zwar nicht wichtig, aber auf S. 33/34 habe ich einen Satz nicht ganz verstanden: "Er hatte geahnt, wenn ein Kirchturm nicht sauber war".
    Ist das eine mir unbekannte Redewendung? Wörtlich ist das sicher nicht zu nehmen, oder :gruebel. Haben die Granatwerfer auf dem Kirchturm gesessen :grin?


    Ein "Werbeträger" im wahrsten Sinn des Wortes (auf S. 34). Nett, so was mag ich. Das Wort gibt es ja heute noch, nur in der Regel nicht mehr ganz so wörtlich ;-).


    Gunnarsson hat rote Haare. Ob das von Bedeutung für die Geschichte ist? Dalus meint ja einen rothaarigen Verfolger ausgemacht zu haben.

  • Zitat

    Original von Lumos
    Es ist zwar nicht wichtig, aber auf S. 33/34 habe ich einen Satz nicht ganz verstanden: "Er hatte geahnt, wenn ein Kirchturm nicht sauber war".
    Ist das eine mir unbekannte Redewendung? Wörtlich ist das sicher nicht zu nehmen, oder :gruebel. Haben die Granatwerfer auf dem Kirchturm gesessen :grin?


    Vermutlich habe da oben Scharfschützen gesessen und ich vermute auch, dass mancher den Krieg nicht aus rationalen Gründen überlebte, sondern aufgrund dieses Instinkts.


    Zitat

    Gunnarsson hat rote Haare. Ob das von Bedeutung für die Geschichte ist? Dalus meint ja einen rothaarigen Verfolger ausgemacht zu haben.


    Die roten Haare sehe ich in mehreren Bedeutungen. Gunnarsson könnte wirklich Nachfahre von Wikingern sein, es könnte mehrere rothaarige Männer im Laufe der Handlung geben, um die Sache zu komplizieren, und rothaarige Leute an sich wurden schon immer misstrauisch beäugt.