Über das Buch:
Zehnmal besucht Christa Wolf die Sowjetunion, zum ersten Mal 1957 als junge Frau, zuletzt im Oktober 1989. In ihren bisher unveröffentlichten Tagebuchnotizen erleben wir sie als neugierige Touristin, als scharfe Beobachterin der Verhältnisse und als zugewandte Gesprächspartnerin der russischen Freunde.
Über die Autorin:
Die nüchternen Lebensdaten: geboren 18.03.1929 in Landsberg/Warthe, gestorben 01.12.2011 in Berlin. Dazwischen ein Leben in zwei Diktaturen und im wiedervereinigten Deutschland. Überzeugte Sozialistin bis an ihr Lebensende, den Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz konnte und wollte sie nicht aufgeben. Christa Wolf resp. ihr Buch „Was bleibt“ war Auslöser für einen der giftigsten und mit großer Schärfe geführten Literaturstreits der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Herausgegeben wurde das Buch von Gerhard Wolf unter Mitarbeit von Tanja Walenski.
Meine Meinung:
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, insgesamt 267 Seiten. Vorangestellt sind Gedichte von Boris Pasternak und Anna Achmatowa. Nach einer Einführung von Gerhard Wolf folgen die die Reisen betreffenden Dokumente, dann ein Memorial mit Texten, Reden, Briefen. Abgeschlossen wird das Buch mit editorischen Notizen, Quellennachweisen und einem Abbildungsnachweis. Enthalten sind zahlreiche Fotos, die sich auf die jeweiligen Reisen beziehen.
Die jeweiligen Tagebuchnotizen zu den einzelnen Reisen werden mit Erläuterungen von Gerhard Wolf abgeschlossen, zu etlichen Reisen sind weitere dazu passende Texte angeboten, unter anderem ein Interview, das Christa Wolf mit Konstantin Simonow führte.
Dieses Buch hat mich begeistert und enttäuscht. Es hat meine Fragen an Christa Wolf erneuert und intensiviert, es hat die Konturen, die für mich Christa Wolf darstellen und umgeben, geschärft.
Vom 01. bis 23. Juni 1957 hatte Christa Wolf, als Mitarbeiterin des Schriftstellerverbandes einer Delegation angehörend, Gelegenheit zu einer ersten Reise unter anderem nach Moskau. Diese Stadt hat sie begeistert, hat sie Dinge sehen lassen, die sie auch für ihr Volk wünschte: „Das Volk ist hier wirklich Volk“ heißt es da Seite 16, wenn auch für sie bedauerlicherweise der „Geschäftsgeist ... immer noch nicht ausgestorben“ sei (Seite 17), da meint sie ihre Gesellschaft in einem besseren Licht sehen zu können, da will sie, so mein Eindruck, vielleicht bewundern, sieht sie in Vielem das Gute, obwohl sie auch da schon den Blick vor dem nicht ganz so Guten nicht verschließen kann. Die Notizen zu dieser ersten Reise umfassen nur vier Beiträge unterschiedlicher Länge, manchmal klingen sie wie einem sozialistischen Lehrbuch (so es ein solches gibt) entnommen.
Schon bei der zweiten Reise, die vom 17. bis 29. Mai 1959 ist der Blick deutlich kritischer, moniert sie beispielsweise fehlende eigene Meinung bzw. den Mut dazu unter den Schriftstellern, zumal den russischen, ebenso wie die Wohnungssituation in Moskau. Christa Wolf wacher Blick wird in in den folgenden Reisen schärfer und schärfer, so meine ich es wahrgenommen zu haben, sie verliert – etwas oder viel mehr? - von ihrer Gläubigkeit an das, was sie als sozialistische Wirklichkeit wahrnehmen musste, da schimmert auch Bitterkeit durch. Exemplarisch ist für mich die vierte Reise vom 10. Oktober bis 12. November 1966; in diesen Notizen schreibt sie schonungslos und unmaskiert, mit einer Radikalität, die mich um sie hätte fürchten lassen, wären diese Notizen in welcher Form auch immer erschienen, als es den sozialistischen Block noch gab. Und wie ein Momument stehen da diese zwei Sätze, beide auf Seite 84, von denen ich mir zwar vorstellen konnte, dass Christa Wolf sie gedacht hat, aber ich hätte nicht erwartet, dass sie sie aussprechen würde: Sie erwartet nicht, dass „eine geistige Erneuerung des Marxismus … aus der SU wahrscheinlich“ kommen könne, und „“Der neue Mensch“ existiert gar nicht – das war die raffinierteste und vielleicht den Täuschern selbst unbewußteste von allen Täuschungen.“
Bedrückend ist manches, was man zu lesen bekommt in den Tagebuchnotizen. Bei der neunten Reise beispielsweise vom 05. bis 25. Juni 1987, wenn es um die Auswirkungen der Perestroika in Russland geht. Da hat man zwar den Mut, über „70jährige Unterdrückung“ zu reden, erklärt die „bisherige Form von Sozialismus“ für bankrott, muss man aber auch viele negative Begleiterscheinungen berichten, die Lethargie, das Sicheinigeln, Perspektivlosigkeit, Antisemitismus und anderes mehr.
Und die zehnte Reise, die vom 9. bis 14. Oktober 1989? Da reflektiert man die Situation daheim in der DDR und in Russland, da liest man etwas von Demonstrationen in Leipzig und erhoffter Entspannung, von Mangel und Wende und dann dieser Satz, den sie einem ungarischen Botschafter sagt: „Aber ihr Ungarn habt schuld an unseren Problemen, indem ihr die Grenze geöffnet habt“, und dann schluckt man und fragt, was hat sie eigentlich wahrgenommen all die Jahre?
Begeistert hat mich das Buch aus zwei Gründen: Einmal habe ich die Tagebuchnotizen als sehr intensive Texte wahrgenommen, sie widerspiegeln eine Entwicklung, die man auch in den beiden anderen Tagebuchbänden („Ein Tag im Jahr“ und „Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert“) feststellen kann, sie dokumentieren auf der einen Seite immer wieder aufschimmernde Hoffnung, aber andererseis sehr viel mehr, wie sich Träume bestenfalls in nichts, manchmal auch in Alpträume verwandeln. Zum anderen kommt die Kunst des Gerhard Wolf hinzu, der die Texte seiner Frau mit denen anderer Schriftsteller wie Konstantin Simonow, Efim Etkind oder Lew Kopelew korrespondieren lässt, auch mit ihren eigenen, zum Beispiel aus ihrem letzten Roman „Stadt der Engel“, Reden oder Briefen. Von besonderem Reiz war für mich die Gegenüberstellung von Wolfs Texten mit denen einer anderen großartigen Tagebuchschreiberin, nämlich Brigitte Reimann, die dritte Reise betreffend, oder mit denen von Max Frisch, die fünfte Reise betreffend. Die Begeisterungsfähigkeit und große Emotionalität einer Brigitte Reimann konstrastiert auf ganz eigene Art mit der Nüchternheit einer Christa Wolf. Max Frischs scharfer Blick ist dem ihren ebenbürtig; die Gegenüberstellung dieser beiden Aufzeichnungen klingen fast wie ein Duett, wenn auch nicht immer vollendet harmonisch.
Enttäuscht war ich von der geringen Anzahl der Tagebuchnotizen. Es sind doch mehrere Reisen, zu denen es nur einen Eintrag gibt. Das Gefühl, dass Christa Wolf – vielleicht auch aus Enttäuschung? - einiges nicht notiert hat, wollte mich nicht verlassen. Insgesamt aber überwiegt für mich der positive Eindruck bei weitem.
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