August 1914. Mit dieser Welt muß aufgeräumt werden. Autoren blicken auf die Städte Europas

  • Das Netzwerk der Literaturhäuser Deutschlands, Österreichs und der Schweiz rief Autorinnen und Autoren auf, in alten Zeitungen vom Juli und August 1914 zu lesen und sich von dieser Lektüre zu einem eigenen Text anregen lassen. Die Wahl der Textsorte stand frei. Dreiundzwanzig Autorinnen und Autoren haben sich anregen lassen, herausgekommen sind Essays, Gedichte, Erzählungen. Die BeiträgerInnen stammen nicht nur aus den drei oben genannten Ländern, sondern auch aus den anderen Ländern, die in den Ersten Weltkrieg hineingezogen wurden, England, Serbien, Türkei, Italien, Ungarn, Flandern, Frankreich, Rumänien, Ukraine, Bosnien-Herzegowina, Finnland.


    Die dreiundzwanzig Texten zeigen Facetten eines sehr kurzen Zeitabschnitts und sagen zugleich Umfassendes über den Kriegsausbruch und die betroffenen Menschen. Die wenigsten AutorInnen schrieben einen rein fiktionalen Text. Die meisten rekonstruieren jene vergangenen Tage mithilfe von Zeitungsmeldungen, von politischen Artikeln bis hin zu Mode und Klatschnachrichten. Oder sie wählten Privatbriefe und Tagebücher.
    In ihren ‚Geschichten‘ reflektieren sie zugleich, beobachten, berichten, diskutieren mit dem Wissen und ihren Überzeugungen von heute. Sie achten auf Brüche, Widersprüche, haben einen Sinn für Absurdes und den ganz normalen Horror des Alltags in einem beginnenden Krieg. Die Einblicke sind faszinierend, aufschlußreich, erschreckend und vielfach ebenso erschütternd wie die späteren Berichte von der Front.


    Die Artikel und Geschichten geben Stimmungen wieder, schildern die Atmosphäre in den Städten der genannten Länder. Die vielberufene Kriegsbegeisterung erweist sich bei diesen detaillierten Betrachtungen als eine unangenehme Mischung aus MaulheldInnentum, Ignoranz, Selbstgerechtigkeit und krassem tiefverwurzeltem Fremdenhaß. Es kommt zu wilden Ausbrüchen von Fremdenhaß, egal, ob in Wien, am Rhein, an der Ostsee oder in Moskau. Überall sieht man Spione, zu deren Ergreifung sich Mobs bilden. Hysterie herrscht, eine wüste Kopflosigkeit, noch bevor die Truppenzüge abfahren. Die ersten Meldungen von Gefallenen schon im August treiben Menschen zu Kartenleserinnen, Wahrsagerinnen, das magische Denken blüht.
    Was die Texte sehr gut zeigen, ist das umfassende Versagen der bürgerlichen Presse. Sie klärt nicht auf, sie hetzt mit Falschmeldungen und auch gegen alle, die dagegen Einspruch erheben.


    Auf der anderen Seite stehen die Einblicke in den Alltag bei Kriegsbeginn. Mit einem Schlag fehlt ein Teil der arbeitenden Bevölkerung, Familien stehen ohne Ernährer da. Die Versorgung der Zurückgebliebenen ist ebensowenig organisiert wie Bekleidung und Ausrüstung der Soldaten. Es kommt zu Hamsterkäufen, die Lebensmittelpreise steigen, in manchen Schweizer Städten - aber nicht nur dort - kommt es fast zu Aufständen. Menschen hungern, ehe der Krieg richtig begonnen hat, zu den Kriegstoten gehören eigentlich auch die Opfer der Fremdenfeindlichkeit und derer, die infolge der herrschenden Hysterie ‚versehentlich‘ erschossen wurden sowie die Männer, die sich durch Selbsttötung der Einberufung entzogen. Das ist ein anderes Bild als das gewohnte, das winkende Uniformierte in abfahrenden Zügen zeigt, am Bahnsteig ebenso wild winkende Frauen und Kinder. Von Begeisterung spürt man wenig, Ängste herrschen, eine Fiebrigkeit, Emotionen, die stärker scheinen als jeder Verstand.
    Überhaupt schenkt dieses Buch neue Blicke auf und Einblicke in diesen Kriegsausbruch. Es sind differenzierte Blicke, das macht diesen Band zusätzlich wertvoll.


    Die Texte für diesen Band stammen von Melinda Nadj Abonji, Zsófia Bán, Bettina Balàka, Marcel Beyer, Melitta Breznik, Éric Chevillard, Filip Florian, Marjana Gaponenko, Karl-Markus Gauss, Lukas Hammerstein, Dzevad Karahasan, A.L. Kennedy, Steffen Kopetzky, Angela Krauss, Andrea Molesini, Erwin Mortier, Stefan Moster, Julya Rabinowich, Uwe Saeger, Katrin Seddig, Sreten, Ulf Stolterfoht, Ayfer Tunc.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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  • In diesem Buch geht es nicht um Fakten, wie es zum 1. Weltkrieg kam, wie er verlief und warum wer gewonnen hat.
    23 AutorInnen verwenden die unterschiedlichsten Methoden, um die Zustände und Atmosphäre zu Hause in den europäischen Großstädten um den August 1914 auszudrücken, zum Teil Städte, die ich bisher überhaupt nicht mit dem 1. Weltkrieg in Verbindung gebracht hatte, wie Glasgow, Helsinki, Graz, Basel.
    Manche Geschichten sind eher sachlich, beschreibend, näher an der Politik, andere legen den Schwerpunkt auf die persönliche Situation.


    Sie erzählen Geschichten um reale und fiktive Personen und Ereignisse.
    An Hand von Zeitungsartikeln, Inseraten oder Tagebucheintragungen erfährt man, wie die Kriegsvorbereitungen sich im Alltag der Menschen bemerkbar machten. Da gibt es z. B.
    - Bekanntmachungen über Verbote für Tanzveranstaltungen
    - die Beobachtungen aus dem Blickwinkel eines Siebenjährigen
    - Berichte, wie der Mob Jagd auf vermeindliche Spione macht
    - Tipps, wie man ein Militärtestament aufsetzt
    - Briefwechsel
    - Vorahnungen
    - die Gefühlswelt eines rumänischen Reserve-Offiziers
    - eine traurige Liebesgeschichte
    - ein Dialog über Gewalt gegen Gewalt
    oder ganz schlicht
    - die Feststellung, dass in Berlin die Linden in diesem August besonders inteniv duften


    Dieses Buch bietet mal einen ganz anderen Zugang zum 1. Weltkrieg, der hier nicht als etwas Vergangenes, Archiviertes empfunden wird, sondern lebendig, nah, real.


    Ich habe es mit großem Interesse gelesen und als Bereicherung erlebt.


    9 Punkte