Karins Busen oder wie Superman doch noch starb
Der Sommer 1982 war ein Bilderbuch-Sommer. Die Startbahn-West-Demos waren gelaufen und im kurzen, aber umso heftiger geführten Krieg um Falkland, hatten die Briten den Argentiniern und der übrigen Welt noch einmal gezeigt, was eine ehemalige Weltmacht noch zustande bringt. Im Radio ließ Falco gerade den Kommissar umgehen und ein schwuler Engländer mit vier Tonnen Makeup im Gesicht fragte singend "Do you really want to hurt me?". Schon damals hatte ich bei zig Gelegenheiten immer wieder mit "Yes, I want." geantwortet, so unerträglich schwülstig, wie sich dieser Song anhörte. Italien war gerade Fußball-Weltmeister geworden und meine Kumpels und ich hatten jede Menge Horst Hrubesch-Klebebildchen übrig, die jetzt auch nicht mehr wegzutauschen waren. So ein Mist!
Es war der Sommer, in dem mir bewusst wurde, daß Karin in meiner Klasse war. Liebchen, der eigentlich Markus Liebknecht hieß, sagte eines Tages zu mir: "Du, die Karin hat schon richtig Busen. Ist klasse, oder?". Wir rutschten dabei von der grau angestrichenen Sandkiste herunter, aus dem im Winter die orangefarbenen Jungs immer ihr Streumaterial für die Straßenzüge unserer Siedlung rausnahmen. Diese große graue Holzkiste mit der schrägen Abdeckung, die aussah wie das Dach eines zu klein geratenen Reihenhäuschens, war, seit ich Denken konnte, unser Treffpunkt. Ich sagte zu Liebchen: "Hm, keine Ahnung. Muss ich mir morgen mal angucken." Nachdem wir schon den ganzen Nachmittag auf und neben unserer Kiste rumgehangen waren und der mitgebrachte Fußball mal wieder nur eine Alibi-Funktion hatte, machten wir uns auf den Heimweg. An der Ecke, wo der Gemüse-Karl sein Geschäft hatte verabschiedeten wir uns mit einem herzlichen "Bis morgen, Du Stinkratte!" oder ähnlichen Nettigkeiten.
Am nächsten Tag vergaß ich natürlich mir Karins Busen anzuschauen. Das lag aber nicht an Karin, sondern daran, daß ich vergessen hatte, mich vernünftig auf Biologie vorzubereiten und deswegen einige Probleme mit der Erklärung von Amöben und Röhrenatmern hatte. Ich las im Heft ständig etwas von Röchelatmern. So stand ich also ziemlich belämmert an der Tafel und versuchte einen Querschnitt durch eine Amöbe zu malen. Meine Zeichnung sah aber eher aus, wie die Draufsicht auf ein verschrumpeltes Spiegelei. Da die gesamte Klasse eh schon ein Grinsen im Gesicht hatte, konnte es also nichts schaden dem Spiegelei auch noch zwei Comic-Augen und einen Kussmund zu verpassen. Die Lehrerin verpasste mir daraufhin eine Fünf plus mit dem Hinweis, daß das Plus einzig und allein auf die künstlerische Ausführung meines Amöben-Gemäldes zurückzuführen sei.
So dauerte es also noch eine Woche, bis ich Karins Busen meine Aufmerksamkeit schenken konnte. Und diese eine Woche unbewusste Wartezeit sollte sich lohnen. Freibad war angesagt und die halbe Klasse hatte sich für den Donnerstagnachmittag verabredet. Liebchen kam mit quietschenden Reifen in unserer Garageneinfahrt zum Stehen und legte sein Rad mangels Ständer einfach auf den Boden ab. "Mensch, was treibst Du da eigentlich?", fragte er mich entrüstet und sah dabei auf seine Armbanduhr, die aussah, als ob er sich einen Wecker um das Handgelenk gebunden hatte. "Ich versuche diese Scheißkette wieder einzuhängen!", antwortete ich ihm genervt und wischte mir mit öligen Fingern den Schweiß von der Stirn. "Wir sollten schon längst im Bad sein, Du Hirni.", raunzte er mich an und warf mir nicht nur diese Bemerkung, sondern gleich noch seine flache Hand an den Kopf. Mit einem erstaunlichen Geschick verwandelte Liebchen dann mein Fahrradketten-Mikado in ein funktionierendes Stück Mechanik. Ich war definitiv neidisch auf soviel Sachverstand, beruhigte mich aber damit, daß Liebchen dafür nicht mal die deutsche Nationalelf zusammenbekam und auch keine Ahnung von Supermans größter Schwachstelle hatte. Ich klemmte noch Handtuch und Badehose in den Gepäckträger und wir radelten los.
