Kruso - Lutz Seiler

  • Kruso - Lutz Seiler



    ISBN: 3518424475


    Verlag: Suhrkamp Verlag


    Erscheinungsjahr: 2014 (4.Auflage)


    Seitenzahl: 484



    Über den Autor:
    Lutz Seiler wurde 1963 in Gera geboren. Er absolvierte eine Ausbildung als Baufacharbeiter und später ein Germanistikstudium in Halle/Saale und Berlin.
    Im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst ist Lutz Seiler verantwortlich für das literarische Programm. Dieser Tätigkeit war eine Arbeit als Herausgeber
    der Zeitschrift Moosbrand vorausgegangen. Einen Namen hat Lutz Seiler sich als Lyriker gemacht, u.a. erschienen die Gedichtbände "Berührt-geführt" und
    "Hubertusweg". "Kruso" ist Lutz Seilers erster Roman und wurde mit dem Preis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.



    Über den Inhalt:
    Nach einem Unfall zieht es den Studenten Edgar Bendler von Gera nach Hiddensee. Nach einigen Bemühungen findet er Arbeit im Klausner,
    einer Ferienbetriebsstätte und Kneipe. Als bald lernt Edgar, der von allen Ed genannt wird, den charismatischen Kruso kennen, der Anführer und Leitfigur
    nicht nur im Klausner, sondern für alle Saisonkräfte auf der Insel ist. Mehr noch als in den Abwasch weiht Kruso Ed in die Geheimnisse der Schiffbrüchigen ein.
    Es beginnt eine intensive Freundschaft, die mit einem Versprechen endet.


    Meine Meinung:
    In Literaturkreisen ist Lutz Seiler bereits durch seine lyrischen Arbeiten bekannt, bevor ihm mit seinem ersten Roman der große Wurf gelingt.
    In der Laudation zum Deutschen Buchpreis heißt es, Seiler beschreibe in einer lyrischen, sinnlichen, ins Magische spielenden Sprache den Sommer des Jahres 1989 auf der Insel Hiddensee - einem 'Vorhof des Verschwindens'.
    Auf dieser Insel, dem Namen nach "hidden", also versteckt, versammeln sie sich, die Aussteiger, Weltverbesserer und Philosophen.
    Zu ihnen gehört auch der Literaturstudent Edgar Bendler, der nach einem tödlichen Unfall seiner Freudin orientierungslos ist.
    Im Klausner findet er eine Anstellung im Abwasch, Krombach sammelt ihn auf und macht schnell klar, dass der Klausner bislang noch jeden aufgefangen hat.
    Es dauert nicht lange, bis Edgar Bendler, den alle nur Ed nennen, Alexander Krusowitsch kennen und verstehen lernt. Lutz Seiler baut eine Brücke zwischen den beiden Hoffnungslosen; Ed hat erst kürzlich seine Freundin verloren und Kruso in jungen Jahren zuerst seine Mutter, eine russische Zirkusartistin, später seine ältere Schwester, die möglicherweise vor Hiddensee ertrunken ist und deren Leiche nie gefunden wurde.


    Es ist das Band der Lyrik, das die jungen Männer zusammenbringt; Kruso verfasst Gedichte, Ed möchte über die Gedichte Trakls promovieren. So wird Kruso,
    den Ed bald nur noch liebevoll bis zärtlich Losch nennt, bald mehr für Ed als der Anführer der Esskaas, die seltsam originelle Abkürzung für Saisonkräfte.
    Diese Abkürzungen sowie mehr als eine Handvoll Einstreuungen sind es auch, die diesen Roman anfänglich wie ein Wörterbuch der DDR lesen lassen.
    Lutz Seiler müht sich merklich, die DDR anhand einer Randgesellschaft auferstehen zu lassen und erschwert die Lektüre durch unzählige Erläuterungen in Klammern, die vermuten lassen, dass Lutz Seiler dem unkundigen
    Publikum die Arbeit einer Recherche abnehmen will.


