'Der Zug der Waisen' - Seiten 078 - 160

  • Diesen Abschnitt habe ich regelrecht verschlungen.
    Woher wohl dieser seltsame Glaube kommt, Kinder brauchten, um zu ordentlichen Menschen zu werden, vor allem viel Arbeit, wenig Essen und unbarmherzige Strenge?
    Es graust mich, das zu lesen und zu wissen, dass es diese Meinung auch heute noch gibt.


    Nicht einmal ihren Namen darf Niamh behalten und selbst um das letzte Erinnerungsstück, das irische Kreuz muss sie immer wieder kämpfen.

  • Ich habe das ganze Buch regelrecht verschlungen - da ich gestern vormittag unerwartet viel Zeit zum Lesen hatte, habe ich die Gelegenheit genutzt! :grin


    Niamh/Vivians Geschichte geht mir wirklich zu Herzen. Der Anfang in der Elizabeth Street, wobei es mich da wirklich interessiert hätte, wie der Brand eigentlich ausgebrochen ist und wieso nur Niamhs Familie davon betroffen war. Dann die Zugfahrt... ich glaube, für Niamh war es auch so etwas wie ein Trost, dass sie sich um Carmine kümmern musste. Das hat sie wenigstens ein bisschen abgelenkt und sie war beschäftigt. Dann die Bekanntschaft mit Dutchy - ob sie sich wohl eines Tages wiederfinden werden?


    Die Ansicht, dass Kinder nur durch harte Arbeit und eine strenge Erziehung zu "aufrechten" Erwachsenen werden können, finde ich auch schlimm. Aber so war es halt... und für die Pflegeeltern der Waisen war das natürlich eine bequeme Ausrede, die Kinder bis zur Erschöpfung auszubeuten.


    Mir hat Niamh so leidgetan... erst ist sie bei den Byrnes das schwächste Glied in der Kette, hat aber wenigstens noch Fanny, die zu ihr steht, und dann kommt sie zu den Grotes, wo es noch schlimmer wird. Wenigstens darf sie jetzt in die Schule gehen, wo Miss Larsen zu einer Art Rettungsanker für sie wird.


    Mollys Entwicklung finde ich auch interessant - die Stunden auf dem Speicher scheinen tatsächlich etwas bei ihr zu bewirken! Jane Eyre habe ich vor ewigen Zeiten sogar mal gelesen, aber es ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Schade eigentlich, denn sonst könnte ich vielleicht besser nachvollziehen, was Molly an dem Buch so fasziniert.


    LG, Bella

  • Ich konnte mir diesen Zug mit dem Kindern richtig bildlich vorstellen - einfach grausam dann diese Zurschaustellung und Demütigung. In dieser Situation versprechen sich Dutchy und Vivian sich zu suchen, wenn sie getrennt werden. Dann kommt die Frage: werde ich ausgewählt oder muß ich weiterfahren, wer nimmt mich und wo komme ich hin? Zuviel für Kinder.


    Die Eheleute Byrne nehmen Vivian auf und geben ihr gleich noch einen neuen Namen - Dorothy - und nehmen ihr das letzte Stückchen Identität. Sie wird ausgebeutet, muß nähen, kehren, abspülen, im Hausflur schlafen und der Kühlschrank bekommt ein Schloß! Zur Schule gehen darf sie nicht. Einzig Fanny hilft ihr.


    Als wäre das nicht schon schlimm genug, kommt sie danach zur Familie Grote. Hier war es ja nur noch gruslig, einziger Lichtblick die Schule.



    Die Gegenwart gefällt mir sehr gut. Vivian und Molly - auf die weitere Entwicklung bin ich gespannt.

  • Für die Kinder muss das eine Tortour gewesen sein. Sie kommen in einem überfüllten Zug an, wurden ständig darauf hingewiesen, wie weit unten sie in der Riege der Gesellschaft stehen und müssen sich dann auch noch "auswählen" lassen. Nur wer gewählt wird, hat es offenbar alles richtig gemacht. Welche traumatischen Störungen bei den über 200.000 Kindern entstanden sind, mag ich mir gar nicht vorstellen.


