OT: Linnets and Valerians 1964; dt. 1966
Dieses Buch erschien 1964, aber es spielt in einer längst vergangen Zeit in einem England, in dem man auf dem Land noch mit Pferdewagen fuhr, kleine Mädchen Schürzen und Knopfstiefel trugen, kleine Jungen davon träumten, auf dem Rücken eine Pferds tolle Abenteuer zu erleben und Väter Offiziere in Indien waren.
Der Vater von Nan, Robert, Timothy und Betsy Linnet ist ein solcher Offizier. Da ihre Mutter tot ist, mußten die Kinder zu Großmama nach England ziehen. Großmama ist eine Dame, mit Gesellschafterin und Schoßhündchen, ihr Haus steht voller zierlicher Möbel und Porzellan. Tobende Kinder und Großmama ergeben keine gute Mischung, auch wenn Nan, die Älteste, eher Ersatzmutter ist und bemüht, die Streiche der jüngeren einzudämmen. Aber auch sie sieht ein, daß es so nicht weitergehen kann und als Robert vorschlägt, daß sie durchbrennen, stimmt sie zu.
Allerdings ist Durchbrennen nur lustig, solange die Sonne scheint. Wenn es anfängt zu dämmern, Timothy Angst bekommt und Betsy Hunger, sieht die Sache anders aus. Klar daß Robert den kleinen Wagen mit dem Pony klauen muß, sie sind zu erschöpft zum Weitermarschieren. Daß im Wagen ein Korb mit Lebensmitteln steht, ist ein Zeichen des Schicksals. Daß es Robert nicht schafft, das Pony dahin zu lenken, wohin es nicht will, auch. So landen die Kinder spätabends vor einem uralten Haus, in dem ein uralter Mann wohnt. Der kann Kinder nicht ausstehen.
Das ist nur der quicklebendig erzählte Einstieg in eine Kindergeschichte voller Abenteuer und Magie. Die Magie wirkt auf zwei Ebenen. Zum einen geht es um Familienbeziehungen. Unglückliche und einsame Menschen finden über viele Verstrickungen wieder zusammen. Das Beeindruckende dabei ist, daß Kinder hier mit größtem Respekt behandelt werden. Es gibt Verhaltensregeln, aber die sind durchschaubar und jeweils dem Alter der Kinder entsprechend auch einzuhalten. Es wird in jeder Hinsicht differenziert. Wer über die Stränge schlägt, hat die Folgen zu tragen, aber sie sind nie unangemessen. Die Kinder agieren dabei immer selbständig und werden in ihrer Selbständigkeit von den Erwachsenen unterstützt. Sogar der verabscheute Schulunterricht wird auf diese Weise schließlich erträglich.
Auf der anderen Ebene ist echte Magie am Werk. Die Geschwister sind in einem Dorf gelandet, in dem es Hexerei gibt und wo eine alte Naturmagie am Werk ist. Tiere können ihre Gestalt ändern, in Spiegeln sieht man Seltsames, Wege im Wald verändern ihren Lauf. Sie kommen einem alten Fluch auf die Spur, am Ende geht es um Sekunden, wenn sie ihn brechen wollen. Dieser Fantasy-Anteil ist nahtlos in den Alltag der Kinder eingebaut. Es ist ihr Kinderblick, die Unbefangenheit, die nicht immer haarscharf zwischen Märchen und Realität unterscheidet, der sie auf aufmerksam macht für das, was sich abspielt. Neben normalen Geschwisterrangeleien gibt es beängstigende Fluchten durch den Wald, eine Katze ist in einem Augenblick ein ganz normales Tier, dann plötzlich ein Hexenkater mit tödlichem Blick. Der Besitzer des kleinen Ponywagens ist ein Hausdiener, in einer Mondnacht aber – vielleicht? – ein Elf, der mit den Bienen im Bund ist.
Dieses Schweben zwischen Magie und Realität hält Goudge bis zum Ende durch. Es ist ein gutes Ende, aber das haben sich die Beteiligten auch redlich verdient.
Diese Geschichte gehört zu einer ganzen Reihe älterer Fantasygeschichten, die heute fast vergessen sind, was bedauerlich ist. Sie sind ein wenig altmodisch im Ton, zeichnen sich aber durch besondere Ideen und vor allem Konzepte aus, die noch nicht aus den vier, fünf Komponenten bestehen, zu denen Fantasyerzählungen heutzutage zusammengeschmolzen sind. Es ist ein gute Tradition und es lohnt sich, diese Bücher wieder auszugraben.