Schreibwettbewerb November/Dezember 2014 - Thema: "Therapie"

  • Thema November 2014:


    "Therapie"


    Vom 01. bis 30. November 2014 - 18:00 Uhr könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb November 2014 zu o.g. Thema per Email an schreibwettbewerb@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym am 1. Dezember eingestellt. Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!



    Achtung: Achtet bitte auf die Änderungen! Annahmeschluß ist ab sofort immer am Monatsletzten um 18:00 Uhr und die e-mail Adresse hat sich wie folgt geändert - schreibwettbewerb@buechereule.de

  • von Lese-rina



    Der Tag begann vielversprechend. Hans-Jürgen stand mit dem richtigen Fuß und zeitig genug auf, um in aller Ruhe seine Yoga-Übungen zu machen. Die Vögel zwischerten vor dem geöffneten Fenster, der Morgendunst löste sich langsam in den ersten Sonnenstrahlen auf und es versprach, ein perfekter Tag zu werden.


    „Guten Morgen Schatz“ begrüßte ihn seine gutgelaunte Frau und häufte reichlich Rührei auf seinen Teller. Auch Tochter Kerstin, die morgenmufflig ihre Sachen zusammenpackte, konnte seine gute Laune nicht trüben. „Bitte Mami, fahr mich, sonst komm ich schon wieder zu spät“, bettelte Kerstin und Hans-Jürgen war froh, als die beiden mit den Worten „Viel Erfolg bei deinem Meeting!“ abgezogen waren. Doch das Klingeln des Telefons störte ihn beim Zeitunglesen. „Ja Mama, wir kümmern uns natürlich morgen um Fiffi“, versprach er geduldig, nur um einige Sekunden entsetzt nachzufragen „Heute? Fiffi kommt heute? Aber ich habe ein wichtiges Geschäftstreffen und Monika …“ Doch den Redeschwall seiner Mutter hatte er wenig entgegenzusetzen und so blieb ihm nur, die baldige Abholung Fiffis zu versprechen. Sofort wählte er die Handynummer seiner Frau, doch Beethovens 9. Sinfonie erklang aus dem Wohnzimmer. Mittlerweile ziemlich genervt versuchte Hans-Jürgen die Handynummer seiner Tochter. „The person, you are calling is …“ „Verdammte Technik!“ Hans-Jürgen überlegte fieberhaft, wem er Fiffi sonst anvertrauen konnte. Letztlich blieb nur Frau Schöneberger, seine Sekretärin, die sich hoffentlich nochmal erbarmte. Eilig packte Hans-Jürgen seine Unterlagen ein und stürmte nach einem wehmütigen Blick auf das mittlerweile kalte Rührei in die Garage und ins Auto. Schnell die Fernbedienung zum Öffnen des Garagentors gedrückt, doch selbst nach mehrmaligen, immer hektischer werdenden Versuchen rührte es sich keinen Millimeter. Zur Fehlersuche hatte Hans-Jürgen keine Zeit und die Handgriffe zum manuellen Entriegeln fielen ihm spontan nicht ein. Blieb nur zu Fuß Fiffi abzuholen und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln weiterzufahren.


    Es kam, wie es kommen musste. Natürlich fuhr ihm die U-Bahn vor der Nase weg, Fiffi setzte sein Häufchen mitten auf den Bürgersteig und Hans-Jürgen musste mangels Hundetüte sein frisches Taschentuch unter den keifenden Worten einer Alten zweckentfremden. Beschimpfungen und sogar einige Knüffe gab es auch, als Fiffi einen anderen Hund ansprang. Endlich am Bürogebäude angekommen kam der Aufzug nicht und so torkelte Hans-Jürgen völlig fertig mit Fiffi im Arm über eine halbe Stunde zu spät in sein Vorzimmer. Frau Schöneberger begrüßte ihn völlig aufgelöst, doch erst ihre Frage nach seinem Handy erinnerte ihn an die vergessene Tasche im Auto. Doch das konnte Hans-Jürgen nun auch nicht mehr erschüttern. Die überraschte Sekretärin bekam den Hund in die Arme gedrückt und Hans-Jürgen schritt hocherhobenen Hauptes in sein Büro. Nach einer – zumindest seinerseits – freundlichen Begrüßung ging er zum Fenster und riss es mit einem kräftigen Ruck auf. Er holte tief Luft … und stieß einen langen und durchdringenden Schrei aus. Anschließend drehte er sich lächelnd zu seinen sprachlosen Vorgesetzten um „Aggressionsabbau durch Schreien“ erklärte er lächelnd „wollen sie nicht auch?“ Wollten sie nicht, doch als sich während seines trotz vergessener Unterlagen gelungenen Vortrags die säuerlichen Mienen langsam aufhellten, wusste er: der Tag ist gerettet.