Unser Freibad war wirklich keine architektonische Meisterleistung und alles andere als gemütlich. Zwar viel grüne Wiese, aber mindestens eben so viel Beton. "So haben die Nazis nun mal gebaut.", hat mein Opa dazu gesagt. Dabei hat er dann immer angefangen von den Autobahnen zu schwärmen. Jeder hatte Arbeit, dafür hatte Hitler schon gesorgt. Mein Hinweis war dann stets, daß Hitler leider auch für ein paar andere Dinge gesorgt hatte, was meinen Opa dann doch schnell wieder dazu brachte, sich dem Bingospiel der Bild-Zeitung zu widmen. Aber Kartoffelbrei konnte mein Opa machen, wie kein anderer. So aus richtigen Kartoffeln, nicht aus Pulvertüten.
Liebchen und ich fuhren an der Westseite der Liegewiese entlang, bis wir an "unserer" Hecke ankamen. Wir schoben die Fahrräder ins Dickicht, warfen unsere Badesachen über den grünen Maschendraht und machten uns daran den provisiorischen Drahtverschluss aufzudrehen, den wir dort angebracht hatten, damit der Zaun bei oberflächlicher Kontrolle unversehrt aussah. Nach wenigen Minuten zwängten wir uns durch die Öffnung und machten uns auf die Suche nach unserer Klasse. "Tina hat übrigens auch schon richtig Busen, wirst ja gleich sehen.", grinste mich Liebchen an. "Sag mal, Du bist wohl total auf Busen fixiert oder was?“, schubste ich ihn von mir weg. Liebchen hatte mir vor ein paar Wochen erzählt, daß er und Tina sich geküsst hatten. Richtig geküsst. Wenn ich dabei so an meine Erfahrungen mit Frauen dachte, dann konnte ich außer einem umfassenden Wissen über Lois Lane (die bekanntlich bereits an einen muskelbepackten Superhelden aus Metropolis vergeben war), einem Kim Wilde-Starschnitt und einem Nena-Poster an meiner Zimmertür nicht viel vorweisen. Tja, Liebchen konnte nach dem Tina-Kuss tagelang von nichts anderem mehr reden, so daß ich heute die Gelegenheit nutzen wollte, meine theoretischen Kenntnisse über Frauen ein bischen aufzupolieren.
Nach dem Umziehen stopften wir unsere Klamotten in ein Schließfach und losten mit einem rasanten Kli-Kla-Kluk-Duell aus, wer von uns Beiden diesmal der Schlüsseldepp sein musste. Liebchen verlor und schlang das bescheuerte Schlüsselband gleich neben seinem Armbandwecker ums Handgelenk. Lächelnd zog er dabei eine blau verspiegelte Sonnenbrille aus seiner Badehose. "Was soll denn das?", fragte ich ihn. "Das ist cool, Du Socke. Die Mädels stehen da drauf.", erklärte er mir und setzte sich das Ding auf die Nase. Achselzuckend warf ich mir mein Handtuch über die Schulter und wir trotteten zu den Steintribünen, die links und rechts das Becken flankierten. Und dort sollte ich dann Karin und ihren Busen treffen.
Karin ging bestimmt schon seit Jahren mit mir in die selbe Klasse, doch irgendwie schien sie mir erst seit Liebchens Bemerkung bewusst geworden zu sein. Er hatte schon recht, sie war wirklich hübsch. Anders hübsch natürlich, als die blonde Kim Wilde, die mich in meinem Zimmer Tag für Tag anlächelte. Aber Kim war weit weg und Karin war zum Anfassen nah. Karins dunkelblauer Badeanzug war zwar nicht gerade der Brüller (immerhin hatte Tina einen sexy weißen Bikini an, ging dafür aber nur mit darübergezogenem T-Shirt ins Wasser), aber Liebchen, Casanova und Fahrradtechniker in Personalunion, hatte eindeutig recht: Karins Busen war unübersehbar. Der Nachmittag schien irgendwie endlos zu sein. Wir lachten viel, jagten die Mädchen durch das Wasser, holten uns Eis, aßen Pommes und tranken Cola. Doch das Wichtigste war, daß ich zum ersten Mal mit Karin redete. Ich redete eigentlich zum ersten Mal überhaupt mit einem Mädchen mehr, als Hallo und Aufwiedersehen.
