Der junge Apothekerssohn, der auf den vielversprechenden Namen Otto Unverdorben hört, prüft penibel seine Apparatur. Heute steht ein weiteres Experiment seiner Versuchsreihe an, bei dem er verschiedene seltene Materialien mit Kalkpulver versetzt und unter Luftabschluss erhitzt. „Trockene Destillation“ nennt man damals dieses Verfahren, von dem man sich verspricht neue Materialien zu entdecken. An diesem Tage verwendet er Indigo, diesen kostbaren Farbstoff, den man in diesen Tagen noch aus Pflanzen gewinnt. Noch vor wenigen Jahrzehnten musste man riesige Mengen Färberwaid verarbeiten um eine kleine Menge des blauen Färbemittels zu gewinnen. Inzwischen wird es in Indien aus der Indigopflanze sehr viel effektiver produziert.
Ottos Vater, der vor einigen Jahren verstorben ist, hat sein Apothekengeschäft in einen Materialhandel umfunktioniert, bei dem er seltene Stoffe wie Indigo aufgekauft und gewinnbringend weiter veräußert hat. Dieses Geschäft ist sehr lukrativ und die Familie Unverdorben gehörte zur gehobenen Schicht in der Stadt Dahme im Fläming. Deshalb war eine gute Ausbildung für Otto als ältesten Nachkömmling selbstverständlich. Nach dem Gymnasium in Dresden hat er in Erfurt, Halle und Berlin bei renommierten Wissenschaftlern der Zeit studiert und sich das Wissen und die Fertigkeiten des chemischen Experimentierens angeeignet.
Es hat ihn jedoch nicht sehr lange bei diesen Studienreisen gehalten. Schon nach knapp zwei Jahren ist er in das heimatliche Dahme zurückgekehrt und hat den Dachboden des elterlichen Hauses zu einem Versuchslabor umgebaut. Dort ist es ihm bereits gelungen, aus verschiedenen Harzen interessante neue Verbindungen zu gewinnen. Er träumt davon, eines Tages mit einer spektakulären Entdeckung das Geschäft seiner Familie zu weiterem Aufschwung zu verhelfen.
Das Experiment mit Indigo ist abgeschlossen. Zu seiner Freude gewinnt er aus dem Reaktionsprodukt eine geringe Menge eines farblosen, aromatisch riechenden Öles, das sich an der Luft gelblich verfärbt. Otto stellt verschiedene Untersuchungen mit der Substanz an, um dessen physikalische und chemische Eigenschaften zu bestimmen. Das Erstaunen ist groß, als er herausfindet, dass sich bei der Reaktion mit verschiedenen Säuren farbige Kristalle bilden. Er nennt die Substanz deshalb „Chrystallin“. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen mit Indigo sendet der zwanzigjährige dem wissenschaftlichen Journal „Annalen der Physik“, wo sie 1826 unter dem Titel „Ueber das Verhalten der organischen Körper bei hoeheren Temperaturen“ veröffentlicht werden.
Eine wirtschaftliche Nutzung der interessanten Substanz kann Otto Unverdorben allerdings nicht finden. Er setzt seine Studien nur noch einige Jahre fort, dann ruft ihn die Verantwortung in die Leitung des Familienbetriebes. Auch hier äußert sich sein Drang, neue Wege zu gehen und eingetretene Pfade zu verlassen. Er perfektioniert die Methode der Nikotinanreicherung in Tabakblättern. Dieses Thema stellt sich als wesentlich einträglicher heraus,als das Experimentieren mit chemischen Stoffen. Das Rauchen ist in jenen Tagen dabei, sich zu einem Massenphänomen zu entwickeln. Schon bald entsteht in Dahme eine Zigarrenfabrik, die nicht nur dem Nichtraucher Otto Unverdorben als Eigentümer großen Reichtum beschert, sondern auch vielen Menschen in der Region Arbeit und Auskommen sichert.
Otto Unverdorben wird zu einem der wichtigsten Männer der Stadt. Er sitzt im Stadtrat, steht dem Schützenverein vor und erwirbt ein Rittergut. Auf seinem Anwesen züchtet er die ersten Goldfische der Region und es gelingt ihm in seinen exotischen Gewächshäusern, Ananasfrüchte zu ernten. Als reicher Mann stirbt er 1873. Die Zigarrenfabrik existiert noch bis in die 50er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts und gibt der Bevölkerung über hundert Jahre Lohn und Brot.
Trotz der Verdienste für die Entwicklung seiner Heimatstadt würde man sich an Otto Unverdorben außerhalb von Dahme kaum erinnern, wenn die Substanz die er im Jugendalter entdeckt hatte, nicht eine unvergleichliche Karriere hinter sich gebracht hätte. Nach Unverdorben gewinnen unabhängig voneinander drei weitere Chemiker ein aromatisches öliges Produkt mit unterschiedlichen Methoden. Einmal wird es „Blauöl“ genannt, einmal „Benzidam“. Der Chemiker Carl Fritzsche benennt es nach dem portugiesischen Wort für Indigo: „Anilin“. Ein Schüler des legendären Justus von Liebig, August Hofmann, vollzog alle vier Experimente nach und bewies, dass es sich um ein und dieselbe Substanz handelt. Er schlug vor, der Benennung des Entdeckers zu folgen, und bei „Chrystallin“ zu bleiben.
Dass es dazu nicht kommt, ist dem Umstand zu verdanken, dass Perkin, ein Schüler Hofmanns, 1865 ein Verfahren entwickelt, das den Bezug zum Indigo in den Mittelpunkt stellt. Die Substanz, die Unverdorben noch „Chrystallin“ nannte, konnte man inzwischen aus sehr viel billigeren Ausgangsstoffen gewinnen. Perkins Verfahren beschrieb, wie man in Umkehrung des Experiments von Unverdorben Indigo als Reaktionsprodukt erhalten konnte. Mit der Indigosynthese ist der Weg zum ersten synthetischen Farbstoff geebnet, dessen Ausgangssubstanz seitdem nur noch „Anilin“ genannt wird. Die Wichtigkeit des Stoffes erahnt man, wenn man sich Bedeutung der Namen von großen Chemiekonzernen vor Augen führt: Agfa ist als „Actiengesellschaft für die Fabrication von Anilin“ gegründet worden und die BASF als „Badische Anilin- und Sodafabrik“. Anilin ist inzwischen zu einem der wichtigsten Basisstoffe der chemischen Industrie geworden, der bei der Herstellung von Farbstoffen, Kunststoffen und in der Pharmazie zum Einsatz kommt.
In Dahme besann man sich vor einigen Jahren auf den Sohn der Stadt, dem Entdecker des Anilins. Dort brachte man eine Erinnerungstafel an, seine Grabstelle wurde wieder gepflegt, und man benannte die örtliche Gesamtschule nach ihm. Anlässlich dieser Umbenennung zitierte man in der Festschrift eine Ehrung für Otto Unverdorben, die anlässlich seines Todes 1874 in einer örtlichen Zeitung erscheinen war:
„Bei Männern ist gar sehr beliebt das Rauchen,
die Frauen freudig bunte Farben brauchen,
solange beide Bräuche über’n Fläming gehen,
wird Unverdorbens Name fortbestehen!“