  • von Johanna



    Verdammt nochmal, er konnte es doch nicht ändern. Er hatte eine Scheißangst vor diesen Monstern auf vier Beinen.
    Als Kind hatte er da noch ein gewisses Vertrauen, wollte immer auf die Hunde zulaufen und sie streicheln.
    Meist zerrt ihn seine Mutter sofort zurück und blaffte ihn an, diese dreckigen Hunde nicht einfach anzufassen.
    Die könnten Flöhe haben, sabbern und beißen.


    Den Rest gab ihm dann die Töle der alten Westermann, einer Nachbarin, die überall unbeliebt war.
    Dieser Riesenboxer, natürlich nicht angeleint, kam auf ihn zugerannt, schmiss ihn einfach um und stand breitbeinig über ihm und erfreute sich daran, dass er wie am Spieß schrie, während der Sabber auf ihn tropfte.


    Seitdem machte er einen großen Bogen um alles, was auch nur im entferntesten wie ein Hund aussah.
    Wechselte die Straßenseite, wenn er einen Hund auch nur erahnte.
    Am schlimmsten waren die Hunde, die kein Herrchen oder Frauchen erkennen lassen konnten. Da überkam ihn dann die nackte Panik.


    Den Satz, „der tut nix, der will nur spielen“, hasste er wie die Pest und war oft kurz davor, den diesen Satz aussprechenden Besitzern eine reinzuhauen.
    Ging natürlich nicht, da das Monster daneben stand und ihn garantiert zerfleischt hätte.


    Mittlerweile war er erwachsen, hatte geheiratet.
    Nur an seiner Angst vor Hunden, da hatte sich nichts, rein gar nichts geändert.
    Er war nur erfinderischer geworden, um das Unheil zu umgehen.
    Die meisten seiner Freunde wußten um seine Angst, hatten resigniert ihm klarzumachen, dass er sicher sei und der Hund ihn nicht als Nachtmahl mißbrauchen würde und sperrten den Hund in ein anderes Zimmer während seines Besuches.


    Seine Frau nervte ihn schon lange damit, dass er doch mal etwas tun solle. Er gäbe da doch Möglichkeiten die Angst loszuwerden. Fachleute, die ihm helfen könnten.
    Ihr Bruder sei doch Therapeut, der sich mit Angststörungen auskennt.
    Aber das verweigerte er. Er ging doch nicht zu einen Seelenklemper, er war doch nicht verrückt.


    Dann kam der Sonntag, als er mit seiner Frau in ihr Lieblingsrestaurant einkehrte, sie anschließend nach Hause durch den warmen Sommerabend schlenderten.


    Als sie durch den kleinen Park kamen, kam urplötzlich wie aus dem nichts, ein Hund geschossen, stürzte sich auf seine Frau, sprang wie verrückt an ihr hoch, schmiss sie um.


    Er stand dort, bewegungsunfähig, wie paralysiert, spürte die Panik in ihm hochkriechen, hatte eine derartige Angst um sie, wie noch nie zuvor.
    Wie aus der Entfernung sah er sich selbst, wie er mit einen Wutgebrüll auf das sich windende Knäuel zwischen seiner Frau und dieser fremdem Bestie zulief, wütend brüllte, den Hund am Halsband zerrte, ihn schließlich von seiner Frau losbekam und ihn anschrie, er solle verschwinden.


    Ziemlich zerzaust aber unverletzt stand seine Frau auf, fiel ihm um den Hals und nannte ihn ihren Retter.
    Seine Panik war verflogen. Er war nur erleichtert, dass ihr nichts passiert war und er sie heil ihn seinen Armen hielt.


    Das zwinkern seiner Frau, zu einem Mann hinter einer kleinen Hecke der ihr verblüffend ähnlich sah und einen Hund an der Leine hielt, sah er nicht.

  • von Inkslinger



    Der Winterurlaub stand vor der Tür und obwohl Marek erst sechs Jahre alt war, wusste er schon, wie das so ablief.


