Peter Stamm: Der Lauf der Dinge. Gesammelte Erzählungen
Verlag: S. FISCHER 2014. 560 Seiten
ISBN-13: 978-3100022196. 24,99€
Verlagstext
Sämtliche Erzählungen von Peter Stamm in einem Band, darunter einige bisher unbekannte
Peter Stamm erzählt gelassen und mit großer Präzision, mit wenigen Worten entfaltet er Welten: Momentaufnahmen eines Glücks entstehen oder die Sehnsucht nach Veränderung. Seine Figuren erleben Enttäuschungen und Wunder. In klaren Sätzen und bewegenden Bildern entstehen Augenblicke größter Intensität. Die Leser dieser Erzählungen verstehen mehr: von der Liebe, dem Menschen, vom Leben. Peter Stamm ist ein Meister der Kurzgeschichte.
Der Autor
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor und Journalist. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt „Agnes“ 1998 erschienen vier weitere Romane, vier Erzählsammlungen und ein Band mit Theaterstücken. Zuletzt 2011 die Erzählungen „Seerücken“ und 2013 der Roman „Nacht ist der Tag“.
Inhalt
Die Gesamtausgabe der Erzählungen Peter Stamms enthält alle Texte der Bände
Blitzeis (Erstausgabe: Arche Verlag 1999)
In fremden Gärten (Erstausgabe: Arche Verlag 2003)
Wir fliegen (Erstausgabe: S. Fischer 2008)
Seerücken (Erstausgabe: S. Fischer 2011),
zusätzlich elf bisher unbekannte oder unveröffentlichte Texte aus den Jahren 1994-2012.
Peter Stamm hat sich als Erzähler mit einer kühlen, analytischen Sprache auch international einen Namen gemacht. Seine frühen Erzählungen in "Blitzeis" folgen hauptsächlich jungen Männern bei ihren Bewährungsproben in Cliquen junger Erwachsener (Feuer, Am Eisweiher), auf dem Weg ins Berufsleben und verzeichnen deren Entfremdung von Heimatort und Jugendfreunden. Charakteristisch sind in diesen frühen Geschichten Icherzähler, die in Metropolen wie London oder New York Fuß zu fassen versuchen (Treibgut, In den Außenbezirken). Der Auslandsaufenthalt junger Akademiker bleibt dabei berufliche Übergangsphase, in der die Hoffnung auf privates Glück sich noch nicht erfüllt. Stamms Protagonisten stehen noch außerhalb der beleuchteten Fenster jener, die sich bereits beruflich und privat etabliert haben. Peter Stamm lässt auch Menschen in Ausnahmesituationen unerwartete Seiten zeigen (Jedermannrecht). Für mich herausragend war in "Blitzeis" die Erzählung über eine junge Frau aus Kasachstan, der aufgrund ihrer unheilbaren Tuberkuloseerkrankung für ihre restliche Lebensspanne die Isolierung in einer Lungenklinik bevorsteht und deren Mann sich bereits von der Todgeweihten abgewandt hat. Das Blitzeis betrifft Larissa nicht mehr, es befindet sich außerhalb der Klinik, die sie nicht mehr verlassen wird.
„In fremden Gärten“ wartet Stamm mit älteren Protagonisten und ihren Lebenskrisen auf (Der Besuch, In fremden Gärten, Eric, Der Kuss), in deren Leben Rituale ihren Sinn verloren haben. Ein männlicher Protagonist erlebt in New York eine plötzliche Schneekatastrophe, die die Metropole zur Langlaufloipe macht. Stamm zeigt auch in diesem Erzählband wieder die private Leere im Leben beruflich mobiler Großstädter (Alles, was fehlt). In „Deep Furrows“ wird der Icherzähler als gewünschter Ehemann für eine der drei unverheirateten Töchtern von deren Vater praktisch gefangen, eine Grenzsituation, die beklemmend einer psychischen Erkrankung ähnelt.
„Wir fliegen“ befasst sich mit ungelebten Träumen (Drei Schwestern), dem Ausharren im Alltag der Provinz und der Erkenntnis, dass man trotz des erreichten Berufsabschlusses noch immer nicht im Leben angekommen sein kann (Die Verletzung). In „VideoCity“ beobachtet der Erzähler wie ein Kameramann eine psychische Ausnahmesituation aus Wahnvorstellungen und Kommunikation mit fremden Mächten, die auf eine konkrete geschäftliche Krise zurückzuführen ist. Auch hier sind Krisen im Übergang zwischen Lebensphasen Thema (Im Alter, Der Brief).
Im Band "Seerücken" (Sommergäste) sucht ein Autor als Icherzähler einen Platz zum ungestörten Schreiben und gerät außerhalb der Saison in ein leer stehendes Hotel. Die Abläufe dort werden zunehmend sonderbarer, so dass man an der Wahrnehmung des Mannes zweifeln könnte. Während das bewusst kinderlose Paar in „Der Lauf der Dinge“ noch dem realistischen Thema Midlife-Krise zugeordnet werden könnte, treten der Pastor in „Das Mahl des Herrn“ und eine junge Schwangere deutlich aus der Realität heraus in der Annahme einer jungfräulichen Zeugung. Anja (Im Wald) tritt als unangepasste Protagonistin auf, die schon als Schülerin ganzjährig im Wald lebt und sich mit Ladendiebstählen durchschlägt. Inzwischen lebt die Frau, die ihre Empfindsamkeit aus der Zeit im Wald behalten hat, ein bürgerliches Leben und wird von Außenstehenden für depressiv gehalten. Mit „Sweet Dreams“ kehrt Stamm in diesem Band wieder zu Protagonisten zurück, die am Beginn ihres Berufslebens und ihrer Partnerschaft stehen und setzt Bezüge zu sehr aktuellen Ereignissen.
Fazit
Als Gesamtausgabe der vier Erzählbände bietet „Der Lauf der Dinge“ die willkommene Gelegenheit Peter Stamms Entwicklung als Erzähler nachzuvollziehen.
9 von 10 Punkten