    Es wird auch kein Wort über die Eignung der Eltern gesagt. Früher hat man offenbar die Familien lediglich danach ausgewählt, ob sie gewillt waren, ein Kind aufzunehmen. Weder die Byrnes noch die Grotes sind brauchbare Ersatzeltern. Sie haben auch nie etwas vom Schutz dieser anvertrauten Kinder gehört. Dass die wohnlichen Umstände kärglich waren, ist eine Sache, aber den Kindern mutwillig nur die feuchten Matratzen zur Verfügung zu stellen, ist grob fahrlässig. (Wobei ich in der großen weiten Welt nicht wissen will, wie oft das auch heute noch praktiziert wird.)


    Aus der anderen Sicht finde ich aber den Einblick interessant, den wir so in die Familien von vor 100 Jahren bekommen. Der Schwarze Freitag und der Beginn der Weltwirtschaftskrise hat ja gerade in Amerika einige Familien in den Ruin gestürzt.

  • Ich glaube auch nicht, dass sich damals irgendjemand Gedanken gemacht hat, ob die potentiellen Pflege-Eltern auch wirklich geeignet sind! Die Leute von Children's Aid waren froh, wenn sie die Kinder irgendwo unterbekommen haben und für die Menschen im Mittleren Westen waren sie billige Arbeitskräfte. Ob das nun menschenwürdig oder gar kindgerecht war, hat da keinen interessiert!


    Allerdings, wenn man sich Mollys Pflege-Eltern so anschaut, kann man auch an deren Eignung zweifeln. Die tun ihr zwar keine körperliche Gewalt an, aber mit liebevoller Behandlung und Zuneigung hat das auch nicht viel zu tun...


    LG, Bella

  • Ich habe das Buch heute erhalten und konnte es kaum aus der Hand legen, irgendwie bin ich auch ziemlich "geklatscht". Zu wissen, dass es solche Schicksale wirklich gegeben hat! Da wird einem wieder einmal bewusst, welchen Luxus wir heute geradezu als selbstverständlich hinnehmen.
    Der weiter vorn gezogene Vergleich mit den "Schwabenkindern" trifft es wirklich sehr gut. Ich habe dieses Buch vor einigen Jahren gelesen und die ausnahmsweise einmal recht gut gelungene Verfilmung mit "Ex-Rex-Herrchen" Tobias Moretti mehrfach gesehen und war von beiden emotional sehr berührt.


    Beide Erzählstränge laufen gut und verständlich nebeneinander her. Dabei ist es zusätzlich hilfreich, dass den Kapiteln stets Orts- und Datumsangaben vorangestellt sind.


    Schlimm ist, dass man den "Eltern" kaum richtig "böse" sein kann. Sie haben ja selbst kein viel besseres Leben. Auch die Kindervermittler tun sicher meist ihr Bestes.


    Ich bin froh, dass Niamh bisher noch keinem Kinderschänder ausgeliefert war, und hoffe, das bleibt so.


    OT:
    Dieses Buch würde ich Coelhos untreuer Linda gern auf den Nachttisch legen!


    Auch hier noch einmal meine Bitte: Kann mir jemand das Poster von S. 348 bitte vergrößern? :anbet
    :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Maikäfer, wenn ich wüsste, wie das geht, würde ich das gerne machen. Ich könnte es mal mit einscannen probieren - morgen im Büro.


    Schlimm finde ich, dass es ja nicht nur arme Leute waren, die die Kinder ausgebeutet haben. Die Byrnes waren ja eher wohlhabend - vor dem Crash.
    Während der Weltwirtschaftskrise war die Armut tatsächlich groß. Es hat wohl sogar Hungertote gegeben. Da kann man schon eher verstehen, dass man von dem wenigen nichts abgeben will.


    Mir gefällt übrigens gut, wie sich die beiden Geschichten, die von Molly und die von Vivian nebeneinander entwickeln.