    Dieses Jahr war er besonders aufgeregt, denn sein neuer Bruder Felix kam zum ersten Mal mit. Er war noch ein Baby und Marek wusste nicht, was er die lange Fahrt über mit dem Hosenpupser anfangen sollte, aber wenigstens saß er nicht mehr ganz alleine auf der Rückbank. Endlich hatte auch er einen Reisepartner, so wie der Papa die Mama.


    Am Abend vorher konnte er nicht einschlafen. Er überlegte sich alle möglichen Spiele, die er dem kleinen Felix zeigen wollte. Schließlich war er ja der coole große Bruder.


    Während der Fahrt musste er feststellen, dass Felix in seiner Vorstellung viel besser mitgemacht hatte. In Wirklichkeit schlief er viel zu viel und wenn er doch mal wach war hielt er sich nicht an die Regeln oder sabberte Mareks Kekse an.



    Opa Eggersdorf wohnte mit vielen Tieren auf einem alten Bauernhof. Die Schweine fand Marek ganz besonders toll. Sie durften den ganzen Tag im Matsch spielen und so laut sein wie sie wollten. Außerdem waren sie irgendwie mit ihm verwandt. Mama sagte ja immer „Mein kleines Schweinchen“ zu ihm.


    Das einzige, was er am Bauernhof nicht mochte, war der Hackklotz neben dem Haus. Opa erzählte immer, dass dort frechen Jungs die Hände abgehackt wurden. Mama sagte natürlich, dass dort nur Feuerholz kleingemacht wurde, aber vielleicht war sie ja falsch informiert.


    Am nächsten Tag ging er früh zu seinen tierischen Brüdern und beobachtete sie gebannt. Nach einer Weile kam Mama mit Felix auf den Arm herein und platzierte ihn neben Marek.
    „Pass mal kurz auf deinen Bruder auf.“ Er brummelte eine Antwort und sie ging.


    Felix spielte mit einem blauen LKW, den er gegen die Stallmauer knallte und sich diebisch über jedes RUMMS freute, das er fabrizierte. Plötzlich verstummte das RUMMS. Marek drehte sich alarmiert um. Der Windelheld war zum Glück noch da, aber sein Spielzeug nicht. Anstatt gegen die Wand zu prallen war es beim letzten Mal in einem freiliegenden Rohr verschwunden.


    Marek überlegte nicht lange, kniete sich neben das Rohr und griff hinein. Fest entschlossen, der Spielzeugretter für seinen Baby-Bruder zu sein. Und tatsächlich – er bekam den LKW zu fassen! Doch jetzt steckte seine Hand fest.


    Panik stieg in ihm auf und platze als lautes „Hilfe, Mami!“ heraus.
    Wenig später kam Opa um die Ecke. Er ging zu dem Pechvogel rüber und checkte die Lage. Dann nickte er vielsagend und verschwand wieder. Als der Alte zurückkam sah Marek in seiner Hand das Hackebeil aus dem Klotz neben dem Haus.


    „Bitte hau mir nicht die Hand ab, Opa!“
    „Sei still!“, polterte Opa. „Zappel nicht, sonst treffe ich noch deinen unnützen Schädel!“
    Marek atmete tief ein und schloss die Augen.
    Als er sie wieder öffnete war er befreit und seine Hand noch an seinem Arm dran.
    Opa hockte mit einer Flasche Öl neben ihm.
    „Tu das nie wieder, Junge. Sonst muss ich die Axt vielleicht doch noch benutzen.“

  • von Suzann



    „Bist du da?“, rief Andrea in die Wohnung, als sie die Türe ihrer Freundin mit dem Schüsselduplikat für Notfälle öffnete. Franziska hatte sich vor über einer Woche bei ihrer Arbeitsstelle krank gemeldet und seitdem auf Anrufe und ihre Wohnungsklingel nicht reagiert.


    Die Luft in dem kleinen Appartement war atemberaubend schlecht. „Sag mal, lebt Charlie noch oder hast du seine Leiche unter dem Bett versteckt?“, plapperte Andrea nervös, während sie durch den Flur ging und über am Boden verstreute Dinge stieg. Ihr Blick schweifte über das Durcheinander und ihr Magen fühlte sich an, als würde sein Inhalt langsam versteinern. Hier sah es echt übel aus. An der geöffneten Schlafzimmertüre blieb sie stehen und spähte in das verdunkelte Zimmer. Sie hörte einen dumpfen Plumps und dann schälte sich ein rot getigerter Kater aus dem Zwielicht. Er strich um ihre Beine und schnurrte was das Zeug hielt.


