'Nemesis' - Kapitel 1

  • Ich verstehe, was du meinst. Ich finde allerdings, dass diese freie Entscheidung sich in diesem Hadern mit "Gott und der Welt" zu verlieren und so unfrei zu sein, nicht ganz so selbst gewählt ist, wie sie zunächst scheint. Ihm wird vieles davon anerzogen, sozusagen in die Wiege gelegt durch den Tod seiner Mutter bei seiner Geburt, die Art und Weise, wie vor allem der Großvater für ihn zum Vorbild wurde und sein Vater eben nicht. Dann die Großmutter, die immer noch trauert. Dieses Nacheifern die Ideale des Großvaters zu erfüllen, bringen ihn in dieser Situation an seine Grenzen. Und auch ist zutiefst menschlich. Er hinterfragt zwar auf den ersten Blick den Gott, in dessen Glauben er erzogen wurde, auf den zweiten Blick wohl doch eher sich selbst.
    Es gibt Menschen, die wachsen in solchen Situationen und können sich tatsächlich "befreien", andere verlieren sich in diesem Hadern und es gerät zum Teufelskreis. Ich denke Bucky gehört zu letzteren Kategorie.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Nemesis habe ich vor einigen Jahren nur als Hörbuch gehört, in der Buchfassung will ich es noch einmal genau betrachten.


    Wenn ich mir überlege, mit welcher Konzentration ich das Buch gelesen habe: Ein Hörbuch stelle ich mir gerade bei diesem Roman schwierig vor. Wie geht/ging es Dir damit?


    Zitat

    Ungewöhnlich, wie viele verschiedene Namen der Protagonist hat.
    Eugene, Ace, Bucky und Mr.Cantor. Diese Namensvielfalt zeigt ihn aus unterschiedlichen Sichten in verschiedenen Zeiten.


    Das ist wohl wahr. Viele Namen, viele Beobachter. Und doch hatte ich immer den Eindruck, wenn sie sich austauschen würden, wäre jedem von ihnen klar, über wen sie sprechen. Bucky ging ziemlich geradlinig seinen Weg (bis auf sein Augenproblem, das für den einen oder anderen Stolperstein sorgte).

  • Zitat

    Original von Lipperin


    Wenn ich mir überlege, mit welcher Konzentration ich das Buch gelesen habe: Ein Hörbuch stelle ich mir gerade bei diesem Roman schwierig vor. Wie geht/ging es Dir damit?


    Na, ich bin total gescheitert und habe inzwischen schon abgebrochen! :-(

  • Zitat

    Original von Saiya
    Ich verstehe, was du meinst. Ich finde allerdings, dass diese freie Entscheidung sich in diesem Hadern mit "Gott und der Welt" zu verlieren und so unfrei zu sein, nicht ganz so selbst gewählt ist, wie sie zunächst scheint. Ihm wird vieles davon anerzogen, sozusagen in die Wiege gelegt durch den Tod seiner Mutter bei seiner Geburt, die Art und Weise, wie vor allem der Großvater für ihn zum Vorbild wurde und sein Vater eben nicht. Dann die Großmutter, die immer noch trauert. Dieses Nacheifern die Ideale des Großvaters zu erfüllen, bringen ihn in dieser Situation an seine Grenzen. Und auch ist zutiefst menschlich. Er hinterfragt zwar auf den ersten Blick den Gott, in dessen Glauben er erzogen wurde, auf den zweiten Blick wohl doch eher sich selbst.
    Es gibt Menschen, die wachsen in solchen Situationen und können sich tatsächlich "befreien", andere verlieren sich in diesem Hadern und es gerät zum Teufelskreis. Ich denke Bucky gehört zu letzteren Kategorie.


    Die Freiheit eines jeden existiert ja immer nur in dem Rahmen, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind.
    Deinen Gedanken an die eigene Selbstbefragung: Mir kam sie auch schon und zwar, weil Bucky zwar perfekt funktionieren will, aber es nicht kann, weil er sehbehindert ist. Perfekt, so wird man ihm beigebracht haben, ist einzig Gott. Mir tut er leid. Vielleicht hätte er eine Chance, wenn er jemanden hätte, mit dem er darüber reden könnte.

  • Ich bin praktisch am Boden zerstört.


    aber durch das Hörbuch kenne ich das Buch, die Buchfassung bringt mir nichts Neues.