    In den Mittelpunkt seiner Geschichte stellt der Autor die unzweifelhafte Figur des Krusowitsch, die zur Leitfigur der gestrandeten Esskaas und all der Figuren wird, die auf die Insel kommen und eine Flucht im Sommer 1989, dem Vorabend der Umbrüche in Deutschland, erwägen.
    Drei Tage, einen Unterschlupf und Verpflegung sollen die Schiffbrüchigen erhalten, um weg vom sehnsüchtigen Blick auf die dänische Insel Møn
    und der Möglichkeit einer Freiheit zu kommen.
    Recht eindrucksvoll bedient sich Lutz Seiler dabei einer Sprache, die zunächst als lyrisch und sprachgewandt erscheint, und seinen Protagonisten Kruso beeindruckende Sätze sagen lässt.
    Auf den zweiten Blick erweisen sich diese Äußerungen als reich an Andeutungen und mystisch bis esoterisch; auf eine Auflösung der Andeutungen wartet der Leser allerdings bis zum Schluss vergeblich.
    Dafür spart der Autor anderen Stellen nicht mit unappetitlichen Momenten;
    der Anführer und Heilsbringer Kruso sorgt für die Speisung der Armen mit einer Suppe aus Essensresten, die den Abwasch bereits gesehen haben. Auch Eds Arbeit im Abwasch wird genauestens beschrieben;
    weitere Figuren, die geistreiche Namen wie Rimbaud oder Cavallo tragen, bleiben bis zum Ende blass und unnahbar.
    Jeder geht seinen eigenen Weg, schweigt und füllt seine Position im Klausner auf besondere Weise aus, Interesse am Schicksal der Kollegen besteht nicht.


    Die Geschichte um Kruso und Ed ist alles andere als einfach zu lesen; der Autor arbeitet mit starken Fragmenten und doch bestehen Zweifel, ob Lutz Seiler seine Geschichte um existentielle Fragen nach Leben und Tod selbst verstanden hat. Das Ende fällt unbefriedigend aus, lediglich ein gut dreißig Seiten umfassender Epilog stimmt versöhnlich.
    Zu wenig, um dem Schicksal der Schiffbrüchigen und beim Fluchtversuch Umgekommenen gerecht zu werden und ihnen ein literarisches Denkmal zu setzen.


    Mit "Kruso" hat Lutz Seiler ein Buch über Freundschaft und Literatur geschrieben, über Inselsehnsüchte und Flucht und wie Kruso seinen Freitag findet;
    ein Buch, das sprachmächtig ist und über Randexistenzen zu berichten weiß, über lange Strecken allerdings ermüdet und dem eben jene Leichtigkeit fehlt, um es
    als einen großen Roman zu empfehlen.

  • Ich habe schon sehr viel über dieses Buch gelesen - doch nun liegt mit deiner Rezi, liebe Salonlöwin, die erste wirklich ernstzunehmende Beurteilung vor. Dafür herzlichen Dank. Das Buch liegt bei mir auch noch herum - mal schauen wann ich es dann schaffe zu lesen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Es ist inzwischen schon für mich eine Art Tradition geworden, das Gewinnerbuch des Deutschen Buchpreises zu lesen. In „Kruso“ nimmt Lutz Seiler den Leser mit auf die Ostseeinsel Hiddensee, die ich aus eigenem Erleben gut kenne. Im Jahr 1989 zieht es Edgar Bendler dort hin, nicht um, wie viele andere, dort einen Urlaub zu verleben, sondern um vor seinem bisherigen Leben zu fliehen, das ein Unglück förmlich aus der Bahn warf. Unterschlupf findet Ed zunächst als Abwäscher im Klausner, einer Inselgaststätte und zugleich einer Art Arche Noah für alle Gestrandeten. Dort lernt er auch Kruso, Alexander Krusowitsch, kennen, in dem er einen Freund findet und der ihn in die Gepflogenheiten, Riten und Regeln der Esskas (Saisonkräfte) einweiht. Aber Kruso bringt ihm auch seinen Traum von der Freiheit nahe. Aber dann kommt der geschichtsträchtige Herbst 1989...