  • DonaldDuck war so lieb und hat mir den Text per pn geschickt.
    Hat sich also erledigt, trotzdem vielen Dank!
    Ich habe das Buch gerade ausgelesen und muss jetzt erst mal "runterkommen"...

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Ich mag den Erzählstil sehr. Irgendwie wird die Stimmung trotz der ganzen Probleme, die Niamh begegnen, nie so richtig schwer und tragisch. Ich finde es total bewundernswert, wie Niamh sich immer wieder die Dinge vor Augen hält, die gut laufen. Molly macht es ja genauso, sie hat es wohl von der Sozialarbeiterin so gelernt. Das zeichnet für mich schon echte "Überlebenskünstler" aus.
    War Jane Eyre nicht auch so? Ich meine mich daran zu erinnern, ist aber schon ein Weilchen her, dass ich das Buch gelesen hab.
    Die Verbindung zwischen Vivian und Molly finde ich sehr berührend. Super, wie Vivian die ganzen Sachen dann immer wieder in die Kisten zurück packt. :lache Anne von Green Gables habe ich als Kind auch gelesen - es war damals auch ein Lieblingsbuch. Und schon wieder ein Buch mit einer ähnlichen Thematik! Jetzt fehlt noch Pollyanna... ;-) Aber wie schön, dass die Lehrerin Niamh so ein Buch gibt, mit einem Mädchen in einer ähnlichen Situation, mit der sie sich ein bisschen identifizieren kann.

    It’s not enough for the phrases to be good; what you make with them ought to be good too. - Aldous Huxley

  • Zitat

    Original von maikaefer
    Schlimm ist, dass man den "Eltern" kaum richtig "böse" sein kann. Sie haben ja selbst kein viel besseres Leben. Auch die Kindervermittler tun sicher meist ihr Bestes.


    Das finde ich auch, zumindest was die zweite Pflegefamilie betrifft. Der Vater scheint immerhin sehr bemüht, sich korrekt zu verhalten und schickt sie zur Schule. Er wirkt auf mich nicht irgendwie böse oder schlecht, sondern einfach ziemlich sonderbar. Niamh/Dorothy scheint so behandelt zu werden wie seine eigenen Kinder.
    In der ersten Familie war Mrs. Byrnes allerdings ziemlich daneben. :schlaeger Aber dafür waren beinah alle anderen Familienmitglieder in Ordnung.

    It’s not enough for the phrases to be good; what you make with them ought to be good too. - Aldous Huxley

  • Zitat

    Original von Brigia


    Das finde ich auch, zumindest was die zweite Pflegefamilie betrifft. Der Vater scheint immerhin sehr bemüht, sich korrekt zu verhalten und schickt sie zur Schule. Er wirkt auf mich nicht irgendwie böse oder schlecht, sondern einfach ziemlich sonderbar. Niamh/Dorothy scheint so behandelt zu werden wie seine eigenen Kinder.
    In der ersten Familie war Mrs. Byrnes allerdings ziemlich daneben. :schlaeger Aber dafür waren beinah alle anderen Familienmitglieder in Ordnung.


    Doch kann man. Mir fehlt für das Verhalten der Pflegeeltern (auch im 2. Fall gegenüber den eigenen Kindern) und auch der Vermittler jegliches Verständnis. Schon die Motive Niamh ins Haus zu nehmen sind schlimm oder auch den Kindern das Gefühl zu vermitteln, sie seien grundsätzlich böse bzw. selbst schuld an ihrer Situation. Die Kinder werden als Sache, als Ware behandelt, die auch noch dankbar dafür sein müssen. Nein, dafür kann ich kein Verständnis aufbringen.

  • Saiya, einerseits stimme ich dir zu. Die Motive, diese Kinder aufzunehmen waren teilweise alles andere als ehrenwert. Es war Ausbeutung und man kann es tatsächlich Sklavenhaltung nennen.
    Auf der anderen Seite ist diese Haltung eine Folge der gerade in USA überaus verbreiteten Auffassung, jeder sei seines Glückes Schmied und wer arm ist, ist selber dran schuld, weil er nicht genug arbeitet. Dazu kommt noch eine ausgeprägte Paranoia vor der Einmischung des Staates in private Dinge.


