Thomas Hettche - Pfaueninsel

  • Titel: Pfaueninsel
    Autor: Thomas Hettche
    erschienen: 21.August 2014
    Seiten: 352
    Verlag: Kiepenheuer&Witsch
    Sprache: Deutsch


    Kurzbeschreibung:
    Die Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam, Rückzugsort der Preußenkönige, wurde im 19. Jahrhundert von Lenné und Schinkel unter Mithilfe des Hofgärtners Fintelmann zu einem künstlichen Paradies umgestaltet. Es gab Kängurus dort und einen Löwen, Palmen und Götterbäume, einen Südseeinsulaner, einen Riesen, Zwerge und einen Mohren. Thomas Hettche lässt diese vergessene Welt wieder auferstehen, in deren Mittelpunkt er die kleinwüchsige Marie stellt, das historisch belegte Schlossfräulein der Pfaueninsel. Von ihrem Leben und unseren Vorstellungen von Schönheit erzählt sein Roman, von der Zurichtung der Natur und unserer Sehnsucht nach Exotik, von der Würde des Menschen, dem Wesen der Zeit – und von einer tragischen Liebe.


    Über den Autor:
    Thomas Hettche, 1964 am Rand des Vogelsbergs geboren, lebt in Berlin. Sein Romandebüt »Ludwig muss sterben« wurde 1989 als Geniestreich gefeiert. Danach erschien unter anderem »Der Fall Arbogast« (2001), ein Bestseller, der in zwölf Sprachen übersetzt worden ist. »Woraus wir gemacht sind«, 2006 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt veröffentlichte Hettche den hochgelobten Roman »Die Liebe der Väter« (2010) und den autobiographischen Essayband »Totenberg« (2012).


    Meine Meinung:
    Mich hat die Geschichte der kleinwüchsigen Marie sehr berührt. Sie wird gemeinsam mit ihrem Bruder Christian 1806 auf die Pfaueninsel gebracht, eine Insel in der Form eines Wales, mitten in der Havel gelegen. Im Laufe der Zeit ist die Insel ein Tummelplatz für exotische Tieren wie Pfauen, Affen, Kängurus und Löwen. Aber auch Menschen, die aus dem Raster der Normalität fallen, werden dort angesiedelt, die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist fließend, die Grenzen verwischen.
    Die Geschwister dienen der Unterhaltung des Königspaares, was zwar nie direkt erzählt wird, aber doch durch viele Seiten hindurchschimmert. Irgendwie findet Marie ihren Platz auf der Insel, verwächst mit der verwunschenen Natur, findet in den Tieren eine Zuflucht und Freunde. Eifrig übt sie die Aufgaben eines Schlossfräuleins, während ihr Bruder Christian bei der Tierpflege zur Hand geht. Eines Tages verlässt der Bruder die Insel, um bei einem Schneider in die Lehre zu gehen, und Marie bleibt allein zurück. Sie verliebt sich in den Gärtnersneffen Gustav, der ihre Liebe zögernd erwidert.
    Währenddessen wird das der Natur überlassene Paradies unter Lenné in einen exakt angelegten Garten verwandelt. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, die Natur wird in Parks und Gehegen optimiert, um den Besuchern zu gefallen. Marie fällt endgültig aus der Zeit und aus der Norm, sie empfindet sich selbst als ein Ding. In der Akkurratesse wirkt sie wie ein Monster. So wurde sie zumindest einst von der Königin Louise betitelt und dieses Schimpfwort hat sich tief in ihr Herz gegraben.
    Thomas Hettche spricht viele Themen in diesem Roman an. Inzest spielt eine Rolle, allerlei sexuelle Praktiken kommen zur Sprache, ausversehen wird ein Schwarzer erschossen und es geschieht ein weiterer Mord, der vertuscht wird.
    Mich hat besonders berührt, mit wie viel Einfühlungsvermögen und mit welcher Zartheit es dem Autor gelingt, Marie zu beschreiben. Durchgängig konnte ich Maries Freude und Staunen fühlen, besonders aber die Trauer über ihr Anderssein und den Schmerz, den sie im Laufe des Buches vielfach zu spüren bekommt. Dabei ist Hettches Sprache eine spröde und distanzierte, gespickt mit Passagen, die sich wie ein Sachbuch lesen.
    „Pfaueninsel“ ist ein Zeitzeugnis und liest sich zugleich wie ein Märchen. Die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt sind fließend, zwischen Gesetz und Tabubruch, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Insel wirkt wie aus der Zeit und Raum gefallen und so empfinde ich auch diesen Roman.


    [SIZE=7]Edit: ISBN ergänzt[/SIZE]

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

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  • Tolle Buchvorstellung. Herzlichen Dank dafür. Das Buch liegt bei mir noch ungelesen herum. Aber aufgrund dieser Rezi wird sich der Zustand wohl bald von "ungelesen" in "gelesen" ändern. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Tolle Buchvorstellung. Herzlichen Dank dafür. Das Buch liegt bei mir noch ungelesen herum. Aber aufgrund dieser Rezi wird sich der Zustand wohl bald von "ungelesen" in "gelesen" ändern. :wave


    Danke! :knuddel1
    Dann bin ich aber sehr gespannt, wie es dir gefällt. :wave

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Liegt gerade noch auf der Fensterbank und kommt jetzt sofort mit ins Wohnzimmer zum gelesenwerden.
    :lesend

    "Reading is food for thought, and anything to do with food must be good." Snoopy


    :lesend : Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort
    :lesend : Ingeborg Bachmann: Malina
    :lesend : Michael Stavaric: Königreich der Schatten

  • Zitat

    Original von rienchen
    Hat zwar mit dem Buch nix zu tun, aber die Pfaueninsel ist so, so schööön! Ich liebe die. Eigentlich müssten wir da mal zusammen hinschippern, irgendwann. :-)