    Eigentlich habe ich „Kruso“ recht gern gelesen, auch wenn der Roman nicht immer leicht und eingängig zu lesen war. Um wirklich alles zu 100 Prozent verstehen und nachvollziehen zu können, muss man wohl zu jenem eingeweihten Klientel gehören, das dort zu Zeiten des real existierenden DDR-Sozialismus den gesellschaftlichen Ausstieg versuchte. Mich hat die Geschichte schon beeindruckt. Die Namensähnlichkeit zum Klassiker „Robinson Crusoe“ ist deutlich mehr als purer Zufall. Handelt es sich bei den Esskas doch auch fast ausschließlich um Gestrandete, die den Traum von der Freiheit und der Flucht von der Insel träumen. Sprachlich ist „Kruso“ sehr ausgereift. Die Highlights waren für mich die Beschreibungen der Stimmungen, der teils angespannten Atmosphäre und die der Landschaft. Denn es war unverwechselbar das Flair von Hiddensee, das ich im Roman vorfand. Aber auch in Dialogen weiß der Autor durchaus zu überzeugen. Eine Vielzahl von Themen und Personen werden im Laufe der Handlung eingefügt. Allerdings treten einige nur kurz in Erscheinung und werden nicht weiter verfolgt. In solchen Momente wünschte ich mir, Lutz Seiler hätte auf ein paar von ihnen verzichtet. So bliebt mancher Charakter nur schemenhaft in Erinnerung. Aber auch das könnte natürlich auch vom Autor bewusst so gestaltet worden sein.


    Alles in allem habe ich „Kruso“ gern gelesen, auch wenn es stellenweise ein bisschen an Arbeit erinnerte, an diesem Buch zu bleiben und durchgehend Lesefreude zu empfinden. Ein kleines Quäntchen Wortwitz und Humor hätten dem „Kruso“ keineswegs geschadet. So fehlt es dem Roman ein wenig an Charme, um mich wirklich zu begeistern.

  • Clare, bitte nicht wundern. Lutz Seiler unternimmt einen Parforceritt durch die Getränkekarte der DDR und erwähnt u.a. Lindenblatt, der (es handelt sich um einen ungarischen Wein) als Lindenblättriger verkauft wurde. Ich erwähne diese Tatsache nur deshalb, weil wir bereits in der Leserunde zu Loest eine ähnliche Diskussion geführt haben.

  • Zitat

    Original von Salonlöwin
    Clare, bitte nicht wundern. Lutz Seiler unternimmt einen Parforceritt durch die Getränkekarte der DDR und erwähnt u.a. Lindenblatt, der (es handelt sich um einen ungarischen Wein) als Lindenblättriger verkauft wurde. Ich erwähne diese Tatsache nur deshalb, weil wir bereits in der Leserunde zu Loest eine ähnliche Diskussion geführt haben.


    Bei den Getränken bin ich schon :grin
    Eben tauchte unter Anderem der "Blaue Würger" auf :grin
    Diese wahrscheinlich großen Genüsse zu trinken war ich zu jung, aber ich erinnere mich an die Namen.

  • Meine Meinung


    Dieses Buch ist voller Lyrik. Es ist sprachgewaltig und fing mich ein mit intensiven Bildern, katapultierte mich stellenweise zurück in eine Zeit des Umbruchs, die auch für mich eine Zeit des Umbruchs war, da ich zwischen Jugend und Erwachsensein stand.
    Es ist ein Buch über Freundschaft und Rettung, Verlieren und Wachsen.
    Mir gefällt die Entwicklung von Ed, der Hauptfigur, das Bild seines Driftens und des Halts, den er in Kruso findet, dem Starken, dem Macher, dem selbst Verlorenen.


    Der Roman hat mich gefangen. Leider hielt das nicht bis zum Ende, denn während Ed driftet in Tiefen, die nur noch schwer verständlich scheinen, hat der Autor mich als begeisterten Leser verloren.
    Schade.



    Edit:
    Ich möchte noch etwas ergänzen, was mich zum Ende des Buches noch einmal anrührte:

    - Freiheit, die den Himmel streift -

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  • „Ed begriff, dass man das eigene Leben immerzu verteidigen musste, einerseits gegen das, was dauernd geschah, andererseits gegen sich selbst und die Lust, aufzugeben.“


    „Kruso“ war für mich ein Experiment. Zum einen war ich neugierig, ob und wie ich mit einem „preisgekrönten“ Buch zurechtkomme, zum anderen wollte ich endlich einmal ergründen, was denn genau der große Unterschied zwischen den Bücher aus der Feuilleton- und denen der Literaturseite ist. Ganz vorbehaltlos bin ich also an die Lektüre nicht herangegangen. :grin


    Das Experiment kann ich nur als geglückt bezeichnen. Zum einen ließ sich das Buch wesentlich besser lesen als von mir erwartet. Ich bin gut reingekommen und auch wenn sich der Mittelteil etwas zog (erstaunlicherweise habe ich hier die gleiche Ansicht wie mein Vorredner, die sicher weitaus geübter im Lesen dieses Genres sind) hat der Schluss vieles wieder herausgerissen. Da es ausschließlich aus der Sicht der Hauptperson Ed geschrieben ist gab es keine klare Grenze zwischen seiner Einbildung und (vermeintlicher) Wirklichkeit. Es war keine einfache Kost mit den vielen Metaphern, teils wirren Gedanken und auch unappetitlichen Szenen. Es gibt sicher wesentlich mehr zu entdecken und zu verstehen als ich es vermag. Das Buch erzählt nicht nur eine, sondern viele Geschichten, auf die man als Leser größtenteils selbst kommen muss.