    Nicht zu vergessen die wirklich unvorstellbare Armut unter den Farmern zu dieser Zeit.


    Aber auch in Deutschland war eine solche Haltung Kindern gegenüber gar nicht selten. Wer sich dafür interessiert, dem empfehle ich Haffners Roman Blutsbrüder.


    Ich würde es mal so sagen, ich kann erklären, wie es zu solchen Zuständen kommen kann. Trotzdem kann man solches Verhalten nicht dulden und nicht rechtfertigen.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Nicht zu vergessen die wirklich unvorstellbare Armut unter den Farmern zu dieser Zeit.


    Genau. Und darum KONNTEN die meisten gar nicht so viel mehr für ihre Kinder - ob nun leibliche oder Zugkinder - tun.
    Die Perspektivfrage habe ich im vorigen thread beantwortet. :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ich würde es mal so sagen, ich kann erklären, wie es zu solchen Zuständen kommen kann. Trotzdem kann man solches Verhalten nicht dulden und nicht rechtfertigen.


    :write
    Das sehe ich absolut genauso, bzw. meinte ich es oben auch so.


    Ich habe mittlerweile den nächsten Leserunden-Abschnitt gelesen und dort hat sich meine Meinung über die Grotes verfestigt. Ich glaube sowieso, dass man gerade dieses Buch nach der Leserunde nochmals rückblickend als "Gesamtpaket" etwas anders betrachtet.


    Die Geschichte entfaltet sich erst so nach und nach, was im übrigen auch auf die von dir nochmal erwähnte Erzählperspektive zutrifft. Es wird einem erst langsam bewusst, dass wir hier nur Mollys Sichtweise kennenlernen. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto besser gefällt mir das.

  • Das mit dem Gesamtpaket, Saiya, mag stimmen, ich hatte es ja gestern auch in einem Rutsch gelesen und bin daher hier nicht mehr unvoreingenommen...
    :anbet :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Ich finde es übrigens ein bisschen schade, dass man so wenig über die "Child Aid Society" erfährt. Was motiviert diese Leute, wie finanzieren sie sich? Dass sie nur das Beste der Kinder im Auge haben, kann ich mir nicht vorstellen - ich hatte eher das Gefühl, sie versuchen, die Kinder möglichst schnell im Mittleren Westen loszuwerden, weil sie in New York auch nicht mehr wissen, wohin mit den vielen Waisen und Straßenkindern - und weil diese Kinder natürlich Geld kosten.
    Von daher kann ich auch nicht zustimmen, dass Mr Sorensen sein Bestes tut, als er Vivian an die Grotes weitervermittelt. Ich glaube, das tut er eher, weil er sonst niemanden hat und möglichst wenig Arbeit mit Vivian haben will! Viel mit Nächstenliebe hat das für mich nicht mehr zu tun...


    LG, Bella

  • Bella, das habe ich mich auch gefragt. Aber vielleicht liegt es daran, dass wir auch hier nur Vivians Erzählperspektive haben. Auch wenn sie "rückblickend" erzählt wird, erfahren wir immer nur wie sie die Situation als Kind empfunden hat.
    Vielleicht soll das auch so sein, damit die Leser sich selbst auf die Suche nach Informationen machen. Ich habe dieses Mal bewusst nicht das Nachwort/die Danksagung vorab gelesen, deshalb weiß ich nicht, wieviel dort darüber drinsteht.


    maikaefer, das mit dem Gesamtpaket ist bei diesem Buch schon etwas besonders. Auch der Prolog und die kurze Erzählung über die Wabanaki-Indianer bekommt im Laufe der Geschichte nochmal eine weitere Bedeutung. Ich blättere hier beim Lesen immer mal wieder zurück und lese so etwas nochmal. Das mache ich eigentlich sonst nie. :-)