Michael Kleeberg: Vaterjahre
Deutsche Verlags-Anstalt 2014. 512 Seiten
ISBN-13: 978-3421043559. 24,99€
Verlagstext
Ein zeitgenössisches Sittenbild und ein deutsches Jahrhundertpanorama
Ein Mann, seine Frau(en), seine Kinder, seine Familie, seine Arbeit, seine Freunde. Seine Stadt. Seine Zeit. Karlmann Renn ist ein moderner Jedermann zwischen Lächerlichkeit und Triumph, und sein Alltag, der Weltalltag unserer Epoche. Der Roman erzählt von der Liebe und Sorge eines Vaters, von Selbstbehauptung im Beruf, von der Konfrontation mit Kindheit und Familie, den Abgründen der Freundschaft, den Verlockungen des Ausbruchs und vom Einbruch des Todes. es ist die Geschichte des mühevollen Reifeprozesses und der Bewährungsproben Karlmann Renns, der sein Leben ohne die Tröstungen der Religion, der Kunst und der Philosophie meistern muss. Michael Kleeberg gestaltet seine Welt mit vielfältigen Stimmen, Klängen und Rhythmen, durch die multiplen Perspektiven seines Erzählens. Komik und Tragik, Lakonie und Zärtlichkeit – die sprachschöpferische Lust dieses Romans ist so groß wie seine Präzision unerbittlich.
Der Autor
Michael Kleeberg, 1959 in Stuttgart geboren, studierte Politische Wissenschaften und Geschichte. Nach Aufenthalten in Rom und Amsterdam lebte er von 1986 bis 1999 in Paris. Heute arbeitet er als freier Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Für sein literarisches Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. 2008 als Mainzer Stadtschreiber. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen: „Ein Garten im Norden“ (1998), „Der König von Korsika“ (2001) und "Karlmann" (2007). 2010 erschien der Roman „Das amerikanische Hospital“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde und für den Michael Kleeberg 2011 den Evangelischen Buchpreis erhielt. Mit „Vaterjahre“ legt er nun einen neuen großen Roman vor.
Inhalt
Die Angst trifft Charly Renn am 14.9.1994 mitten auf der Hamburger Köhlbrandbrücke. Der Moment, in dem er plötzlich nicht mehr weiterfahren kann und sich von seiner Frau abholen lassen muss, wird als größtmögliche Peinlichkeit in seiner Erinnerung eingebrannt bleiben. Karlmann Renn, kaufmännischer Leiter eines Hamburger Schiffsmaklers, war im Zuge einer McKinsey-Unternehmens-Beratung aus dem Berufsleben heraus optimiert worden. Charly befindet sich im besten Mannesalter, in dem seine Geschlechtsgenossen überproportional häufig den plötzlichen Herztod sterben. Seine Angstattacke führt Charly zu einer Verhaltenstherapeutin, deren Stimme fortan Charlys Kümmernisse aus mütterlich-ironischer Distanz kommentiert. Mit anderen offen über seine Therapie sprechen kann Charly nicht, sie lässt sich zum Glück als Coaching verharmlosen. Seine Treffen mit der Therapeutin Petra Wedekind erweisen sich als Notbremsung in letzter Minute; um über Gefühle reden zu können, hat Charly in seinem Leben schon immer die Zuwendung von Frauen benötigt.
Karlmann Renn hat mit Mitte 40 in kurzer Zeit alle für sein Leben wichtigen Entscheidungen getroffen: er hat Job, Haus, eine standesgemäße Ehefrau und zwei Kinder. Familie als Heimat bedeutet Charly viel, denn als Kind musste er ein Nomadenleben quer durch Deutschland führen, weil sein Vater mehrfach die Stelle wechselte. Charlys und Heikes Leben scheint momentan zu stagnieren; denn was soll man sich noch erzählen, nachdem die Karriere in die Wege geleitet ist und die Kinder gezeugt sind? Während Charly tagsüber im Beruf mit Millionenwerten jongliert, würden seine Kinder dringend seinen Trost benötigen; denn der Hund der Familie wird bald sterben. Noch geizt Charly mit seiner Nähe zu Luisa und Max; er kann am Abend nur schwer von beruflicher Anspannung in die Vaterrolle umschalten. Berufliche Kaltschnäuzigkeit mit Sensibilität im Privatleben zu vereinbaren, gelingt in Charlys Generation wohl nur wenigen Männern.
