Die Gierigen - Karine Tuil

  • Gebundene Ausgabe: 479 Seiten
    Verlag: Aufbau Verlag; 2014


    Originaltitel: L´invention de nos vies
    Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff


    Kurzbeschreibung:
    Nina, Samuel und Samir – mit zwanzig Jahren sind die drei Freunde unzertrennlich, sie teilen dieselben Werte, erträumen sich eine Zukunft, in der sie ihre Ideale verwirklichen werden. Nina und Samuel sind ein Paar, doch als Nina eine leidenschaftliche Affäre mit Samir beginnt, sind Liebe, Freundschaft und Vertrauen zerstört. Samir verschwindet aus Frankreich und aus dem Leben der beiden Freunde – bis sie ihn zwanzig Jahre später durch Zufall im Fernsehen wiedersehen. Samir lebt als Staranwalt in New York, er trägt maßgeschneiderte Anzüge und das Lächeln der Erfolgreichen zur Schau, während Nina und Samuel ein tristes Dasein am Rand der Gesellschaft führen. Samuel brennt vor Eifersucht, zumal der Aufstieg des Rivalen auf seiner eigenen tragischen Lebensgeschichte beruht. Und so initiiert er ein Treffen in Paris, um sich an Samir zu rächen – doch am Ende fordert das Schicksal jeden Einzelnen zur Rechenschaft.


    Über die Autorin:
    Karine Tuil, geboren 1972, studierte Jura in Paris und beschäftigt sich derzeit in ihrer Doktorarbeit mit gesetzlichen Bestimmungen zu Wahlkampfkampagnen in den Medien. Sie ist Autorin mehrerer gefeierter Romane und lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Paris.


    Über die Übersetzerin:
    Maja Ueberle-Pfaff übersetzt aus dem Englischen und Französischen und hat u.a. Werke von Mark Twain, Jules Verne, Alice Walker, Shimon Peres, Ingrid Betancourt und zuletzt Karine Tuil ins Deutsche übertragen.


    Mein Eindruck:
    Karine Tuil gilt als Star der französischen Literaturszene. Ich kannte sie vor diesem Buch noch nicht.


    Bei einer Lesung der Autorin, die ich vor kurzen gesehen habe, wurde von der Moderatorin zentral das Thema Identität angeboten. Darüber haben schon viele geschrieben, einige auch wirklich tiefgehend. Karine Tuil hat sich also etwas schwieriges vorgenommen, da noch etwas hinzuzufügen.
    Ich kann vorausschicken, dass ich nicht denke, dass die Autorin in diesem Punkt vollkommen erfolgreich war. Immerhin gibt es doch ein paar Ansätze.


    Samir ist Muslim und wuchs in Frankreich auf. Er studiert Jura und heiratet in eine reiche Familie ein. Dabei verschwieg er seine Herkunft, gibt sich stattdessen als Jude aus und nennt sich Sam. Er wird ein sehr erfolgreicher und reicher Anwalt.
    Als Student war er sehr mit Samuel und Nina befreundet. Er liebte Nina, doch die zog seinen Freund vor. Das ist DIE Niederlage seines Lebens.
    Nach Jahren kommt es zur Wiederbegegnung zwischen den Dreien.


    Die Autorin setzt auf effektvolle Szenen. Sie beschreibt viel. Die Settings wirken künstlich auf mich, jedoch sind sie mir vielleicht nur fremd, weil ich die Welt der Reichen nicht kenne.
    Nachteilig wirkt sich aus, dass die Figuren relativ stereotyp und statisch angelegt sind.


    Spät im Buch nimmt die Handlung eine unerwartete Wendung. Dadurch wird es etwas lebhafter, auch interessanter. Aber ihr ursprüngliches Thema wird letztlich nur überspitzt fortgeführt und verliert dadurch.


    Immerhin wird doch gezeigt, was für ein hoher Preis für die Verleugnung der Herkunft bezahlt werden muss und wie schnell eine sicher Welt in sich zusammenbrechen kann. Für alle 3 Protagonisten wird sich alles ändern.