    „Ob Katzen telepathische Kräfte hatten?“, überlegte Andrea, denn sie spürte den Hunger des Katers so deutlich, dass sie auf der Stelle kehrt machte und auf die Küchenzeile zuhielt. Als Charlies leere Näpfe aufgefüllt waren, atmete sie tief ein und lief ans Schlafzimmerfenster. Dabei stolperte sie über irgendetwas auf dem Boden und wäre beinahe gefallen. Ein paar schnelle Rucke und Licht und Luft fluteten das Zimmer. Langsam drehte sie sich zum Bett um.


    Erleichterung überkam sie wie ein Schwall kaltes Wasser, als sie sah, dass Franziska zur Abwehr der plötzlichen Helligkeit einen Arm vor ihre Augen gehoben hatte. Andrea setzte sich auf das zerwühlte Bett. Erst jetzt gestand sie sich ein, dass sie das Schlimmste befürchtet hatte. „Zissi, was machst du nur?“, flüsterte sie sanft. „Geht es dir so schlecht? Warum hast du nicht angerufen?“


    Andrea war aufgefallen, dass seit ein paar Wochen mit Franziska etwas nicht stimmte. Sie hatte Verabredungen kurzfristig abgesagt und sich rar gemacht. Sie hatte das auf das trübe Novemberwetter und den Arbeitsstress geschoben. Solche Phasen hatte Franziska öfter, üblicherweise war sie nach einer gewissen Zeit aber wieder ganz die Alte. Was hier gerade ablief, übertraf jedoch alles, was Andrea bisher von ihr gewohnt war. Der Anblick ihrer Freundin und deren Wohnung machte ihr Angst. Als hätte sie diesen Gedanken aufgeschnappt, hörte sie Franziskas heisere Stimme murmeln: „Lass mich in Ruhe.“


    Lange saß Andrea auf dem Bett und streichelte Franziskas Arm und Schulter. In ihrem Kopf jagten sich widersprüchliche Gedanken. Schließlich fasste sie einen Entschluss. „Du musst dir von einem Fachmann helfen lassen, Zissi. Alleine schaffst du das nicht mehr. Ich mache uns jetzt erst mal was zu essen und dann besprechen wir, wie es weitergehen soll. Ich werde dich nicht eher in Ruhe lassen, bis es dir wieder besser geht.“


    Monate später beobachte Andrea unauffällig, wie Franziska im Vorbereitungszelt für den Stadtlauf mit einem anderen Läufer flirtete. Während sie die bunten Schnürsenkel ihrer Laufschuhe band, lies sie den Blick über die Leute schweifen und fragte sich, wie viele wohl so ein Fassadenleben führten, wie es Franzsika getan hatte, Depressionen versteckten und der Welt vorgaukelten, alles wäre in bester Ordnung.

  • von crycorner



    Dr. Marxen unterdrückt sich ein Gähnen und tut so, als würde er wichtige Notizen machen. Seinen Gegenüber hatte er bereits in der ersten Sitzung kategorisiert. Herr Berndt war eine Kuh. Und Kühe wollen gemolken werden, weil sonst der Euter platzt. So zumindest seine nicht zoologisch verifizierte Meinung. Berndt, dessen Krankenkasse er nun schon seit 2 Jahren Rechnungen schicken darf, war ein hoffnungsloser Fall. Unter einem Matriarchat aufgewachsen, hat er sich zwangsläufig eine Frau angelacht, die seiner Mutter ein perfektes Abbild ist. Sein Ego liegt am Boden und will sich am liebsten eingraben. Seine Frau hält die Schippe in der Hand. Früher hätte Dr. Marxen darauf hingearbeitet, jemandem wie Herrn Berndt Selbstbewusstsein zu verschaffen. So hätte der Patient die Möglichkeit, sich von der Mutter loszusagen und bestenfalls eine neue Basis in der Beziehung zu seiner Frau zu finden. Oder sie zu verlassen. Leider musste Dr. Marxen feststellen, dass einige Patienten sich dadurch noch innerhalb der bewilligten Kurzzeittherapie für geheilt hielten. Aber auch jemand wie Dr. Marxen muss Rechnungen zahlen. Also ließ sein Enthusiasmus nach. Mittlerweile sitzt er 6-8 Stunden am Tag in seinem kleinen Räumchen mit wechselnden Patienten, tut so, als würde er zuhören, kritzelt was auf seinen Block und langweilt sich zu Tode.


