Thomas Wolfe - Von Zeit und Fluss

  • Roman einer Suche, eines Aufbruchs, einer Wandlung


    Jahre ist es her, seit ich Thomas Wolfes „Schau heimwärts, Engel!“ gelesen habe, in dem er die Jugendgeschichte Eugene Gants erzählt. Diese Geschichte findet in „Of Time and the River“ ihre Fortsetzung. Mit „Von Zeit und Fluss“ veröffentlichte der Manesse Verlag Irma Wehrlis Neuübersetzung des modernen amerikanischen Klassikers.


    Eugene Gant ist erwachsen geworden. So beginnt der Roman mit einem Abschied, der Protagonist verlässt seine Familie und die Heimat und tritt sein Studium an der Harvard University an. Auf der Zugfahrt nach Boston durchlebt er förmlich eine Wandlung. Mit dieser Zugfahrt beginnt Eugene Gant eine Suche nach dem Sinn des Lebens. Er erkennt, das gesamte Leben ist im Fluss und die ihn ständig treibende Frage, wird er auch durch sein Studium und die Lektüre noch so vieler Bücher nie beantworten können. Nicht nur durch den Tod des Vaters, der ein Trinker war und den er eigentlich verachtete, lernt er die große, den Menschen innewohnende Trauer kennen. Der Roman trägt den Untertitel „Eine Legende vom Hunger des Menschen in der Jugend“ und genau das trifft es. Dem Leser werden die Träume und Sehnsüchte, aber auch die Ängste und Selbstzweifel, die Trauer und Verzweiflung des jungen Mannes offenbart und dies auf eine Art und Weise, die seine Gefühle sehr nachvollziehbar und verständlich macht.


    Zitat

    „Der junge Mann ertrank im tiefsten Meer – ein Atom, das, ahnungslos, wie er sich schützen könnte, in den Geschosshagel der stürmischen Welt geriet. Der Überzeugung der Gewohnheit, das gedankenlos leichte Leben der vergangenen vier Jahre, in denen er der Welt so viel Vergnügen abgepresst hatte, wie sie hergab, bröckelte ab wie eine Dreckkruste. Er war ein Nichts, ein Niemand – aller Mut, aller Mumm in ihm war verschwunden; er war sich bodenloser Unwissenheit bewusst – des Beginns der Weisheit, wie Sokrates meinte – er war verloren.“ S 149


    Aber nicht nur die Entwicklung des Eugene Gant, der für eine Jugend voller Sehnsüchte und Leidenschaften, Wünsche und Emotionen steht, wird in diesem Roman thematisiert. Neben der Lebensgeschichte des Protagonisten steht gleichrangig das von Thomas Wolfe gezeichnete politische und gesellschaftliche Panorama der USA in den 1920er Jahren.


    Zitat

    „Die Menschen wollen den Krieg vergessen … sie wollen all ihre Opfer und Leiden vergessen …meiner Meinung nach liegen bessere Zeiten vor uns. Ich denke nach der Wahl werden wir eine der bedeutendsten Perioden nationaler Entwicklung und Expansion miterleben, die die Welt je gesehen hat … Pah, wir stehen erst am Anfang! Wir haben noch nicht mal richtig losgelegt.“ S 55


    Mit seinen 1.200 Seiten ist dieser Roman schon ein wirklicher, vor Lesebeginn durchaus furchteinflößender Wälzer, der aber sowohl mit Anspruch, als auch mit Unterhaltung, Information und einem brillant gezeichneten Zeitbild zu überzeugen vermag. Wie ein Film lief die Handlung beim Lesen vor meinem geistigen Auge ab. So war die Bewältigung dieses Werkes letztendlich keine Arbeit, sondern eine durchweg lohnende Lektüre, die dem Leser amerikanische Kultur und Geschichte in einer Zeit des Aufbruchs nahe bringt. Diese Neuübersetzung empfinde ich als äußerst gelungen, der Charme des Originals, Schlüsselszenen habe ich parallel gelesen, blieb erhalten.


    „Von Zeit und Fluss“ ist ein wunderbarer Roman, der Roman einer Wandlung und Entwicklung im persönlichen und gesellschaftlichen Sinne. Dieses Buch berührt und informiert, es macht eine Zeit des Aufbruchs mit dem Protagonisten gemeinsam erlebbar. Wolfes Roman ist ein Leseerlebnis der besonderen Art, das ich nicht missen möchte.


    Der Verlag über den Autor


    Thomas Wolfe (1900-1938) wurde als letztes von acht Kindern in Asheville, North Carolina, geboren. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, schaffte es der hochbegabte Junge bis nach Harvard und wurde Dozent für amerikanische Literatur an der New York University. Kaum hatte sein Schaffen weltweit Anerkennung gefunden, als er im Alter von nur siebenunddreißig Jahren starb.