Das kennt vermutlich jeder: Irgendwann in der Jugend baut man eine besondere Beziehung zur Musik eines bestimmten Künstlers auf, und obwohl sich der Geschmack im Verlauf der folgenden Jahre ändert (meistens: verbessert), bleibt man diesem bestimmten Künstler treu, vor allem, wenn er sich seinerseits ein bisschen ändert und nicht nur ständig die alten Sachen neu auflegt. Meine persönliche "Altlast" heißt Jackson Browne, ein in den U.S. of A. äußerst populärer Singer-Songwriter, der den größten Hit der Eagles - "Take It Easy" - geschrieben und seit Beginn seiner Karriere - 1972 erschien die erste Platte "Saturate Before Using" - viele Alben veröffentlicht hat, zuletzt Anfang November das aktuelle "Standing In The Breach". Browne macht ruhige, folkige Rocksongs, und sein "Stay (Just A Little Bit Longer)" kennen vermutlich viele, leider wahrscheinlich vor allem, weil es ein paar Jahre lang die Bitburger-Werbung untermalt hat. Wer meine Bücher kennt, weiß, dass ich diese Beziehung hier ("Radio Nights") und dort ("Sommerhit") verwurstet habe, wobei es mir im Laufe der Jahre weniger um die Musik ging, sondern eher um sein Selbstverständnis als Künstler, das mich beeindruckt. Browne versteht seine Musik nicht als Produkt, er ist politisch äußerst aktiv und unbeirrbar. David Crosby (Crosby, Stills, Nash & Young) hat mal gesagt: "Du hast das Wort 'Charity' noch nicht ganz ausgesprochen, da hat Jackson schon zugesagt."
Mein Bruder hat mir irgendwann in den späten Siebzigern "Running On Empty" geschenkt, das Album, auf dem sich u.a. "The Load-Out/Stay" befinden, und ich habe diese Platte vermutlich mehr als tausend Mal gehört, seinerzeit, später dann nicht mehr so oft. Es folgten gute andere ("Lives In The Balance", "I'm Alive") und auch nicht so gute ("World In Motion", "The Naked Ride Home"). Irgendwann wurde mir das egal. Die wenigen Auftritte, die es in Deutschland gab, habe ich besucht, zuerst Anfang der Achtziger in der halbleeren Berliner Waldbühne, einige Male im Hamburger Stadtpark und an anderen Orten. Inzwischen ist Jackson Browne 66 Jahre alt. Er ist immer noch ein exzellenter Musiker, sehr gut bei Stimme und, seine Shows anbetreffend, ein Perfektionist. Wer seine Konzerte besucht, kann nicht weniger als unübertroffenen Sound und mindestens zwei Stunden beste Unterhaltung erwarten. Okay, man muss - sollte - diese Art von Musik mögen, die ganz handgemacht ist, zuweilen auch mit Steel Guitar und Hammondorgel ein bisschen nerven kann.
Im Sommer wurden die Termine für die "Fall Tour 2014" angekündigt, darunter ein paar Auftritte im UK, der letzte davon am 24. November in der Royal Albert Hall. Ich musste nicht lange überlegen. Eigentlich wollte ich den Mann mal in den Staaten sehen, aber die RAH wird vermutlich von keiner Location dort übertroffen. Also bin ich am Sonntag mit meiner Frau nach London geflogen, und am Montagabend sind wir dann am Hyde Park entlang zur Halle getingelt, quer durch Knightsbride, wo am Straßenrand nur Bentleys, Royces und Maseratis stehen. London ist eine merkwürdige Stadt geworden. An einem Maklerbüro nicht weit vom Hotel entfernt habe ich einen Aushang entdeckt: 1-Zimmer-Appartment, 12 qm, tausend Pfund. Pro Woche.
Die Halle wirkt von außen weniger spektakulär als von innen, aber sie ist ein beeindruckendes, sehr altes Gebäude - errichtet 1871. Fast 9.000 Leute passen hinein, was man kaum bemerkt, denn es geht sehr gesittet und entspannt zu, was allerdings auch am Publikum liegt: Es ist, vorsichtig gesagt, recht gesetzt. Wir haben Plätze in den "Stalls", dem Ring, der den Innenraum umgibt. Die Show soll um 19.30 beginnen, wir sind um viertel nach sieben am Platz, aber dass der Abend ausverkauft ist, merkt man jetzt noch nicht. Zehn Minuten später hat sich das drastisch geändert. Immer wieder führen livrierte Bedienstete Menschen zu ihren Sitzen, es geht distingiert zu. Hinter der Bühne, auf der ein paar Instrumente und Monitore stehen, ragt die gewaltige Orgel bis unters Dach. Die Logen, die hinter den Stalls beginnen, sind in fünf Stockwerken angeordnet. Ganz oben stehen ein paar hundert Leute an Geländern, selbst hinter der Bühne gibt es Plätze. Keiner bleibt leer.
Um kurz nach halb acht kommt Jackson Browne in Begleitung seiner achtköpfigen Band auf die Bühne, und er wird sie erst gegen elf wieder verlassen. "The Independent" schrieb gestern: "Ein Event von Bruce-Springsteen-Ausmaßen". Und: "It's a privilege to witness this epic experience". Das stimmt. Die Show beginnt mit "The Barricades Of Heaven" und endet als letzte Zugabe mit "Take It Easy/Our Lady Of The Well". Dazwischen gibt es einige neuere und neue Songs - und sehr viele sehr alte, übrigens zu viele nach meinem Geschmack. Ich hätte gerne mehr vom Jackson Browne aus den Neunzigern und Nullerjahren gehört, und auf die vielen Solos an den Pedals und der Steel Guitar hätte auch verzichtet werden können. Aber dem Publikum hat's gut gefallen, das es dann auch bei den Zugaben - "Running On Empty", "The Pretender" endlich aus den Sitzen riss. Zwischendrin gab es selten ein paar Statements, dazu einige politische, aber der Abend gehörte der Musik, der endgeilen Akustik in dieser wahnsinnigen Halle - und diesem stillen, schmalen Mann, der die amerikanische Rockgeschichte mitgeschrieben hat. Als wir um kurz nach elf wieder auf der Straße standen und unserem kondensierenden Atem zusahen, war ich entspannt und wohl auch ein bisschen glücklich, vor allem aber war es ein Abschied: Besser kann's nicht mehr werden, weshalb ich beschlossen habe, kein Konzert von ihm mehr zu besuchen. Man muss auch mal loslassen. Mein Musikgeschmack ist das nicht mehr, aber dieser Abend war auch ein würdiger Abschluss. Bye bye, Mr. Browne.