    Seine Gedanken schweifen ab. Das funktioniert ganz gut, weil er gelernt hat, auf die Sprachmelodie zu achten. Patienten neigen im Allgemeinen dazu, zu reden, nicht zu fragen. Aber wenn dann eine Frage kommt, stellt Dr. Marxen das Anhand der Sprachmelodie fest und kann geistesgegenwärtig genug reagieren. Meistens mit der Standardantwort: „Wie würde Ihr inneres Kind diese Frage beantworten?“. Kein Zweifel, Dr. Marxen war zutiefst gelangweilt und daher auch frustriert. Die Frustration nimmt Überhand und beeinflusst sein Leben außerhalb dieses muffigen Therapieraumes überaus negativ. Fehlender innerer Antrieb. Selbstdiagnose: Depression. Berufsbedingt. Also eher ein Burn Out. Beziehungsweise ein Bore Out.


    Könnte er sich selbst helfen? Sich selbst sein Leid klagen? Darauf antworten? Analysieren? Therapieren? Vielleicht. Allein es fehlt ihm der Antrieb. Denn sein eigener Therapeut ist ja leider auch an Depressionen erkrankt. Und wenn er sich selbst einfach einen Selektiven Serotoninhemmer verschrieb? Nein, das würde seine Aufmerksamkeit gegenüber seinen Patienten komplett aushebeln und er wäre noch nicht einmal in der Lage, sich verändernde Sprachmelodien zu erkennen. Er wäre praktisch berufsunfähig.


    Daher entschied er sich, selbst einen Therapeuten zu konsultieren. Die Entscheidung traf er bereits vor einigen Monaten. Gleich nach der Sitzung mit diesem armseligen Herrn Berndt, würde er sich auf den Weg machen. Zu der ersten Sitzung seiner eigenen Therapie.


    In diesem Moment ändert sich die Sprachmelodie seines Patienten: „…oder was meinen Sie?“. Dr. Marxen antwortet reflexartig: „Was würde denn Ihr inneres Kind dazu meinen?“. Herr Berndt schaut ihn irritiert an und fragt: „Könnte es denn eine Meinung zur generellen Terminverschiebung unserer Treffen haben?“


    Später am Tag ist es dann soweit. Dr. Marxen sitzt Dr. Herrmann gegenüber und schildert fachlich korrekt seine Eigendiagnose. Dr. Herrmann unterdrückt sich ein Gähnen und tut so, als würde er sich wichtige Notizen machen. „Aha, eine Kuh“, denkt Herr Dr. Herrmann.

  • von Holle



    Ich werde wach und fühle mich so schlecht wie nie. Es klopft im Kopf. Die Gedanken schleichen nur zäh, wie sockenlose Füße in Gummistiefeln bei einem Zwangsspaziergang im Moor. Meine verschwommene Sicht zerfällt in grafische Pixel, die einem Kunstwerk ähneln würden, wenn ich nur etwas erkennen könnte. Dröhnen tobt in den Ohren, und ein widerlicher Geschmack erfüllt die Mundhöhle. Schlucken! Wäre Zähneputzen eine Maßnahme? Aber gerade in diesem Moment versetzt Schwindel das Sichtfeld in Bewegung. Hin und her. Wie eine Schiffsschaukel.


    Erschreckend schnell dehnt sich Unbehagen in den Brustkorb aus, und das Herz erhöht die Schlaggeschwindigkeit. Der Magen krampft; Übelkeit erhebt ihr hässliches Haupt. Blase und Darm drücken; dazu vibriert der Körper, als ob er auseinanderfallen wolle. Schweiß rinnt über das Gesicht in Richtung Schlüsselbein. Nur nicht an Essen denken. Der Versuch, mir etwas Schönes zur Verbesserung des Befindens vorzustellen, führt zu nichts. In diesem Zustand gibt es wenig Impulskontrolle.

