Klappentext:
Paddington Station, 9:00 Uhr morgens. Im Gedränge der Reisenden steht die Zeit für zwei Menschen plötzlich still: Fern und Elliott, einst Liebende, doch seit fünfundzwanzig Jahren getrennt. Nie hätten sie erwartet, sich wiederzusehen, nie hätten sie erwartet, dass es sie so berühren würde. Obwohl ihr Leben weiterging, sie heirateten und Kinder bekamen, hörte keiner der beiden auf, den Tag zu bereuen, der sie auseinanderbrachte. Sie verabreden sich für den Abend, wenn der Rückweg sie wieder zum Bahnhof führt. Es wird der Moment sein, in dem sie ihr Morgen wieder in der Hand haben.
Meine Meinung:
“Manchmal wird mir bewusst, was für ein schmaler Grat zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, verläuft, wie viele Möglichkeiten von uns es hätte geben können, dass alles von einem einzigen Moment abhängt.” (S. 327)
Was wäre, wenn…? Diese Frage stellt man sich nicht nur als Leser während der Lektüre ein ums andere Mal. Auch Elliott und Fern kommen nicht umhin, sich diese Frage zu stellen. Was wäre, wenn dieser schicksalshafte Tag damals vor fünfundzwanzig Jahren anders geendet hätte? Was wäre, wenn Elliott damals die richtigen Worte gefunden hätte? Was wäre, wenn sich der Töpferkurs, zu dem Fern jetzt in der Gegenwart auf dem Weg ist, nicht um eine Woche verschoben htte? Was wäre, wenn sich Fern und Elliott dadurch gar nicht erst auf dem Bahnhof wieder getroffen hätten?
“An der Stelle, wo er sie geküsst hat, singt ihr Gesicht leise.” (S. 29)
Nachdem sich Fern und Elliott in Paddington treffen, sich kurz unterhalten und vereinbaren sich vielleicht abends auf dem Rückweg noch ein Mal in Ruhe zu sprechen und nachdem Elliott Fern mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet hat, gehen beide erstmal ihres Weges, mit den Gedanken jedoch stets beim anderen, bei ihrem jetztigen Leben, ihrer gemeinsamen Zeit damals, ihrer Liebe, der Wut und Ratlosigkeit.
Ich mochte es sehr, wie sich die Geschichte der beiden nach und nach vor mir aufgerollt hat. Wie immer wieder auch die Gegenwart präsent ist, in der zumindest Fern mit einem Mann verheiratet ist, den sie wirklich liebt. Das ist eigentlich das Spannendste an der Geschichte: Fern ist – im Gegensatz zu Elliott – in ihrem Leben nicht wirklich unglücklich.
Sie hat einen liebevollen Ehemann, zwei erwachsene Söhne und eine Katze. Doch mit Elliott im Hinterkopf beginnt sie, ihr Leben zu hinterfragen.
“Schon komisch, denkt Fern, während sie auf Elliott wartet, dass sie hier ist, jetzt, so. Als sie morgens aufstand, den Kater fütterte, ein bisschen Wäsche wegräumte, hatte sie keine Ahnung, dass sie nur Stunden später hier sein, ihr Leben zurückgespult haben und darauf warten würde, dem Mann ins Gesicht zu schauen, der ihr, falls das nicht zu kitschig klingt, das junge, empfindsame Herz brach.” (S. 295)
“Als gestern noch morgen war” hat mich beim Lesen gleichzeitig nachdenklich gestimmt und gut unterhalten. Claire Dyer gelingt es, die Stimmungen, Gefühle und Hoffnungen von Elliott und Fern wunderbar einzufangen und auf Papier zu bringen. Und auch als Leser kommt man in eine besondere Stimmung: Was wäre, wenn…?
Mir hat “Als gestern noch morgen war” schöne Lesestunden bereitet. Ich fand es unheimlich faszinierend, mitzuerleben, wie eine einzige Begegnung, ein einziger Moment die beiden Hauptcharaktere dazu bringt, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft mit ganz anderen Augen zu betrachten. Das Buch ist voller eindrücklicher Zitate und überzeugt durch einen sehr einnehmenden, wenn auch nicht immer leicht zu lesenden Schreibstil, der gut dazu passt, dass die Autorin preisgekrönte Lyrikerin ist. 7 von 10 Sternen!