Der Leser - eine aussterbende Spezies?

  • Ich lese gerade "Wer liest, kommt weiter" von Friedrich Denk und bekomme bei der Argumentation des Autors Bauchschmerzen.


    Ein Punkt, der mich massiv stört, ist die Behauptung, dass es immer weniger Leser gibt. Diesen Eindruck habe ich nämlich nicht! Zu jeder Zeit hat es Leser und Nicht-Leser gegeben.
    Das Argument, Fernsehen, Internet und Smartphones würden heute die Kinder vom Lesen abhalten, empfinde ich als nicht stichhaltig.


    In meiner Kindheit und Jugend gab es diese ganze Medienpräsenz nicht (außer den Fernseher, aber auch da gab es nur drei Programme). Trotzdem waren deshalb in meinem Freundes- und Bekanntenkreis nicht überdurchschnittlich viele Leser. Statt mit Computer und Videospielen haben sich damals die Nicht-Leser ihre Zeit mit Fußball- und Kartenspielen usw. vertrieben, haben aber ganz sicher nicht aus Mangel an Alternativen ein Buch zur Hand genommen.


    Woher kommt diese permanente Angst, dass die "Spezies Leser" aussterben könnte? Ich kann diesen Trend nicht erkennen. Wie seht ihr das?
    Ist dieser Kulturpessimismus einfach dem Alter des Autors (Jahrgang 1942) geschuldet, geboren aus der Angst vor Veränderung und dem Nachlassen an Flexibilität, sich an Neuerungen zu gewöhnen?

  • Es ist sicher Kulturpessimismus. In meiner Kindheit war noch das Lesen von Comics als Schund verrufen. Wenn heute die ganze Familie nach Neuerscheinungen aus dem Reproduktverlag geiert oder über Web-Comics diskutiert, kann ich darin keinen drohenden Untergang unserer Kultur sehen.


    Schon immer habe ich mich darüber geärgert, dass mit Lesen offenbar nur das Lesen von dicken Büchern gemeint ist. Menschen, die täglich zwei Tageszeitungen lesen (teils tun sie das inzwischen auf dem Tablet-PC) und monatlich eine Reihe von Fachzeitschriften, werden so per Negativbotschaft vorschnell zum Bildungsverweigerer abgestempelt. Es wäre sicher zielführender über das veränderte Lesen zu diskutieren als über das Aussterben.

  • Ja, es muss sie halt geben, die Pessimisten - die Bedenkenträger und Schwarzseher. Ich denke nicht, dass es weniger Leser gibt - es sind die Lesegewohnheiten die sich geändert haben. Ebooks, Wanderbücher, öffentliche Bücherschränke usw. führen dazu das evtl vielleicht weniger Bücher gekauft werden, aber der Bücherverkauf sagt nur wenig darüber aus, wieviele Menschen wirklich Bücher lesen.


    Und darüberhinaus wäre es auch wirklich verwunderlich, wenn man nicht auch in diesem Falle die Schuld bei den Medien suchen würde. Das ist eben immer der einfache Weg.


    Und was ist denn überhaupt "Lesen"? Nur das Lesen von Büchern - oder auch das Lesen von online gestellten Geschichten, das Lesen von Comics als Print oder online. Es macht wenig Sinn das "Lesen" nur auf das "Lesen von Büchern" zu reduzieren.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Das ganze Buch ist eine Einbahnstraße, für die es keine Umkehrung gibt. Wie bei dem Satz "Alle Eskimos sind weiß", was im Umkehrschluss noch lange nicht bedeutet, dass "Alle Weißen Eskimos sind". Genau das versucht der Autor aber zu beweisen.
    Alle die lesen, sind, bzw. werden klug. Aber auch nur die, die auf Papiermedien lesen. Da darf es sogar mal die Bildzeitung sein.
    Der Autor behauptet z. B., der Leser könne zu einem Text auf dem E-Reader "keine Beziehung aufbauen".


    Ich halte das für Quatsch. Durch das Lesen lassen sich bestimmte kognitive Fähigkeiten trainieren, es werden neue Verbindungen im Gehirn gebildet. Durchaus. Das kommt dem Lesenden sicher zugute. ABER, ich bezweifle ganz stark, dass ein Mensch mit einem IQ von 100 durchs Lesen plötzlich auf 115 hüpft.