    Ich taumele an den Computer und suche virtuelle medizinische Hilfe. Mit dem Einfinger-Suchsystem gebe ich die Symptome ein. Der Befehl „Senden!“ überführt die Eigenanamnese auf die gefundene Online-Doc-Seite. Hitzewellen fluten meinen Körper. Kann sich dieses Befinden etwa noch verschlimmern?


    Mein eMail-Programm informiert mit einem „Ding!“ über eingetroffene Post. Das ging aber schnell! Ein kleiner Anteil Hoffnung bemüht sich tapfer, den Weg durch das Elend zu finden. Ihm nacheifernd versuche ich, mich auf die Nachricht zu konzentrieren.



    Himmelschocksbimbamjoah! Das Unwohlsein überwältigt mich. Ich stürze ins Badezimmer, reiße die Kloschüssel hoch und verliere meinen Mageninhalt unter erheblichen antiperistaltischen Zuckungen. Ruhig atmen. Augen schließen. Igitt! Und noch einmal. Wann kann ich mich in meinem kuscheligen Bett endlich wieder in Ruhe einigeln?


    In die dumpfe Isolation meines inneren Chaos dringt ein rhythmisches Wummern, das dem Hammer im Kopf Konkurrenz macht. Gefangen im unbeugsamen Würgegriff meines Zustandes erfordert das Verstehen eine erhebliche Anstrengung meinerseits. Aber endlich klappt es doch. Da. Klopft. Jemand. An. Die. Badezimmertür. Ein Stöhnen ringt sich über meine ausgetrockneten Lippen.


    „Na, Suffnase? Wieder unter den Lebenden?“ „Lass mich in Ruhe! Ich sterbe!“ Gelächter tönt aus der Küche. „Wieso sind alle schon wieder so fit?“ „Überlegener Metabolismus vielleicht? Trink, was ich dir ans Bett gestellt habe!“ Ominöse Zaubertränke… Meine Gedanken fokussieren sich schwerfällig auf frei verkäufliche Schmerzkiller mit Wasser, die könnten palliativ helfen. Oder eher kausal? Egal, Hauptsache, es hilft.

  • von Rumpelstilzchen



    „Hexe, dreckiges Flittchen“, Heide Krügers Stimme überschlug sich und in einer Anwandlung rasenden Zorns hätte sie beinahe das nagelneue iPhone auf den Boden geknallt. „Frau Krüger, ich kann nicht mit Ihnen sprechen.“, äffte sie die Stimme ihrer Gesprächspartnerin nach.


    In ihrer ohnmächtigen Wut fegte sie den Dahlienstrauß vom Wohnzimmertisch, trampelte auf den Blüten herum und warf sich heulend aufs Sofa.


    Alles war gut gewesen, bis dieses Weib aufgetaucht war, diese männerbetörende Sirene. Ein mustergültiger Ehemann war er gewesen, ihr Dieter. Fleißig, häuslich, hilfsbereit. Immer freundlich. Natürlich hatte es eine Weile gedauert, bis sie sich aneinander gewöhnt hatten. Am Beginn ihrer Ehe hatte es oft Streit gegeben. Mit seinen Freunden hatte er sich treffen wollen, zum Fußball gehen. Das schwerverdiente Geld in die Kneipe tragen. Es war nicht leicht gewesen, ihn davon abzubringen. Aber die Mühe hatte sich gelohnt. Nach einer Weile hatten die nichtsnutzigen Freunde nicht mehr angerufen. Ihr Dieter war bei ihr zuhause geblieben. Hatte sie zum Literaturkreis begleitet, Gefallen an der Gartenarbeit gefunden und begonnen, gute Bücher zu lesen. Sie hätte sich keinen besseren Ehemann wünschen können.


    Gut, in letzter Zeit war er etwas still gewesen. Etwas schien ihn zu beschäftigen. Aber ein Urlaub im vertrauten Hotel im Schwarzwald hätte ihn sicher wieder aufgemuntert.


    Wie war er nur an dieses Weib, diese Frau Güttler geraten? Ganz langsam hatte er sich verändert, hatte begonnen, mit ihr zu streiten. Wollte alleine aus dem Haus gehen. Und heute - heute hatte er seinen kleinen Koffer gepackt, ihr gesagt, sie nehme ihm die Luft zum Atmen und war gegangen. Hatte sie und ihr gemütliches Zuhause verlassen.


    Natürlich war er zu ihr gegangen. Er hatte es zwar bestritten. Aber ihr konnte er nichts vormachen. Ihr nicht. Aber sie würde kämpfen. Sie würde nicht kampflos zugunsten einer jungen Schlampe zurückstecken. Niemals.


