Orkun Ertener: Lebt

  • Orkun Ertener: Lebt
    FISCHER Scherz 2014. 640 Seiten
    ISBN-13: 978-3651013674. 19,99€


    Verlagstext
    Eine einzige Begegnung nimmt Can Evinman alle Gewissheiten. Und bedroht seine Identität. Vielleicht auch sein Leben …
    Während der Arbeit an der Autobiographie der prominenten Schauspielerin Anna Roth wird Ghostwriter Can Evinman auf schockierende Weise mit seiner eigenen Lebensgeschichte konfrontiert: Seine Eltern, die vor fünfunddreißig Jahren bei einem Unfall ums Leben kamen und ihn als achtjähriges Kind traumatisiert zurückließen, scheinen in Wahrheit einem Verbrechen zum Opfer gefallen zu sein. Einem Verbrechen, das auch in Anna Roths Familie tiefe Wunden geschlagen hat. Gemeinsam versuchen Can und Anna herauszufinden, was wirklich passiert ist, und stoßen in Thessaloniki auf ein einzigartiges Kapitel der jüdischen Geschichte im 17. Jahrhundert, das bedrohlich bis in die Gegenwart reicht und eng mit dem Schicksal ihrer beider Familien verknüpft ist. Doch ihre Entdeckungen sind nicht ungefährlich. Denn jemand scheint großes Interesse daran zu haben, dass die Wahrheit im Verborgenen bleibt. Und schreckt vor nichts zurück. Auch nicht vor Mord … »Lebt« verwebt Fiktion und Wahrheit zu einem ungewöhnlichen, packenden Thriller – und mit jeder Enthüllung steigt die Gewissheit, dass die Wahrheit oft eine ganz andere ist als wir denken.


    Der Autor
    Orkun Ertener, geboren 1966 in Istanbul, lebt seit 1970 in Deutschland. Seit 1994 arbeitet er als Autor vorwiegend fürs Fernsehen und wurde für seine Arbeit vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Adolf-Grimme-Preis für »KDD – Kriminaldauerdienst«. Die von Ertener entwickelte Serie, die auch international Beachtung fand, wurde von der Kritik als herausragend wahrgenommen und einhellig bejubelt. Der Autor lebt mit seiner Familie in Köln.


    Inhalt
    Can Evinman ist ein Söldner des deutschen Literaturbetriebs, er schreibt als Ghostwriter Prominenten-Biografien. Zurzeit verarbeitet er mit der bekannten Schauspielerin Anna Roth deren Leben. Der mediale Vermarktungsprozess der Lebenserinnerungen der gerade Vierzigjährigen wird bald anlaufen. Ähnlichkeiten mit dem Lebenslauf realer Promis sind vorhanden und ebenso wie Namedropping vermutlich beabsichtigt. Can soll offenbar über den Umweg dieses Auftrags geködert werden, sich mit Ereignissen während des Nationalsozialismus zu befassen. Es geht um die Enteignung von sephardischen Juden in Thessaloniki während der deutschen Besetzung der griechischen Stadt. Drei Deutsche waren in die Vorfälle verstrickt: Max Merten, als Verwaltungsrat zuständig für die Versorgung der Stadt und die Beschlagnahmung jüdischen Vermögens, Martin Eissler, Chef der SS-Dienststelle in der Stadt (später Anna Roths Schwiegervater) und Eisslers Lakai Mahler. Gemeinsam betrieben sie 1943 die Enteignung des Tabakunternehmens der Familie Counio. Ein Einheimischer, der damals den Weg der drei kreuzte, heißt Evinman, genau wie Can. Sollte zwischen Cans Vorfahren und den Vorfahren seiner Auftraggeberin durch den Tabakimporteuer Galip Can Evinman eine Verbindung bestanden haben?