    Es gibt sicher auch Leser, die gerne und viel lesen, aber ihr Leben lang nur Hedwig Courths-Mahler und Cora-Romane. Auf Papier. Laut Herrn Denk müssten diese Leser viel schlauer sein als solche, die Sachthemen auf Internetseiten konsumieren oder E-Reader-Benutzer, die Heidegger lesen.


    Das Plädoyer fürs Lesen bekommt bei solchen Argumenten leider einen sehr schalen Beigeschmack.


    Und wenn ich auf der Liste "Lieblingsbücher für junge Leser" u. a. die "Ulysses" finde, dann kennt meine Skepsis keine Grenzen mehr. :bonk

  • Zitat

    Original von Rosha
    Der Autor behauptet z. B., der Leser könne zu einem Text auf dem E-Reader "keine Beziehung aufbauen".


    Das sind Vermutungen, die er vermutlich nicht belegen kann. Welche Leser? Leseanfänger, Erwachsene, die noch in Papierbüchern lesen gelernt haben? Gibt es schon Untersuchungen, wie sich die Veränderung der Lesegewohnheiten auf den Leselernprozess und die Aufnahme von Texten auswirken? Bisher habe ich nur davon gehört, dass Texte aus Printmedien sich besser merken lassen sollen. Fragt sich, ob das wirklich bereits zu belegen ist, oder ob die Leser nur nach ihrem subjektiven Eindruck befragt wurden.

  • Zitat

    Original von Buchdoktor
    Bisher habe ich nur davon gehört, dass Texte aus Printmedien sich besser merken lassen sollen. Fragt sich, ob das wirklich bereits zu belegen ist, oder ob die Leser nur nach ihrem subjektiven Eindruck befragt wurden.


    Ich stelle mir dabei immer die Frage, WER diesen Forschungsauftrag gegeben hat. Genau wie bei statistischen Erhebungen kann man schon allein durch die Art des Testens bestimmte Ergebnisse generieren.


    Und pauschalen, plakativen Rückschlüssen misstraue ich sowieso. Ich denke nämlich, so einfach ist das alles nicht zu bewerten. Die Verknüpfungen sind viel zu komplex, als dass man hierbei auf eine einfache Formel käme.


    Ich weiß nur eins: Für mich ist lesen toll, ich würde mir wünschen, dass noch mehr Menschen die gleiche Freude daran hätten, aber erzwingen lässt es sich einfach nicht.

  • Lesen bildet, da würde ich dem Autor schon recht geben. Aber es ist ja nicht nur die Frage, WAS man liest, sondern auch WIE. Bei der BILD-Zeitung (um mal bei dem Beispiel zu bleiben), braucht man nun wirklich keine Ausdauer und auch nicht viel Verständnis. Wenn ich mir hingegen die FAZ oder das Handelsblatt schnappe, benötige ich Konzentration und auch Wissen. Und genau diese Konzentration geht vielen Jugendlichen ab, zumindest, was meine Beobachtungen im Job (ich betreue auch Azubis) angehen. Textverständnis und auch die Geduld, sich einen Text, der länger als 3 Absätze ist, durchzulesen, lassen zu wünschen übrig.
    Aber das ist eine reine Übungssache, mehr nicht.


    Und ob ich nun zu einem Text eine Beziehung aufbaue oder nicht, hängt doch eher davon ab, welchen Inhalt ich mir zur Gemüte führe und nicht, ob es print oder ebook ist.

  • Vielleicht sollte man dich und den Herrn Rechtschreib-Reform-Rebellen mal gemeinsam in eine Talkshow einladen. Er beklagt ja u. a. dass Jungen zu wenig lesen - darin stimme ich ihm zu. Jungen lesen u. a. deswegen wenig, weil ihnen Vorbilder und Gesprächspartner fehlen, um über das Gelesene zu diskutieren. Man sollte nicht nur über die Tablets und Smartphones sprechen, in die die Kinder ihre Nasen stecken, sondern auch über die, in die die Eltern ihre Nasen stecken - und in der Zeit nicht mit ihren Kindern sprechen. Es beginnt ja schon damit, dass Mütter SMS schreiben, während sie ihr Kleinkind im Kinderwagen fahren - und in der Zeit nicht mit ihrem Kind reden.


    Wir hatten im Thread über Leserunden hier gerade zahlreiche Wortmeldungen, in denen Forenmitglieder beklagten, dass ihnen Gesprächpartner fehlen, um über Bücher zu diskutieren.