    Entschlossen ging sie ins Bad und wischte die Tränenspuren aus dem Gesicht. Aus der Küche holte sie das Ausbeinmesser. Das passte genau in ihre Handtasche, lag gut in der Hand und war das richtige Werkzeug.


    Die Adresse hatte sie in Dieters Notizbuch gefunden, ganz harmlos unter der von seinem Hausarzt versteckt. Es war nicht weit. Die zehn Minuten zu Fuß heizten ihre Wut nur weiter an.


    Hier war es. Schillerstraße 21. Heide Krüger öffnete ihre Handtasche und umklammerte mit der rechten Hand das Messer. Einen Moment zögerte sie, doch da kam eine kleine, rundliche Gestalt aus der Tür und drehte sich um, um die Tür abzuschließen.


    Sie brauchte nicht lange nachzudenken. Schnell ging sie auf die Frau zu. „Sie sind Frau Güttler?“ Die Person drehte sich um. „Ja, ich bin Helene Güttler, kennen wir uns?“


    Nein. Das konnte nicht sein. Keine attraktive junge Verführerin, eine alte Frau, mindestens sechzig, runzlig und dicklich, lächelte sie fragend an. Heide Krügers Blick fiel auf das Messingschild neben der Tür. Dr. Helene Güttler, Psychologische Psychotherapeutin , stand da geschrieben.


    „Aber, aber…“stotterte sie ungläubig. Das Messer, das sie hinter dem Rücken verborgen hatte, fiel klappernd zu Boden.

  • von arter



    „Wie dürfen wir dich nennen?“


    „Ed.“


    „Möchtest du uns deine Geschichte erzählen, Ed?“


    „Meine Geschichte ist nichts im Vergleich zu denen, die ich hier bereits gehört habe. Ich frage mich, wa-rum ich eigentlich bei euch bin.“


    „Warum bist du denn zu uns gekommen, Ed?“


    „Ich verkaufe Cadillacs, das heißt, ich sitze im Büro und öffne eine Flasche Whisky nach der anderen.“


    „Läuft das Geschäft nicht gut?“


    „Genau gesagt, ich habe noch kein einziges Auto verkauft. Die Firma ist mein Feigenblatt. Wenn mich jemand fragt, was ich den ganzen Tag mache, habe ich wenigstens eine gute Antwort.“


    „Bist du in wirtschaftlichen Schwierigkeiten?“


    „Nein“


    „Das ist also nicht der Grund. Vielleicht möchtest du uns etwas über deine Herkunft erzählen?“


    „Meine Mutter hieß Marion. Sie nahm sich das Leben, genau wie ihr Vater. Ihr Mädchenname ist ‚Moon‘ gewesen. Marion Moon. Ist das nicht ein fantastischer Name?“


    „Das klingt sarkastisch. Hast du deiner Mutter etwas vorzuwerfen?“


    „Sie tat es ein Jahr, bevor das alles begann. Ich schwebte damals in ganz anderen Sphären. Es hat mich schwer getroffen, aber ich bin dann wieder zur Tagesordnung übergegangen.“


    „Ed, du hast die Frage nicht beantwortet.“


    „Ob ich ihr etwas vorwerfe? Nein, wie könnte ich. Ich verstehe sie ja heute mehr als je zuvor. Aber sie war einfach nicht mehr da, als ich sie brauchte.“


    „Was ist passiert?“


    „Wie gesagt. Meine Geschichte ist nichts im Vergleich zu dem, was ich von den anderen bisher gehört habe. Bei einigen von euch geht es um die bloße Existenz. Um wirkliche Dramen, um Gewalt und Unter-drückung. Bei mir handelt es sich eigentlich nur um etwas, das man ‚gekränkte Eitelkeit‘ nennt.“


    „Erzähle uns mehr.“


    „Jeder von euch kennt den Hergang. Darum muss ich es nicht noch einmal wiedergeben. Und wenn ich es täte, wäre ich nicht länger anonym.“


    „Vielleicht findest du einen Weg, uns trotzdem daran teilhaben zu lassen?“


    „Nun gut… ER war der Boss und ich sein Kompagnon. Im Ausgleich dazu sollte ICH vorangehen. Das war der Deal von Anfang an. Darauf habe ich mich eingelassen. Ein paar Minuten, bevor es soweit war, kam von unten der Befehl: ER soll zuerst da raus. ICH als zweiter. Ich war exakt 24 Sekunden zu spät. 24 Se-kunden, die mein Leben ruinierten.“