    Ich gebe dem Roman 6 Punkte!

  • Inhalt
    Karine Tuil erzählt die zerstörerische Dreierbeziehung der in der Gegenwart rund 40 Jahre alten Franzosen Nina, Samir und Samuel. Vor 20 Jahren trennte sich Nina von Samir, um eine Beziehung mit Samuel aufzunehmen. Samir, als Sohn einer alleinerziehenden tunesischen Einwanderin in kargen Verhältnissen aufgewachsen, schließt höchst erfolgreich ein Jura-Studium ab. Doch als er sich um eine Stelle bewerben will, wird er als unbekannter Akademiker ohne Beziehungen aufgrund seines nordafrikanischen Familiennamens oder seiner Anschrift in einer Hochhaussiedlung nicht zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. Als ihm ein jüdischer Rechtsanwalt praktisch in den Mund legt, Sam sei doch sicher die Abkürzung von Samuel, wirft Sam seine muslimische Herkunft spontan ab, mimt dem Anwalt gegenüber den wenig religiösen Juden und steigt unter dessen fördernden Hand zum erfolgreichen Anwalt auf. Eine New Yorker Niederlassung der Pariser Kanzlei führt Sam nach New York, wo er an seiner jüdischen Identität festhält und in eine der einflussreichsten jüdischen Familien der Stadt heiratet. Von diesem Punkt an scheint es für „Sam“ keinen Weg zurück zu geben. Er verleugnet gegenüber Frau und Kindern seine Mutter und seinen Halbbruder in Paris.


    Wie Sam sich nach der Erfahrung von Diskriminierung in Frankreich neu erfindet, mag man als Leser noch nachvollziehen können. Schwerer wird es, für Sams Sex-Sucht und sein Verhalten gegenüber Frauen eine plausible Erklärung zu finden. Obwohl er sich der Illusion hingibt, sich aus seiner beruflichen Position endlich an der Gesellschaft rächen zu können, die seine Mutter schlecht behandelt hat, tut er genau das Gegenteil. Er belügt Frau und Familie, benutzt Frauen für eilige Nummern und lässt sie bei nächster Gelegenheit fallen. Ermöglicht wird ihm sein pathologisches Sammelverhalten durch Frauen, die bereitwillig eine Opferrolle einnehmen; denn Sam kann nur so lange den Starken geben, wie er andere in die Rolle des Schwachen drängen kann. Die Schwäche vermeintlicher Opfer dient ihm innerhalb eines weltfremden Frauenbildes als Rechtfertigung seines amoralischen Handelns. 20 Jahre später ist Nina noch immer mit Samuel zusammen, der als Sozialarbeiter in einer Vorstadtsiedlung arbeitet und vom Dasein als Autor träumt. Eine Reportage über den erfolgreichen „Sam“ konfrontiert das Paar damit, dass Samir unter einer neuen Legende in New York lebt – indem er Samuels Geschichte als seine ausgibt. Die Handlung erhält einen unerwarteten wie dramatischen Twist, als Sams unauffällig nordeuropäisch aussehender jüngerer Halbbruder François in die Handlung tritt.


    Fazit
    Samir/Sam, der vaterlos aufgewachsener Sohn nordafrikanischer Einwanderer, dessen Selbsttäuschung durch passive, farblose Frauenfiguren gestützt wird, agiert als äußerst unsympathischer Protagonist. Nicht nur Frankreich hat massive Probleme mit vaterlos aufgewachsenen Kindern der Vorstädte und verqueren Frauenbildern in Parallelgesellschaften. Empfehlenswert ist Tuils Gesellschaftsroman für Leser, die sich für die Rolle von Religionen bei der Neuerfindung von Identitäten interessieren oder für die gläserne Decke beim Aufstieg aus Problemvierteln. Wer sich von der Sympathie-Erwartung lösen kann, wird das Ausbreiten des roten Teppichs für Sams Verhalten wahrnehmen können, an den Chamäleons wie er ihre Farbe anpassen.


    8 von 10 Punkten