    Wenn Friedrich Denk das Medium bewertet/abwertet, mit dem Leser Texte konsumieren, entzieht er sich m. A. nach damit dem Gespräch über den Inhalt. Es steht es mir als Erwachsener jederzeit frei, mit Jugendlichen, die sich einen DRM-freien Text herunterladen, über den Text und den Autor zu diskutieren, anstatt die Form des Lesens zu kritisieren. Durch Lesen auf Readern und Smartphones werden auch neue Lesergruppen gewonnen, die wegen Sehbehinderungen, schlechter Lichtverhältnisse, wenig Freizeit etc pp sonst gar nicht lesen könnten.


    Wenn Huxley und Orwell nach Denk nur in Papierform als "gute" Literatur gelten, müssen wir uns nicht darüber wundern, wenn hauptsächlich Jungen in der Mittelstufe ganz aufhören zu lesen. Sie tun das u. a. wegen unflexibler Lehrer wie Denk. Ich habe das selbst mit einem an sich begeisterten Leser so erlebt, der beklagte, dass man mit Deutschlehrern nicht über Bücher diskutieren kann.

  • Ich stimme dir voll zu, Buchdoktor, dass durch das Internet und weitere Errungenschaften neue und auch andere Lesergruppen angesprochen werden. Und das ist auch gut so. Wenn ich mir allein anschaue, wie viele Buchblogs ich mittlerweile kenne. Es ist, wie mit jeder Technik: wir müssen sie beherrschen, nicht umgekehrt :-]


    Und ja, im "wahren" Leben fehlen mir auch die Gesprächspartner über Bücher. Zwar habe ich so einige Freunde, die auch lesen, aber halt nicht so viel und regelmäßig. Daher mag ich auch die Eule so, denn hier treffe ich Gleichgesinnte :-)


    Ein Medium zu verteufeln, nur weil es neu oder anders ist, ist Quatsch. Wenn alle Menschen so gehandelt hätten, säßen wir überspitzt gesagt heute noch in Höhlen und würden dafür beten, dass jeden Tag die Sonne aufgeht.

  • ich seh das eher so wie Voltaire es ändert sich einfach wie,wo und auch was gelesen wird.


    Ein viel größeres Problem sehe ich eher bei unserer Bildungspolitik da verlassen Kinder die Grund- und Hauptschulen die nicht in der Lage sind zusammenhängend, flüssig zu lesen. Wie sollen die später den Lust bekommen Bücher zu lesen (egal wie dick oder welches Medium) .
    Wenn sich das langfristig nicht ändert stirbt der Leser eher aus mangelder Fähigkeit als aus mangelnder Lust aufs Lesen aus.


    Die Intelligenz eines Menschen unter anderem daran zu messen welche *Art* von Büchern usw er liest halte ich persönlich für völlig falsch. Das hat meine Lebenserfahrung mich gelehrt. Vorallem was soziale Fähigkeiten oder Intelligenz betrifft.


    Ich persönlich stelle für mich keine Unterschied zwischen einem gedruckten Buch und einem ebook fest.

    :weihnachtsbaum


    c0624.gif Sommer in der kleinen Bäckerei am Strandweg--Jenny Colgan

    Chroniken von Deverry 2 --Katharine Kerr
    Drachenelfen , die Windgängerin -- Bernhard Hennen

  • Dem guten Herrn würde ich empfehlen, mal einen Blick in das ausgesprochen interessante (und optimistische!) Buch von Herrn Falschlehner zu werfen. Woher kommt nur immer diese Papierhörigkeit? Ein Text ist ein Text. Und aktuelle Studien zeigen immer wieder, dass Kinder und Jugendliche durchaus noch lesen, und das sogar mehr als vor Jahrzehnten.

  • Na, nu, wenn man Denk liest, darf man sich nicht wundern, wenn man sehr konservative Ansichten präsentiert bekommt.
    Menschen wie er haben tatsächlich Angst vor Veränderungen, sie ist in meinen Augen aber eher darin begründet, daß sie Angst haben, nicht mehr mitzukommen und gehört zu werden. Die Folge sind dann solche sehr emotionalen und schnell hingehauenen Bücher.


    Ich habe mir Leseproben angesehen. Das Einführungskapitel: Drei Erlebnisse und vier Fragen ist schon mal köstlich.
    Ich gestehe hier offen und vor allen (Herr Denk würde sagen: coram publico :lache), daß mich die Frage, wie man tausende von Büchern staubfrei hält, ebenfalls bewegt. Ich schätze, Denk hat eine Putzfrau. Ich habe keine.