    „Warum?“


    „Das frage ich mich seit Jahren. Warum lässt man ihn im letzten Moment vor? War das von Anfang an so beabsichtigt gewesen? Warum hat man mich ausgebootet? Warum hat man mir den eigentlichen Plan nicht verraten? Letztendlich war ich nur die Nummer zwei. Ich stehe in den Geschichtsbüchern als der, der folgte. Auch hinterher habe ich daneben gestanden und applaudiert. Ich war nur ein geringer Teil des Ganzen, des großen Schrittes für die Menschheit.“


    „…“ (Schweigen)


    „Meine Mutter war Marion Moon. Meine Schwester nannte mich Buzzer, weil sie „Brother“ nicht ausspre-chen konnte. Und ich komme nicht damit klar, nur die Nummer zwei zu sein. Das ist meine Geschichte. Mehr habe ich nicht zu erzählen.“


    „Ed, nach all dem. Empfindest du für irgendjemanden feindselige Gefühle?“


    „Ja. Der schlimmste Feind bist du selbst.“

  • von Marlowe



    Ernst hatte Geburtstag, er feierte gerne, er liebte Suzie, er verabscheute Überraschungspartys. Vor allem wenn seine Freundin sie organisierte, denn sie bevorzugte leider ihre Freundesclique bei solchen Anlässen.
    Als er nach Hause kam, waren natürlich alle da, die er nicht mochte und riefen laut „Überraschung!“.
    Da half nur ein rasch auf Ex getrunkenes Glas Prosecco, ein zweites gleich hinterher und, um jedes Gespräch zunächst zu vermeiden, der Griff zu einem belegten Brötchen. Während er kaute, musterte er die Gäste. Manfred, der Schnorrersohn des Vermieters mit Frau waren da, aber die waren ja immer da, wenn es was umsonst gab. Dann natürlich Suzies überkandidelte Freundinnen Marlies, Edith und Britta nebst ihrer Wurmfortsetzungen, wie Ernst deren Freunde nannte. Zum Glück war es Donnerstag, sonst wären sicher mehr gekommen, aber die acht reichten ihm auch schon.
    Es war so ziemlich die langweiligste Geburtstagsgesellschaft, die er sich nur vorstellen konnte. Mit anderen Worten, es war stinklangweilig, keine Stimmung kam auf, nur dummes Gequatsche. Alle hatten schon reichlich Alkohol genossen und Ernst animierte sie auch weiter dazu. Er lauerte geradezu auf eine günstige Gelegenheit, mal wieder etwas Provozierendes von sich zu geben.
    Die Gelegenheit kam, als Manfred eine Nachbarin mit dem Wort Schlampe beschrieb.
    Peinliches Schweigen folgte.


    Was für eine Gelegenheit!
    "Wisst Ihr was", sagte Ernst, "ihr müsst alle mal was lockerer werden!" Alle schauten ihn mit großen Augen an.
    "Passt auf", fuhr er fort, "wir üben das jetzt mal. Edith, schau mich an und dann sage mal ganz laut und kräftig das Wort Scheiße!"
    Edith wirkte verstört. "Mach schon", forderte er sie auf.
    Sie zögerte noch, aber alle blickten sie an. "Scheiße", sagte sie laut und wirkte verlegen.
    "Noch mal", sagte Ernst. Und wieder sagte sie laut: "Scheiße!"
    "Jetzt dreimal laut und schnell hintereinander!" "Scheiße, Scheiße, Scheiße", rief sie.
    "Und jetzt alle", verlangte Ernst und die ganze Runde rief laut im Gleichklang:" Scheiße, Scheiße, Scheiße!"
    "Genau", sagte Ernst und sah in die Runde. "Genauso empfinde ich die Party auch, ihr seid Scheiße, die Party ist Scheiße, alles in allem ein Scheisstag!"
    Die Party war damit zu Ende. Als alle weg waren, fragte Suzie vorwurfsvoll: "Sag mal, spinnst Du, was war das denn?"
    "Das, meine Liebe", antwortete er würdevoll, "war eine typische Gruppentherapie mit erfolgreichem Ausgang."