    Der professionelle Ghostwriter ist sich des Verkaufswertes der bisher unbekannten Geschichte sehr bewusst. Can, der mit Frau und Kindern das sorgenfreie Leben einer Hamburger Mittelschichtfamilie führt, ist selbst durch den Tod seiner Eltern um seine Erinnerungen und seine Herkunft betrogen worden. Je weiter er den damaligen Ereignisse in Thessaloniki nachspürt, je deutlicher wird ihm, dass er bisher wie ein Mensch ohne Vergangenheit gelebt hat. Can ist bei deutschen Pflegeeltern aufgewachsen und konnte sich deshalb nie entscheiden, ob ihn die Geschichte seines Volkes interessiert oder nicht. Seine Familiengeschichte verschwand einfach, wurde vielleicht auch im guten Glauben verschwiegen, das Kind damit vor traumatischen Erinnerungen zu schützen. Wenn eine winzige Volksgruppe wie die Ladino sprechenden Sepharden in alle Winde zerstreut wird, stirbt ihre Sprache unter dem Druck der Assimilation aus. Can ist das lebendige Beispiel für diese tragische Folge eines Integrationsprozesses.


    Die faszinierende Geschichte der Stadt Thessaloniki als „Jerusalem des Balkans“ mit ihrer legendären Religions- und Berufsfreiheit und der Dönme, den Nachfahren sephardischer Juden, hat Orkun Ertener solide recherchiert und verknüpft sie mit einer krimireifen Spurensuche. Thessalonikis jüdische Bevölkerung wurde in ihrer durch einen Brand zerstörten Heimatstadt bereits 1917 im Rahmen der Zwangsumsiedlung von Griechen aus der Türkei durch diese Flüchtlinge verdrängt. Die Dönme waren als Konvertiten formal zum Islam übergetreten, weil sie sonst keine politischen Ämter hätten übernehmen können. Die nationalsozialistischen Besetzer erklären die Dönme wieder zu Juden, um ihr Vermögen beschlagnahmen zu können. In der Folge kommen 50 000 Bürger Salonikis in Ausschwitz ums Leben. Um den unvorstellbar kostbaren Goldschatz, der in Thessaloniki zusammengerafft wurde und an Bord eines Schiffes gesunken sein soll, ranken sich noch immer Legenden professioneller Schatzsucher.


    Fazit
    Die Verknüpfung des persönlichen Schicksals eines Sohns sephardischer Juden mit den historisch belegten Ereignissen in Thessaloniki fand ich ausgesprochen fesselnd, das Thema des Kulturverlusts durch Assimilierung höchst aktuell. Überlappung von Kultur, Identität und Nationalität, das von Can als reich empfundene Leben mit zwei Muttersprachen, verwaiste und wiedergefundene Kinder; der spannenden Verknüpfung all dieser Themen kann man sich nur schwer entziehen. Schließlich baut sich die Erkenntnis auf, dass gestohlener Reichtum völlig nutzlos sein kann, wenn ein Betrüger außer dem geraubten Vermögen selbst kein Talent, keine Geschäftsbeziehungen und keine Begeisterung für sein Metier mitbringt.


    Can Evinman muss in einer sehr verschachtelten Handlung erst in mehrere Länder reisen und sich krimireif in Lebensgefahr begeben, damit der üppige Plot eine Lösung finden kann. Ohne die umfangreichen Nebenhandlungen und die übersprudelnde Fülle sehr ausführlich ausgearbeiteter Nebenfiguren hätte mir Orkun Erteners Buch erheblich besser gefallen. "Lebt" Ist der Roman eines Mannes, seiner Familiengeschichte, seiner Bücher und seiner Stadt. Das allmähliche Vordringen durch viele Schichten von Erinnerung als würden alte Tapetenschichten freigelegt, muss man mögen. Mir waren es zu viele Schichten und zu viele Verzögerungen. Ich empfehle das Buch entdeckungsfreudigen Lesern, die sich gern ohne feste Genre-Zuordnung auf einen Roman einlassen.


    8 von 10 Punkten