Nach der für Charly traumatischen Zwangsverschlankung seiner alten Firma arbeitet er inzwischen beim traditionsreichen Kautschukimporteur Sieveking & Jessen. Der alte Jessen ist ein typischer Hamburger Pfeffersack, der von seinen Mitarbeitern gediegene hanseatische Herkunft und die Führungsqualitäten eines Seemannes erwartet. Jessen stellt Charly ein aufgrund seines passenden Stallgeruchs einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Um seine Position des Alphamännchen zu sichern und die alteingessene Firma in die Zukunft zu führen, setzt Jessen seinem Neffen und Geschäftspartner mit Charly einen starken Konkurrenten vor die Nase. Revierverteidiger und Eindringling könne sich nun ähnlich wie Raubkatzen gegenseitig in Schach halten.
Spätestens an dieser Stelle taucht die Frage auf, ob Charlys Egozentrik ihn zu stark in den Mittelpunkt des Romans gestellt hat. Blieb Heike für eine moderne, berufstätige Frau in der Geschichte nicht zu stark im Schatten ihres Mannes? Könnte der gewiefte Charly seine Lebensplanung evtl. auf Sand gebaut haben, indem er die spontane Entscheidung für die Mutter seiner zukünftigen Kinder der dynastischen Planung einer Eheschließung vorzog? Verbirgt sich im Geschäftsanzug hier womöglich ein Emporkömmling als leichtsinniger Blender? Aus der Familiengeschichte entfaltet sich nun die mit großer Lebensklugheit beobachtete Beziehung zwischen Charly und seinem Jugendfreund Kai und, überraschend, richtet sich der Blick des Autors auf eine Ehe mit gesamtdeutscher Vorgeschichte. Charly zeigt sich dabei als schwieriger Zeitgenosse, der nur schwer akzeptieren kann, dass andere Menschen andere Erinnerungen hüten und wichtige Ereignisse schon vor seiner Zeit stattfanden.
Der Bogen schließt sich mit dem Sterben des Hundes. Zwar wissen wir auch jetzt noch nicht, ob Charlys seemännische Qualitäten inzwischen hanseatischen Ansprüchen genügen, doch hat er in einer entscheidenden Situation wie ein Kapitän in Seenot gehandelt. Charlys Lebensthema ist „die Verknöcherung der sozialen Fontanelle“, ein Prozess, den Michael Kleeberg aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Kleebergs umfangreiche Personenliste, eng von Hand geschrieben, umfasst eine komplette Seite des Vorsatzpapiers und lässt bereits ein komplexes Beziehungsgefüge ahnen. Der Erzähler wechselt seinen Focus rhythmisch zwischen Familie, Beruf und Freundeskreis Charlys, schiebt sich an einigen Stellen sogar vorwitzig in der Wir-Form in den Vordergrund oder greift in die Zukunft vor.
Fazit
Mit "Vaterjahre" legt Michael Kleeberg einen brillant komponierten Roman der um 1960 geborenen (Männer-)Generation und der 90er Jahre vor. Es ist ein Buch über Obsessionen und Fehleinschätzungen, über Freundschaft, die Arbeitswelt von Kaufleuten in Zeiten einer kriselnden Weltwirtschaft und über hanseatische Tugenden. Zudem ein gelungenes Portrait der Generation von Vätern, die Beruf und Familie noch nicht so glatt miteinander vereinbaren können, wie sie es sich einmal erhofft hatten. Ein für mich durchweg interessanter Blick in die Innenwelt Hamburger Kaufmannsfamilien wandert weiter zu Männerfreundschaften und schließlich zur gesamtdeutschen Familiengeschichte, an der Charly offenbar noch immer zu knabbern hat. Die Schicksale, die Kleebergs fiktive Figuren aus dem damals real existierenden geteilten Deutschland mit in die Gegenwart bringen, haben mich unerwartet tief berührt und seinen Roman damit - für mich - zu einem der besten Bücher des Jahres gemacht.
10 von 10 Punkten