    Leider lesen die Querbeet-Eulen, bei denen ich gerne zu Gast bin, fast immer Romane, die ich schon kenne.


    Da die letzte Leserunde sehr anstrengend war, entspanne ich mich inzwischen beim neuesten Buch von Botho Strauß!

  • Herr Palomar, so ganz verstehe ich dich nicht. Warum bist du am Boden zerstört? Gefällt dir das Buch nicht?


    Bei Bucky finde ich, wir müssen trennen zwischen seinem Hader mit Gott wegen der Todesfälle und seinem übersteigerten Pflichtbewusstsein.
    Ich bin selbst sehr religiös erzogen worden und ich kann mich gut erinnern, wie schmerzlich für mich das Erwachsenwerden, der Verlust meines kindlichen Gottesbildes gewesen ist. Bucky ist zwar schon erwachsen, aber sicher in einer religiös sehr homogenen Welt aufgewachsen, in der es nicht üblich war, die Lehren des Rabbi in Zweifel zu ziehen. Er hat einfach keine Anleitung, keinen, der ihn bei seinen Zweifeln an die Hand nimmt. Für mich ist das sehr nachvollziehbar und anrührend geschildert.


    Was sein Pflichtbewusstsein angeht, ist er von seinem Großvater so erzogen worden. Ich denke, er ist auch ein einsames Kind gewesen, dem es immer bewusst war, dass er keine Eltern mehr hat. An einer Stelle wird das ja auch angesprochen.


    edit fragt Lipperin: hast du eine Ahnung, wie das mit der Freiheit bei Menschen jüdischen Glaubens gesehen wird? Und auch bei Christen ist dieser Freiheitsgedanke auch erst mit der Reformation aufgetaucht, mir ist da Luthers "Freiheit des Christenmenschen" in Erinnerung.

  • Zitat

    Original von Lipperin



    "Zur Freiheit sind wir berufen" sagen die Christen und das ist durch und durch positiv gemeint. Ein französischer Philosoph formulierte es anders: "Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt" und das klingt in meinen Augen nach verflixt viel Eigenverantwortung. Für Bucky, so glaube ich, gilt die zweite Variante, nur dass er nicht hinnehmen kann, dass etwas einfach geschieht. Es muss einen Grund geben, es muss jemand damit etwas im Sinn haben, jemand muss schuldig sein. Mangels besserer Erkenntnisse überträgt er all das auf (seinen) Gott, den er zwar nicht zu fassen bekommt, dem er aber in aller Freiheit Vorwürfe über Vorwürfe machen kann. Und damit bindet er sich für mich gedanklich zu sehr, lässt nichts anderes zu. Will sagen: Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr sehe ich die Nemesis in Buckys Entscheidung, an Gott nicht nur Fragen zu richten, die per se nicht zu beantworten sind, sondern in seiner ganz eigenen und in aller Freiheit getroffenen Entscheidung, diesem Gott den Prozess zu machen, sich selbst damit in gewisser Weise ein Stück weit seiner eigenen Freiheit zu berauben, weil er sich zu sehr in diesen Gedankengängen verirrt und verwirrt. Wir sind verantwortlich für das, was wir tun, für unsere Gedanken, für alles, wir können das nicht auf andere abwälzen. Bucky ist für mich in der für ihn unangenehmen Situation, dass seine freie Entscheidung ihn in eine persönliche Unfreiheit geraten lässt.
    Ich weiß, dass ist alles noch ein wenig unausgegoren, aber vielleicht versteht man ansatzweise, worum es mir geht?


    Das mit der Freiheit ist wirklich eine schwere Sache vor allem wenn man dann so zum Perfektioniesmus erzogen ist wie Bucky und an der Last der Unvollkommenheit durch den Vater und die verstorbene Muttter sowie die Kurzsichtigkeit zu tragen hat.
    Man kann das auch nur vollends diskutieren und verstehen, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat.
    Bucky rächt sich ja praktisch an sich selbst, durch seinen Hader mit Gott, durch seine Schuldannahme die völlig unreflektiert, glaubt er nicht mehr würdig zu sein zur Teilnahme an jedem normalen menschlichen Leben.