    Was mich gewundert hat, ist, wie schlampig er arbeitet. Er bringt tatsächlich den wunderbaren Essay von Charles Dantzig 'Wozu lesen?' als Beleg dafür, daß Lesen abgelehnt wird? Der Essay ist eine leidenschaftliche Verteidigung des Lesens, ohne übermäßigen Einsatz griechischer und lateinischer Zitate und Rückgriffe auf alle Saurier und Mumien seit Aristoteles. Offenbar hat er Dantzig nicht gelesen.


    Die Lektüre-Empfehlungen am Ende sind von der Sorte, bei der ich nicht weiß, ob ich loslachen oder losheulen soll. In der Zusammenstellung glatter Unsinn. Was man damit anfangen soll, weiß ich wirklich nicht. Mit der Schulter zucken und den Fernseher einschalten, wäre eine natürlich Reaktion.
    Aber, wie oben geschrieben, es ist von Denk.
    Da ist nichts anderes zu erwarten. Mit der Realität oder mit den wichtigen Fragen zum Lesen, zu Büchern, zu Bildung, dem Denken und der Zukunft hat das nichts zu tun.


    Vielleicht kann das Nachwort von Walser interessant werden, der poltert so schön vor sich hin.


    Noch eine Frage an die Amazon-Kundigen hier: ist es normal, daß man bei jedem Klick andere Leseproben angezeigt bekommt?



    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Aha, danke. Ich dachte schon, ich hätte Visionen.
    :lache


    Jedenfalls habe ich auf diese Weise mehr von dem Buch gelesen, als ich ursprünglich wollte.
    :wow

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Mist! Magali. Nun muss ich die Leseprobe auch lesen. :fetch


    Ich könnte schon bei dem Abenteuer-Quatsch aufhören. Zuhören, Lesen, Schreiben, Sprechen und Denken habe ich in allen anderen Fächern auch gelernt. Sogar in Mathe. Was für ein bescheuertes Modell. Ok, danach werden meine Augen leider glasig. Nun hat er mich verloren.


    Die Literaturliste ist echt gruselig. YOUCAT. :pille

  • Zitat

    Original von magali
    Jedenfalls habe ich auf diese Weise mehr von dem Buch gelesen, als ich ursprünglich wollte.
    :wow


    Ich hätte das Ding auch besser im Regal der Bücherei gelassen ... Habs nur aufgrund des Titels (das Wort lesen ist ein Trigger für mich) mitgenommen. Bin zumindest heilfroh, kein Geld für dieses Buch ausgegeben zu haben. :grin


    Aber gekauft hätte ich es mir sowieso nicht, weil ich es dann nämlich genauer unter die Lupe genommen hätte.

  • Rosha


    ich bin tief erleichtert, daß Du es nicht gekauft hast. Uff!
    Kannst ja bei Gelegenheit nach dem Dantzig Ausschau halten. Das ist spannend zu diesem Thema.


    Delphin


    klar. Die Grundfrage ist ja schon falsch. 'Lesen'. Was ist das, bitte? Unterhaltung, Erbauung, Information, Denkanleitung, um welche Art Text geht es? Um welches Alter der LeserInnen?
    Ich krieg schon Bröckchenhusten, wenn ich solche unscharfen Formulierungen nur sehe und das bei diesem hochwichtigen Thema.


    Zu den Leseproben: hat mich auch gewundert. Aber einmal hatte ich dieses 'Drei Erlebnisse ..' udn dafür das zweite Kapitel nicht, ein andermal das zweite und dafür die Einführung nicht. Sehr seltsam.
    Aber mal was anderes. Vielleicht ein neuer Service von Amazon?
    :grin

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Lesen bedeutet für mich persönlich nur Bücher lesen. Aber es gibt auch massig Menschen, die Zeitungen Lesen. Der Gatte liest nur im Urlaub mal ein bis zwei Bücher, ansonsten Metal- oder Tattoozeitungen. Oder auch viel im Internet. Ich glaube, dass es viele lesende Menschen gibt, die heutzutage eher alles über PC/Tablet machen. Dass die Zahl der nicht lesenden Menschen sich verringerter hat glaube ich nicht, zumindest ist sie konstant geblieben. Und es kommen ja immer neue Leser dazu. Meine kleine Nichte wird sog auch mal Bücher verschlingen, denn sie ist ja jetzt schon süchtig.