Beste britische Krimi-Tradition
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Ich muss sagen, dass sich Anthony Horowitz mit diesem Buch ein wenig selber übertroffen hat. Schon das "Geheimnis des weißen Bandes" fand ich atmosphärisch dicht und gut geschrieben; aber dieser Folgeband geht noch darüber hinaus. Horowitz hat hier ein Spiegelkabinett der detektivischen Irrungen erschaffen, das seinesgleichen sucht. Die Schreibweise von Conan Doyle wird aufs Beste weitergeführt, und mit Anklängen an Agatha Christie und Edgar Wallace verbunden, dass es nur so kracht.
Wenn man die genannten Autoren, also Christie und Wallace, kennt, muss man im Nachhinein ein wenig schmunzeln. Horowitz hat sich einen Knalleffekt für den Schluss des Buches einfallen lassen, der an die britische Schreibtradition dieser beiden Autoren anknüpft.
Typisch Wallace sind viele Elemente dieses Buches - die nebligen Straßen, die düsteren Schauplätze, zwielichtige Butler, Giftpfeile, die aus dem Dunklen kommen, Gangsterbanden mit stets wechselnden Allianzen, blinde Autoritäten, diplomatische Verwicklungen - und Frauen, die höchstens in Nebenrollen glänzen, nämlich als leichtes Mädchen oder treuherzige Ehefrau. Auch hier gilt: sehr gut transponiert und weitergeführt!
Auch der Fall an sich hat mich überzeugt. Die Londoner Unterwelt ist in Aufruhr: ein berüchtigter amerikanischer Gangster soll sich auf den Kontinent begeben haben, um die Macht an sich zu reißen. Die Verbrechen und brutalen Methoden nehmen zu, und niemand weiß, wer dahinter steckt. Gleichzeitig scheinen zwei bekannte Geistesgrößen dramatisch ums Leben gekommen zu sein: Sherlock Holmes und Professor Moriarty... Ein amerikanischer Detektiv, Frederick Chase, und ein englischer Inspektor, Athelney Jones, machen sich gemeinsam daran, von den Reichenbachfällen aus die Spuren zu verfolgen, um das Böse aus der Welt zu schaffen.
Hier verbeugt sich Horowitz vor Conan Doyle: der Plot ist wirklich sehr klassisch, viele Szenen hätten vom großen Meister selbst geschrieben worden sein können. Chase fungiert in diesem Buch als Ich-Erzähler à la Watson, und Jones gibt den Sherlock. Man folgt Hinweisen, und kommt zu überraschenden Schlüssen. Jones ist ein großer Fan von Holmes, und hat von ihm gelernt. Er schließt unglaubliche Details aus den merkwürdigsten Einzelheiten, und Chase folgt ihm getreulich. Immer wieder kommt es zu unerwarteten Wendungen, zu tumultartigen Szenen, und viele Kapitel enden mit "Cliffhangern". Es ist sicherlich keine haarsträubende Spannung, aber der Bogen wird kontinuierlich gespannt, bis hin zum doch dramatischen Showdown. Das Ende verbleibt übrigens in einigen Punkten angenehm offen...!
Als sehr nett habe ich auch empfunden, dass Horowitz sich auf zahlreiche bekannte Fälle von Sherlock Holmes bezieht, und diese immer wieder erwähnt, wie "Das Zeichen der Vier", den "Hund von Baskerville", oder den "Club der Rothaarigen". Für einen Holmes-Fan ist es eine wahre Freude, diese kleine Schnitzeljagd zu verfolgen!
Hübsch auch die Idee, in die Handlung technische Neuerungen einzuflechten, die um 1890 herum gerade erst aufkamen, und als "neu" bestaunt werden. Wie Straßenbahnen, Kühlräume, Telegrafenämter. Ich musste lachen, als über die Zukunft der Kommunikation spekuliert wurde! Ein wenig seltsam erscheint mir nur, dass ausgerechnet einer der Haupttäter Vegetarier ist, und einen seitenlangen Vortrag über das Leiden der Tiere hält... die Argumente kennt man heute zwar, aber damals...? Nun ja.
Insgesamt bin ich wirklich sehr begeistert, und kann das Buch uneingeschränkt empfehlen. Vielleicht nur mit der Einschränkung, dass eher solche Leser Freude daran haben werden, die sich in der britischen Krimi-Tradition ein wenig auskennen. Sonst entgehen einem doch viele Feinheiten.