    :write :write :write :write :write :write :write

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Titel: Pfaueninsel
    Autor: Thomas Hettche
    Verlag: Kiepenheuer und Witsch
    Erschienen: August 2014
    Seitenzahl: 343
    ISBN-10: 3462045997
    ISBN-13: 978-3462045994
    Preis: 19.99 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Die Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam, Rückzugsort der Preußenkönige, wurde im 19. Jahrhundert von Lenn‚ und Schinkel unter Mithilfe des Hofgärtners Fintelmann zu einem künstlichen Paradies umgestaltet. Es gab Känguruhs dort und einen Löwen, Palmen und Götterbäume, einen Südseeinsulaner, einen Riesen, Zwerge und einen Mohren. Thomas Hettche läßt diese vergessene Welt wieder auferstehen, in deren Mittelpunkt er die kleinwüchsige Marie stellt, das historisch belegte Schloßfräulein der Pfaueninsel.


    Der Autor:
    Thomas Hettche, geb. 1964 am Rand des Vogelsbergs, studierte in Frankfurt Philosophie und Germanistik. Nach Stipendienaufenthalten u.a. in Krakau, Venedig, Stuttgart, Rom und Los Angeles lebt er mit seiner Familie in Berlin. Essayistische Veröffentlichungen vor allem in der FAZ und der Neuen Zürcher Zeitung. Juror des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt. Herausgeber der literarischen Online-Anthologie NULL. Preise u.a.: Rauriser Literaturpreis 1990, Robert-Walser-Preis 1990, Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1994, Rom-Preis der Villa Massimo 1996, Premio Grinzane Cavour 2005.


    Meine Meinung:
    Ein sehr einfühlsam geschriebener Roman, dabei aber immer ein wenig distanziert bleibend. Hettche schreibt nicht überschwenglich und gefühlsduselig; er schreibt sensibel, findet dabei aber immer das richtige Maß der Distanz zu seinen handelnden Personen. Der Autor schafft es, seinen Lesern die vergangene Zeit sehr nahe zu bringen. Er versteht es mit Sprache umzugehen und gehört zu den Autoren, die mit Worten literarische Bilder malen können. Und so entsteht vor den Lesern ein eindrucksvolles Bild der Pfaueninsel.
    Dieses Buch macht deutlich, das Schönheit fast immer im Auge des Betrachters liegt, das die Vorstellungen von Schönheit sehr unterschiedlich sein können. Aber es ist auch ein Buch über die Symbiose von Mensch und Natur. Wobei der Mensch als Regulativ der Natur zumeist unglaubliche Fehler macht.
    Natur sollte lebendig sein – nie künstlich und damit tot.
    In seinem Roman beschreibt Thomas Hettche aber auch die Sehnsucht der Menschen nach dem Besonderen, nach der Exotik im Dasein und das er (der Mensch) dabei immer wieder an Grenzen stösst.
    Ein sehr lesenswertes Buch – 8 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich lese das Buch gerade und bin jetzt über die ersten 100 Seiten hinaus. Bis jetzt gefällt mir die Geschichte ziemlich gut, sie ist tatsächlich märchenhaft. Mir ist aber aufgefallen, dass der Schreibstil mitunter auch durch viele Aufzählungen, etwas schwerer zu handhaben ist. Also für die 100 Seiten habe ich erstaunlich lange gebraucht, viel länger, als es bei mir üblich ist. Aber das ist nicht sonderlich schlimm, ich mag das Buch bisher trotzdem. Wollte es nur mal anmerken :-)

  • Ein Buch, das gelesen werden möchte, nicht überflogen: Die Pfaueninsel von Thomas Hettche.


    Sprachlich hat mich der Roman von Anfang an überzeugt und begeistert. Die Geschichte selbst gibt jedoch meiner Meinung nach nicht genug für 344 Seiten her und hat mich zwischendurch auch schon mal gelangweilt. Vor allem im mittleren Teil lebt der Text immer wieder von Wiederholungen.


    Sehr anschaulich beschreibt der Autor die verschiedenen (teils merkwürdigen) Sexszenen, so dass man ab und zu das Gefühl hat, dass beim Schreiben schon die Hoffnung auf eine Verfilmung mitschwang.
    Und natürlich bleibt auch der Vergleich zu Game of Thrones nicht aus, er drängt sich bei dem Thema ja geradezu auf, auch atmosphärisch gesehen.


    Eigentlich fand ich die Geschichte von Marie somit interessant, aber dennoch war mir der Stil etwas zu zäh. Botaniker und Historiker dürften jedoch große Freude an dem Buch haben.


    Daher vergebe ich (aber trotzdem noch gern) leider nur 6,5 Punkte.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

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  • Zitat

    Original von Regenfisch
    So wurde sie zumindest einst von der Königin Louise betitelt und dieses Schimpfwort hat sich tief in ihr Herz gegraben.


    Wird die Königin im Buch tatsächlich so geschrieben?
    (Die Frage ist ernst und in keiner Weise provozierend gemeint!)
    Danke :wave

    “Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den anderen, in Wirklichkeit aber den eigenen Herrn verstümmelt.”Christian Morgenstern (1871 – 1914)

  • Die Königin Luise hat nur ganz am Anfang einen kurzen Auftritt, einige Monate bevor sie verstirbt. Großartig beschrieben wird sie eigentlich gar nicht.
    Sie betritt aus einem Federballspiel heraus den lichtarmen Wald und begegnet Maries Bruder, der auch kleinwüchsig ist.
    Und in dieser Szene betitelt sie ihn tatsächlich als "Monster". Er erzählt es seiner Schwester weiter und sie nimmt das Wort durch ihr ganzes Leben mit.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“