    So langsam bekomme ich auch den Hauch einer Ahnung davon, was mit dem (für mich immer noch sehr feinen) Unterschied zwischen U- und E-Büchern gemeint sein könnte. Sprachlich liest es sich durchaus anders als ein reines Unterhaltungsbuch, auch wenn ich das nur schwer in Worte fassen kann. Erklärt wird (außer der „Rahmenhandlung“ und allem was dazugehört) nur sehr wenig, da muss ich mir als Leser schon selber viele Gedanken machen.


    Fazit: Experiment geglückt. Für mich war es einmal ein Buch aus einem ungewohnten Genre, das ich aber überwiegend gerne gelesen habe. Deswegen gerade noch 8 überdurchschnittliche Punkte.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

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  • Kruse - Lutz Seiler


    Mein Eindruck findet sich in den obigen Rezensionen weitgehend wieder, ich hatte aber auch konkrete Probleme mit dem Buch. Daher war ich oft hin- und hergerissen.


    Ed Bentler ist nach dem Unfalltod seiner Freundin aus der Spur. Es ist 1989. Er arbeite schließlich in einer Gaststätte auf Hiddensee und lernt dort den charismatische Kruso, auch Losch genannt, kennen. Kruso ist unausgesprochener Führer einer Gruppe von Leuten, die einer Art inneren Widerstand gegen die Zwänge des Staatsapparats ausüben.


    Eds emotionale Abhängigkeit von Kruso ist offensichtlich. So ganz verstehen konnte ich seine Faszination nicht. Krusos angebliche Anziehungskraft habe ich nicht gespürt.
    Aber das Robinson Crusoe - Freitag - Motiv erscheint mir zutreffend. Ed ist für Kruso der Diener, aber kein vollwertiger Partner.
    Dem Lebensgefühl dieser Zeit in der DDR konnte ich wenig folgen. Es war mir zu fremd und ich wusste oft nicht, worauf der Autor hinauswollte.


    In einen richtigen Lesefluss kam ich selten, von der Detailfülle hingegen war ich nicht selten verwirrt. Dafür sind immer wieder eruptive Ausbrüche in der Handlung festzustellen, die belebend wirken.


    Was mich aber wirklich überzeugt ist die lyrische Sprache mit teilweise unglaublich ausdrucksstarken Sätzen. Man merkt, dass der Autor ein gelernte Dichter ist. Vieles an dem Buch hat mich beeindruckt. Daher hat sich das Lesen des Romans trotz einiger Mühen für mich doch gelohnt.

  • Auch ich bin von meinen Eindrücken ein bisschen hin- und hergerissen.
    Einerseits ist es von der Sprache her ein gewaltiges Werk, bildhaft und ausdrucksstark. Es fordert von der Leserin ungeteilte Aufmerksamkeit - schon das unkonzentrierte Lesen einer einzigen Seite kann sich auf die Sinnerfassung auswirken. Man muss sich auf das Buch einlassen: auf die Handlung, auf die Sprache, auf den Stil.
    Ich sehe den Roman auch als ein hochinteressantes Zeitdokument. Allerdings erfährt man nur das, was auch Ed erlebt und weiß, was aber mMn kein Manko ist, sondern das Buch vielleicht noch ein wenig interessanter macht.


    Warum ich trotzdem ein wenig auf Distanz zu dem Buch gehe: erstens sind mir die Charaktere sehr fremd, ich kann einfach keinen Draht zu ihnen finden, ihre Handlungen nicht nachvollziehen. Und zweitens sind mir viele Schilderungen zu unappetitlich und eklig.


    Köstlich amüsiert habe ich mich mit Violetta. Die zwar kein Mensch ist, aber für mich doch beinahe am menschlichsten agierte ;-)

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde