Bis in die Unendlichkeit

  • Gedankenverloren lief Georg durch die Strassen. Auf seinem Heimweg tauchte er wieder ein in die gestrige Nacht. Er war in seiner Stammkneipe gewesen. Wie jeden Samstagabend. Schon seit Langem hatte er die Hoffnung aufgegeben, gerade hier eine Frau kennen zu lernen. Und doch war Gestern das Unerwartete passiert. Ihr Name war Diana und alleine die Tatsache, dass sie ihn angesprochen hatte, ließ ihn noch heute an ein Wunder glauben.


    Mit allen Sinnen hatte er sie wahrgenommen: Der Duft ihrer langen, rotbraunen Haare, der den ihm vertrauten rauchigen Gestank seiner Stammkneipe vertrieben hatte. Der Klang ihrer sanften, hellen Stimme, die sich selbstbewusst über die dröhnende Musik gelegt hatte. Der Anblick ihrer blauen Augen, welche fröhlich leuchtend ihre Seele offenbart hatten. Jede Geste, jedes kleinste Detail an ihr hatte er gespeichert. „Ob sie wohl stolz auf mich sein wird, wenn ich mich noch in 10 Jahren genau daran erinnern werde, dass sie ein dunkelbraunes Shirt mit V- Ausschnitt und eine schwarze Stoffhose mit einem hellen Fleck am rechten Oberschenkel getragen hatte?“, hatte er unwillkürlich denken müssen. Ganz zu schweigen von all den Sinneseindrücken, die sich so tief eingeprägt hatten.


    Er atmete tief ein und fast war ihm, als würde er wieder ihr Haar riechen können. Und als er zur großen Kreuzung rechts abbog, auf deren anderen Seite seine Wohnung war, kontrollierte er wie schon so oft an diesem Tag, ob der kleine Zettel mit ihrer Telefonnummer noch im Portemonnaie war. Dann überquerte er die Straße.
    Ein schrilles Quietschen riss ihn jäh aus seinen Träumen. Zu spät sah er den weißen Kombi von rechts auf ihn zurasen. Zu spät sah er die rote Ampel. Zu spät. Der Wagen erfasste ihn mit nur schwach gebremster Wucht. Seine Beine verkeilten sich zwischen Stoßfänger und Straßen und Georgs Körper wurde direkt unter den Wagen gezogen und von der Welt verschlungen.


    Als Georg zu sich kam, umgab ihn endlose Stille. Er fühlte keine Angst und keine Schmerzen. Die fremde Umgebung verunsicherte ihn nicht. Ganz im Gegenteil: Wärme durchströmte seine Seele. Ein wohliges Gefühl überkam ihn, das ihn an jene harmonischen Winterabende vor dem Kachelofen seiner Eltern erinnerte. Ja, er fühlte sich hier wohl, als wäre er heimgekehrt. Seine transparent schimmernde Seele, welche die Form seiner sterblichen Hülle beibehalten hatte, leuchtete in der Region seines Bauches besonders stark. Das war nun er. Sein reines Selbst.


    Er schwebte in der hellen Unendlichkeit. In weiten Abständen um ihn herum spürte er weitere Seelen. Es war fast, als konnte er sie sehen. Er brauchte keine Augen, um zu wissen, dass es hier nichts gibt, was er hätte sehen müssen. Keine Barrieren. Keine Körper. Einfach nur die Unendlichkeit.


    Georg stellte fest, dass er sich nur an wenige Dinge aus seinem früheren Leben erinnern konnte. Nur Dinge, die ihn zutiefst berührt hatten, waren ihm jetzt noch bewusst. Klarer noch, als zu Lebzeiten, wo Georg mehr auf sein Gehirn, als auf seinen Bauch gehört hatte. Lebzeiten… Welch unpassendes Wort Angesichts der jetzigen Lage. Lebte er jetzt denn nicht mehr?


    Diana! Das Gefühl überraschte ihn und erfüllte ihn mit Trauer. Fast glaubte er, sein Herz zu spüren. Eine andere Seele bemerkte dies und sprach Georg an: „Warum bist Du so traurig, mein Freund?“ Georg antwortete, ohne Mund oder Zunge, sondern nur mit der Kraft seiner Gedanken: „Ich bin dem Glück begegnet und hatte keine Zeit mehr, es festzuhalten“.
    „Sei nicht traurig, viele von uns sind hier, ohne jemals dem Glück begegnet zu sein“.
    „Ja“ dachte Georg, der fremden Seele antwortend, als hätte er nie auf andere Weise kommuniziert „das mag sein, aber was nutzt das Glück, wenn man es nicht genießen kann? Mir erscheint der Verlust um ein Vielfaches höher, da noch so viel mehr Liebe auf mich gewartet hatte“.
    Wie zum Trost berührte ihn die andere Seele, Georg konnte die Wärme spüren. „Du wirst sie hier oben vielleicht wieder finden, irgendwann. Wünsche Ihr, dass es nicht so bald sein wird. Doch beginne jetzt, sie zu suchen. Das machen viele hier. Wir schweben durch die Unendlichkeit, in der Hoffnung, die Seele wieder zu finden, die wir auf der Erde zurückgelassen haben, oder die uns vorzeitig genommen wurden“.
    „Und, gelingt es?“, wollte Georg voller Hoffnung wissen.
    „Nein, nicht immer. Auch Seelen erlöschen irgendwann, jedoch können sie miteinander verschmelzen und haben so die Energie, länger zu bestehen“.
    „Wie viel Zeit habe ich“?
    „Zeit spielt hier keine Rolle, aber eine Seele vermag, deutlich länger zu leben, als ein Körper. Du wirst die Chance haben, sie zu finden“.


    Georg war verzweifelt. Sollte es nun sein einziges Ziel sein, Seelen von lieb gewonnenen Menschen zu suchen? Dianas Seele zu suchen? Auch auf der Erde war er dem Glück hinterher gerannt, doch er hatte auch andere Aufgaben und Ablenkungen. Er hatte Nächte, in denen er schlafen konnte. Nun gab es keinen Grund mehr zu schlafen. Es galt keinen Körper zu regenerieren.
    Georg spürte plötzlich eine sehr energiereiche Seele unter ihm vorbeischweben. Eine komplette Familie. Sie hatten sich gefunden. Oder hatten sie vielleicht gleichzeitig ihre Körper verlassen? So schrecklich es ihm früher vorgekommen war, wenn eine komplette Familie ausgelöscht wurde, nun wusste er, dass diese Seelen im Nachhinein dankbar dafür waren, gemeinsam gegangen zu sein. Sie hatten einander nicht verloren.
    Hätte er doch nur ein bisschen mehr Zeit mit Diana verbringen können. Nur einen Tag. Auch eine weitere Stunde hätte ihm gereicht. Aber er war froh, sie so bewusst wahrgenommen zu haben an jenem Abend. Nur deswegen erinnerte er sich jetzt noch an sie. Wie lange war das jetzt her? Er würde sie suchen und sofort damit beginnen. Dieses Mal würde er auf sie zugehen. Er durfte nur den Mut nicht verlieren.


    Da ergriff ihn plötzlich ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn er nicht der Einzige ist, der auf sie wartet, oder wenn sie sogar jemanden mitbringt? Ihm war mit einem Mal klar, dass dieser einzige Abend nicht ausreichen würde. Sie würde ihn schnell vergessen, spätestens nachdem sie ein paar Wochen vergeblich auf seinen Anruf gewartet hätte. Wie gern würde er sie jetzt anrufen.


    Der Wecker klingelte.


    Georg erwachte jäh aus seinem Schlaf. Der Weg ins Bewusstsein erschien ihm endlos. Der Traum war so real und hatte ihn so tief berührt. Doch kaum hatte er die Augen geöffnet, sprang er schon aus dem Bett. Ein bisschen schwindelig von der plötzlichen Beanspruchung seines Kreislaufs verlor er leicht die Orientierung und hatte kurzzeitig das Gefühl zu schweben. Er zog hastig den kleinen Zettel mit der Telefonnummer aus seinem Portemonnaie, sprang zum Telefon und wählte die Nummer.
    „Ja, hallo?“ klang es schlaftrunken aus dem Hörer.
    „Hier ist Georg, der von Gestern Abend“, sagte er zögerlich, auf einmal völlig unsicher, ob sie sich an ihn erinnern würde.
    „Georg! Es freut mich, dass Du anrufst… um 7 Uhr morgens“?
    „Ja, tut mir leid. Entschuldige bitte“. Es war ihm unendlich peinlich, die Uhrzeit hatte er nicht bedacht. Eigentlich hatte er gar nichts bedacht. „Ich wollte mich nur für den schönen Abend bedanken. Lust auf ein gemeinsames Frühstück? Um 8 Uhr im Bistro“?
    „Ja, gerne. Ich freue mich auf Dich“.
    „Und ich erst, Diana. Bis gleich“ .
    Georg konnte sein Glück nicht fassen, aber er wollte es ergreifen. Wie viel Zeit er doch schon verschwendet hatte in seinem Leben. Ab jetzt würde er jede Minute mit ihr genießen und hoffentlich mit ihr alt werden. Er wollte mit ihrer Seele verschmelzen. Aber erst nach einem langen, bewusst gelebten Leben, denn darauf kommt es an.

    Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen.
    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

    - Mark Twain -

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  • Zufällig ist mir diese sehr alte Kurzgeschichte wieder in die Hände gefallen. Es war eine meiner ersten Kurzgeschichten und hat prompt Interesse geweckt. Die Geschichte wurde in der Zeitschrift "Kurzgeschichten" veröffentlicht.


    Eigentlich gar nicht mein Stil. Keine Ahnung, was mich dazu getrieben hat, sowas zu schreiben... :gruebel

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    Danach verzichtete er auf weitere Experimente.

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  • Was hast du denn daraus gelernt? Dass es auch seine guten Seiten hat, wenn bei einem Autounfall gleich die ganze Familie draufgeht? ;-)


    Sorry crycorner, aber ich finde die Geschichte furchtbar schwülstig. Außerdem lasse ich mir die - obendrein nicht sehr originelle - Botschaft nicht gern mit dem Holzhammer ins Hirn prügeln.


    Nix für ungut. :knuddel1

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Zitat

    Original von harimau
    Sorry crycorner, aber ich finde die Geschichte furchtbar schwülstig.


    :grin


    War halt "so ´ne Phase"...

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    - Mark Twain -

  • Ich finde die Geschichte irgendwie gut gemeint, muss mich aber der harimaus (leiderleider! :grin) anschließen.


    Ich mag Deine dreckigen Seiten viel lieber! Aber ich hab mich trotzdem gefreut, in dieser Rubrik mal wieder was von Dir zu lesen. :-]

    Ailton nicht dick, Ailton schießt Tor. Wenn Ailton Tor, dann dick egal.



    Grüße, Das Rienchen ;-)

  • Liebe Salonlöwin,


    Ich glaube, das kann ich :-)


    Die Geschichte ist ein paar Tage, nachdem ich "Rendezvous mit Joe Black" gelesen habe, entstanden. Das war praktisch meine Inspiration. Wenn Du den Film kennst, weißt Du sofort, was ich meine.


    Und das mit dem Traum ist einfach die naheliegenste Variante, in einer Kurzgeschichte möglichst simpel einen Twist am Ende einzubauen.


    Ich kann zu meiner Entschuldigung nur sagen, dass ich da noch sehr unbedarft war und es für eine super Idee hielt, diesen Twist zu nutzen. Erst später, nachdem ich mich insgesamt mit dem Thema Schreiben und speziell mit Kurzgeschichten befasst habe, ist mir der inflationäre Umgang damit aufgefallen.


    Es war meine einzige Autounfallgeschichte. Und meine einzige Traum-Twist-Geschichte bislang und wird es wohl auch bleiben. Es sei denn, mir fällt mal eine originelle Variante dazu ein. :grin


    :wave crycorner

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  • Zitat

    Original von arter
    rienchen : Worauf bezieht sich jetzt das leiderleider?


    Dass du harimaus Recht geben musst oder darauf dass crycorner nix Dreckigeres gepostet hat? Oder ein "Leider" jeweils?


    Mit Sicherheit Letzteres, Arter. Rienchen mag´s schmutzig.
    Ich sag nur "Jana"... :rofl


    Allerdings kenne ich das Verhältnis zwischen Rienchen und harimau nicht...

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  • Das ist richtig, rienchen, und zwar handelt es sich um das Kalenderblatt für den Monat April. Darauf ist zu sehen, wie ich nach dem Diebstahl einer Dose Bier bei Aldi spärlich bekleidet in meinem Taxi vor der Polizei (ebenfalls spärlich bekleidet) fliehe. Eigentlich auch eine schöne Kurzgeschichte, aber wie baue ich die Zucchini sinnvoll ein? :gruebel :gruebel

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    Andreas Altmann

  • Auch schön, Arter. Aber wo bleibt die Schwulstigkeit?
    Vielleicht ein besonders romantischer Zwischenfall mit Krankenschwester (und Bettpfanne)...

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