Es stellte sich heraus, daß Karin über die Nationalelf Bescheid wusste, und daß F.R. David mit "Words" bei ihr rauf und runter lief. Nun, es hätte schlimmer sein können, bei meiner Boy George-Phobie. Sie machte sogar eine nette Bemerkung über meine Spiegelei-Amöbe und ich winkte gelassen ab, als sie die in ihren Augen nicht gerechtfertige Fünf erwähnte. Sie konnte sich an meine Amöbe von letzter Woche erinnern! Liebchen wusste wahrscheinlich nicht einmal mehr, daß er mir vor drei Stunden die Fahrradkette eingehängt hatte, aber Karin bedauerte sogar meine Fünf in Spiegelei-Malerei. Ich war schwer beeindruckt von Karin und schämte mich insgeheim etwas, weil sie mir bisher nie aufgefallen war. Je länger der Nachmittag dauerte, desto mehr war ich davon überzeugt, daß Kim Wilde der überaus charmanten Karin nicht das Wasser reichen konnte. Ok, Kim war blond und in jenem Sommer war blond auf den Bühnen der Popwelt schwer angesagt, aber ich bemerkte gerade, daß kurze braune Haare, vorallem wenn sie an Karin hingen zumindest bei mir und jetzt hier am Beckenrand noch viel schwerer angesagt waren. Bei einer der letzten Wasserjagden, an eben besagten Beckenrand entlang, lief mir Karin direkt in die Arme. Sie kreischte, wie alle Mädchen im Schwimmbad kreischten und sie lachte, wie alle Mädchen lachten, doch als wir aneinander geklammert ins Wasser fielen und uns dort nicht so schnell wieder losließen, war mir klar, daß nur Karin sich so anfühlen konnte.
Es wurde langsam Abend und außer Liebchen, Tina, Karin und mir, waren nur noch ein paar Wenige aus unserer Klasse da. Karin saß schon seit geraumer Zeit mit ihrem Shirt über den Schultern auf ihrem Handtuch, als sie mich fragte: "Würdest Du mir kurz mit dem Schließfach helfen? Das klemmt nämlich und ich muss jetzt gehen." Im Wissen, daß Liebchen eigentlich der richtige Mann für technisch grobe Problemlösungen war, sprang ich auf: "Klar, ist doch kein Thema. Ist ein Kinderspiel." Liebchen grinste mich hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille an und sagte: "Bis gleich und wenn Du Hilfe brauchst, sag' einfach Bescheid." Ich nahm Karins Fahrradkorb und ging mit ihr zu den Umkleidekabinen an der Rückseite der Steintribünen. Wir sagten kein Wort, bis Karin den Schlüssel in ihr Schließfach steckte und den Spind mit einem Ruck aufzog. "Ah.", brachte ich lahm hervor und versuchte sie dabei nicht anzuschauen, weil ich sicher war, daß irgendetwas Schlimmes passieren würde, wenn sich unsere Blicke treffen würden. Wir schauten uns dann aber doch an und küssten uns plötzlich. Erst nur Lippen auf Lippen und dann richtig. Mir wurde heiß und kalt und schwindlig und ich spürte, daß meine Badehose merklich enger wurde. Karin zog mich in die nächste Umkleidekabine und dort küssten wir uns wieder und wieder. Als wir außer Atem waren und ich fix und fertig und dachte, daß meine Badehose gleich explodieren müsste, zog Karin sich den Badeanzug aus.
Das einzig Aufregende, was danach noch passierte, war meine einsetzende Erkenntnis, daß Karins Busen etwas unvergleichlich Tolles war. Noch in der gleichen Woche schenkte ich mein mühsam ertauschtes, fast vollständig eingeklebtes WM-Mannschaftsalbum und die vielen doppelten Horst Hrubesch-Bildchen meinem kleinen Bruder. Und obwohl Liebchen und ich noch einige Zeit auf unserer grauen Sandkiste verbrachten, sprachen wir seit dem Sommer '82 nie mehr darüber, ob Superman wirklich Spiderman besiegen hätte können.
(c) Doc Hollywood, 2005