Christina Baker Kline: Der Zug der Waisen
Goldmann Verlag (10. November 2014) 352 Seiten
ISBN-13: 978-3442313839. 19,99€
Originaltitel: Orphan Train
Übersetzerin: Anne Fröhlich
Verlagstext
Ein bewegender Roman über ein vergessenes Kapitel der amerikanischen Geschichte
New York, 1929: Mit neun Jahren verliert Vivian Daly, Tochter irischer Einwanderer, bei einem Wohnungsbrand ihre gesamte Familie. Gemeinsam mit anderen Waisen wird sie kurzerhand in einen Zug verfrachtet und in den Mittleren Westen geschickt, wo die Kinder auf dem Land ein neues Zuhause finden sollen. Doch es ist eine Reise ins Ungewisse, denn nur die wenigsten von ihnen erwartet ein liebevolles Heim. Und auch Vivian stehen schwere Bewährungsproben bevor ... Erst viele Jahrzehnte später eröffnet sich für die inzwischen Einundneunzigjährige in der Begegnung mit der rebellischen Molly die Möglichkeit, das Schweigen über ihr Schicksal zu brechen.
Die Autorin
Christina Baker Kline wuchs in England und in den Vereinigten Staaten auf. Sie hat Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet und sich als Buchautorin und Herausgeberin von Anthologien einen Namen gemacht. Ihr Roman "Der Zug der Waisen" war in den USA ein großer Erfolg und hielt sich monatelang an der Spitze der New-York-Times-Bestsellerliste. Mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen lebt die Autorin in Montclair, New Jersey.
Inhalt
Molly wirkt wie ein Goth aus dem Bilderbuch, geschminkt, gesträhnt und gepierct. Das siebzehnjährige Mädchen hat nach dem Tod des Vaters und der Gefängnisstrafe der Mutter viele Pflegestellen und viele verschiedene Schulen erleben müssen. Die Erwachsenen funktionieren wie auf Knopfdruck. Wenn Molly provoziert, explodieren ihre Erziehungsberechtigten, Molly wird wieder fortgeschickt und fühlt sich jedes Mal kurzfristig als Siegerin. Ralph und Dina, die aktuellen Pflegeeltern, nehmen vermutlich an keiner Selbsthilfegruppe für Pflegeeltern teil; denn ihr gemeinsames Motiv, einen schwierigen Jugendlichen aufzunehmen, ist zwischen den Partnern nicht geklärt worden. Als Molly ein Buch aus der Bibliothek zu stehlen versucht, droht ihr – reichlich martialisch – gleich ein Jugendarrest. Mollys guter Freund Jack will sich auf keinen Fall von Molly trennen und dringt darauf, dass sie die Strafe in Form von Sozialstunden abarbeitet. Jack hat auch gleich eine Idee wie, Molly soll der betagten Vivian beim Entrümpeln des Dachbodens helfen.
Vivian, 91 Jahre alt, verfügt über die gebieterische Ausstrahlung einer Ordensschwester und findet gleich den richtigen Ton bei Molly. Schnell wird klar, dass Vivian sich noch nicht von den Erinnerungsstücken auf ihrem Boden trennen kann; denn über ihr Schicksal als Adoptivkind in den USA der harten 30er Jahre hat sie bisher kaum gesprochen. Vivian wurde gemeinsam mit anderen Kindern aus dem New Yorker Waisenhaus mit dem Orphan Train nach Minnesota aufs Land geschickt und dort als kostenlose Arbeitskraft an so genannte Adoptiveltern verschachert. Die Interessenten wollten entweder ein Baby, einen kräftigen Jungen als Arbeitskraft oder ein Mädchen, das den Haushalt führt und die leiblichen Kinder betreut. Für die Adoptiv-Kinder bestand eine Art Rückgaberecht, so dass sie jederzeit befürchten mussten, wieder fortgeschickt zu werden.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Molly vor den Gesprächen mit Vivian nicht bewusst war, dass ein Pflegekind sich den Wünschen anderer so stark anpassen kann, bis es nicht mehr spüren kann, wer es selbst ist. Vivian, die eigentlich Niamh hieß, musste sogar zweimal ihren Vornamen wechseln, um sich den Wünschen ihrer wechselnden Pflegeeltern zu unterwerfen. Im Unterricht in Amerikanischer Geschichte entdeckt Molly (deren Vater indianischer Abstammung war) gerade die Geschichte der Ureinwohner, die ihre Habe mit sich transportieren und dafür klug auswählen mussten. Die Portage, das Verpacken des persönlichen Besitzes, kann im übertragenen Sinn für Aufbruchssituationen im Leben stehen. Molly erkennt, dass Vivians Nachlass dringend eine Vermittlerin wie sie selbst braucht, damit auch andere die Bedeutung der Dinge verstehen können. Molly und Vivian finden in der jeweils anderen unerwartet eine Gesprächspartnerin, der man das eigene Schicksal nicht erst erklären muss und es kommt für alle Beteiligten zu unerwarteten Wendungen.
Fazit
Christina Baker Kline hat mit ihrem flüssig zu lesenden Buch den Kindern der Orphan Trains ein Denkmal setzen wollen und dokumentiert die historischen Ereignisse eindringlich mit zeitgenössischen Fotos. Zusätzlich hat sie ein wunderbares Buch über Pflegekinder und Pflegeeltern geschrieben, das seinen Lesern Einblick in die Gefühle eines entwurzelten Kindes gibt – und das darüber hinaus einige schwer auszurottende unrealistische Vorstellungen über die Beziehung zwischen Pflegekind und Wahlfamilie aus der Welt schaffen kann. Ich bin froh, dass ich von Vivians und Mollys Schicksalen gelesen habe, auch wenn ich Schicksalsberichten anfangs meist skeptisch gegenüberstehe.
9 von 10 Punkten