Joyce Carol Oates: Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe [ab 14]

  • Joyce Carol Oates: Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe
    Carl Hanser Verlag 2014. 272 Seiten
    ISBN-13: 978-3446246324. 15,90€
    Vom Verlag empfohlen ab 14 Jahre
    Originaltitel: Two or Three Things I Forgot to Tell You
    Übersetzerin: Brigitte Jakobeit


    Verlagstext
    Für Merissa, Tink und Nadja ist es das letzte Jahr in ihrer Schule, die Weichen werden gestellt. Merissas Zukunft sieht rosig aus: Sie ist beliebt und ehrgeizig, schreibt in jedem Fach Bestnoten und hat den Studienplatz schon sicher. Tink dagegen ist rebellisch, sie lässt sich weder von Lehrern noch von Eltern oder Mitschülern etwas sagen. Die schüchterne Nadja bewundert im Stillen Tinks Selbstbewusstsein. Sie selbst kann sich gegen Angriffe und Mobbing nicht zur Wehr setzen. Dass alle drei Mädchen mit den gleichen Ohnmachtsgefühlen kämpfen, hätte niemand gedacht. Ein Jugendbuch über Familie, Freundschaft und das Erwachsenwerden zwischen Internetmobbing und Selbstzweifeln.


    Die Autorin
    Joyce Carol Oates, 1938 geboren, studierte Literatur und Philosophie und lehrt seit 1978 an der Princeton-Universität in New Jersey. Sie zählt zu den wichtigsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke erhielt sie neben vielen anderen Auszeichnungen den National Book Award und mehrfach den O-Henry-Preis. Der bei Hanser erschienene Jugendroman „Mit offenen Augen - Die Geschichte von Freaky Green Eyes“ war für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2006 nominiert. Außerdem sind die Jugendbücher „Unter Verdacht“ (2003), „Sexy“ (2006) und „Nach dem Unglück schwang ich mich auf, breitete meine Flügel aus und flog davon“ (2008) bei Hanser erschienen. 2014 folgt ihr Jugendroman „Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe.“


    Inhalt
    Merissa scheint die von allen bewunderte erfolgreiche Modellschülerin zu sein. Am Ende des vorletzten Schuljahres erhält sie schon eine Studienplatz-Zusage für eine amerikanische Elite-Universität, sie schreibt stets Bestnoten, führt das Hockeyteam und bekommt natürlich im Schultheaterstück die begehrte weibliche Hauptrolle. Doch bei einem Blick hinter die begeisterten Fassaden sieht die Sache ganz anders aus. In der Schule und auch zuhause wagt Merissa es nicht, anderen den Rücken zuzudrehen, weil sie stets damit rechnet, dass dann etwas Gemeines über sie gesprochen wird. Als lustvoll, weil verboten, empfindet Merissa das heimliche Ritzen. Ihre Narben trägt sie wie ein verstecktes Tattoo. Der elitäre Vater-Tochter-Bund bröckelt, der die weniger intellektuelle Mutter ausschloss und aus der Zeit stammt, als Merissa noch klein und niedlich war. Die Siebzehnjährige fühlt sich als fast Erwachsene vom Vater nicht mehr beachtet. Mädchen dürfen nicht wachsen und nicht erwachsen werden, so die unterschwellige Botschaft. Merissas gesamte Lebensplanung ist der Bewerbung um den Studienplatz untergeordnet. Sie spielt nicht Hockey, weil sie es will, sondern weil es für die Bewerbung taktisch sinnvoll ist, auch Theater, Musik und ihr soziales Engagement werden taktisch klug eingesetzt. Merissa, Nadia und Tink waren einmal eine eingeschworene Dreierclique. Doch seit Tink die Freundinnen durch ihren Selbstmord verlassen hat, haben die Zurückgebliebenen umso stärker mit ihrem Gefühl der Wertlosigkeit zu kämpfen. Tink fand es nicht nötig, anderen zu gefallen und nahm dadurch die Rolle eines Anti-Paradiesvogels ein. Nadia findet sich im Vergleich zu ihrer jugendlich-kapriziösen Stiefmutter zu dick und gerät an der Schule ungeschickt in einen Strudel aus Sexting (Mobbing mit sexuellen Inhalten) und üblem Tratsch. Beiden Mädchen ist die tote Tink immer noch so nahe, dass man beim Lesen sogar an Tinks Tod zweifeln könnte. Tinks Tod wirkt auf die Mädchen so bedrohlich, dass Merissa das Wort nur mit einem Stern zensiert zu denken und zu schreiben wagt.


    Fazit
    Joyce Carol Oates hat mich schon auf den ersten Seiten ihres neuen Jugendromans damit gefesselt, dass sie die Häme hinter der Fassade von Glück und Erfolg nur beobachtet. Die Fäden verknüpfen und die Vorgänge analysieren müssen ihre Leser ganz allein. Ihr Buch gehört zu den besten Jugendbüchern, die ich in diesem Jahr gelesen habe. Es verursacht dieses bestimmte Kribbeln, mit dem sich ein klassischer, völlig zeitloser Text ankündigt, über den man auch noch in vielen Jahren ebenso kontrovers diskutieren kann wie heute. Die Persönlichkeit Merissas hat mich im ersten Drittel des Buches mit Abstand am stärksten gefesselt, wenn auch die Zusammenhänge erst mit der Charakterisierung der Dreier-Clique deutlich werden. Merissas Lebensumstände karikieren den amerikanischen Traum vom Aufstieg aus eigener Kraft, halten überehrgeizigen Eltern den Spiegel vor und entlarven nicht zuletzt die Häme, die die Beziehung zwischen den Jugendlichen vergiftet. Ein starkes Buch.


    10 von 10 Punkten