    "Leute die Bücher lesen, sind einfach unberechenbar." Spruch aus "Wilsberg "
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  • Heute geht das Lesen des Buches wieder gut und leicht von der Hand und ich habe den ersten Abschnitt durch.


    Ich finde, Roth fängt die "verständliche" Hysterie der Leute wegen der Polio gut ein, auch z.B. die Panik vor Horace ist erschreckend.


    Von den Nebenfiguren gefällt mir Marcia sehr gut!

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Heute geht das Lesen des Buches wieder gut und leicht von der Hand und ich habe den ersten Abschnitt durch.


    Ich finde, Roth fängt die "verständliche" Hysterie der Leute wegen der Polio gut ein, auch z.B. die Panik vor Horace ist erschreckend.


    Von den Nebenfiguren gefällt mir Marcia sehr gut!


    Die Szene mit Horace war für mich eine der erschreckensten im Buch, wie schnell das doch geht, dass diesem Außenseiter der blanke Hass entgegen schlägt.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Der Strick hängt schon ! :grin


    Sieht aber nicht stabil aus.


    Ob doch noch mal was erscheint? Ohne Philip Roth-Neuerscheinungen ist es halt schwer!
    :cry


    Jetzt hätte ich Dir beinahe das neue Buch einer verstorbenen Schriftstellerin ans Herz gelegt, da kommt ja auch nichts mehr, denkt man, aber nein, es findet sich doch noch was:
    Vielleicht interessiert Dich von Christa Wolf "Moskauer Tagebücher". Empfehlen kann ich es auf jeden Fall.


    Aber schön, dass Dich Nemesis doch noch gelockt hat.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Vielleicht interessiert Dich von Christa Wolf "Moskauer Tagebücher". Empfehlen kann ich es auf jeden Fall.


    Ja, das interessiert mich sehr. Ich habe sogar schon mal in einer Buchhandlung danach gesehen, aber sie hatten es nicht da! Jetzt warte ich noch auf den richtigen Augenblick!


    Zitat

    Original von Lipperin
    Aber schön, dass Dich Nemesis doch noch gelockt hat.


    Ja, hat sich doch sehr gelohnt! Ein wichtiges Buch!

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen


    edit fragt Lipperin: hast du eine Ahnung, wie das mit der Freiheit bei Menschen jüdischen Glaubens gesehen wird? Und auch bei Christen ist dieser Freiheitsgedanke auch erst mit der Reformation aufgetaucht, mir ist da Luthers "Freiheit des Christenmenschen" in Erinnerung.


    Es war Paulus, der den Christen sagte, dass sie zur Freiheit berufen sind. Im Brief an die Galater findest Du es wörtlich, aber auch in einem anderen Brief kommt er darauf zu sprechen. Luther erinnerte daran, genau wie an die Gnade, die uns frei macht. Der Begriff der Freiheit ist nach meinem Verständnis einer der Grundbegriffe reformatorischen resp. protestantischen Denkens und Glaubens.
    Mit aller Vorsicht formuliert, um nicht anzuecken: Beim 2. Vatikanischen Konzil wurde den katholischen Christen ins Gedächtnis gerufen, die Bibel zu lesen und zwar in erster Linie zu lesen, denn aus ihr ergebe sich der Grund des/ihres Glaubens. Es wurde kritisiert, dass die Texte der Väter und der Kommentatoren (zu lange?) wichtiger angesehen wurden als die biblischen Texte.


    Genau weiß ich nicht, wie Juden mit dem Begriff der Freiheit umgehen, aber da ihn Paulus quasi auch als Abgrenzung zum jüdischen Glauben etablierte, denke ich, dass für sie "das Gesetz", sprich die Glaubenstexte, die Ge- und Verbote und Vorschriften wesentlich sind. Und die lassen, wenn ich mich recht entsinne, nicht so viel Raum, zumal es eine Unmenge davon gibt (von den Vorschriften).


    Hilft Dir das etwas weiter?

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    Ja, das interessiert mich sehr. Ich habe sogar schon mal in einer Buchhandlung danach gesehen, aber sie hatten es nicht da! Jetzt warte ich noch auf den richtigen Augenblick!


    Sobald ich etwas Zeit finde, werde ich mich an eine Buchvorstellung wagen. Verraten sei, dass ich es einerseits unglaublich spannend fand, dass mich aber auch Enttäuschung gestreift hat.