Maries Akte - Kerstin Schneider

  • Info:


    „Maries Akte“ erzählt die wahre Geschichte zweier Frauen, die beide „verrückt“ waren und über deren Schicksal der Zeitgeist völlig unterschiedlich richtete: Magdalena Kade glaubte 1866, die Mutter Gottes zu sehen. Ihre Großnichte Marie bildete sich 1928 ein, sie sei Jesus. Doch während Magdalena noch heute als „böhmische Bernadette“ verehrt wird und die katholische Kirche ihre Erscheinung „anerkannt“ hat, wurde ihre Großnichte Marie fast 100 Jahre später von den Nazis als „lebensunwertes Leben“ im Rahmen der NS-„Euthanasie“ ermordet. Über Marie, die Großtante der Autorin, wird in der Familie nicht geredet. 19 Jahre alt ist Kerstin Schneider, als sie zum ersten Mal in einer abfälligen Bemerkung am Abendbrottisch von Marie erfährt. Sie wagt nicht nachzufragen. 20 Jahre später macht sich Kerstin Schneider, mittlerweile Journalistin, auf die Suche nach ihrer Großtante Marie. Und stößt auf ein sorgsam gehütetes Familiengeheimnis.


    Die Autorin:


    Kerstin Schneider, geboren 1965 in Bremen, volontierte nach dem Studium bei einer Tageszeitung. Danach war sie vier Jahre vier Jahre Redakteurin bei der taz in Bremen und ist seit 1999 Redaktuerin beim Stern.


    Meine Meinung:


    Ein gut recherchiertes Werk über ein Familiengeheimnis, das zugleich Zeugnis einiger schrecklicher Taten der NS-Zeit ist.


    Die Autorin wird auf ein Familienmitglied aufmerksam, über das zuhause eigentlich nicht geredet wird. Aus diversen persönlichen Gründen beginnt sie nach Jahren dann mit ihrer Recherche, um sich Gewissheit zu verschaffen.
    Dabei taucht sie eigentlich in zwei Geheimnisse ein: einmal geht es um Marie, die Großtante der Autorin, aber auch um eine noch ältere Verwandte, die sogar sehr berühmt ist: Magdalena Kade, die "böhmische Bernadette". Diese ist wiederum Großtante von Marie.
    Beide verbindet ein religiöses Schicksal, allerdings führte dies bei Magdalena zur Verehrung ihrer Person, Marie hingegen wurde als Schizophrene unter den Nazis als unwertes Leben getötet. Während Magdalena behauptete, ihr sei die Mutter Gottes erschienen, behauptete Marie, sie sei die Wiedergeburt Jesu.
    Was Magdalena berühmt machte, wurde Marie zum Verhängnis: sie wurde als psychisch erkrankt eingestuft und landete in der Anstalt, wo sie nur noch vor sich hinvegetierte, bis sie total unterernährt (den Insassen wurden offiziell die Nahrungsmittel gekürzt, um sie so bewußt in den Tod zu treiben) im Jahre 1942 verstarb.


    Kerstin Schneider verknüpft Schilderungen ihrer Recherchen mit historischen Abläufen, was das Ganze sehr flüssig zu Lesen macht. Es gibt reichlich s/w-Fotos im Buch und sehr ausführliche Quellenangaben. Interessant ist dabei auch der Blick der Autorin auf die Frage, ob Schizophrenie vererbbar ist. Diese Ungewissheit schwingt in vielen Kapiteln mit und macht das Buch zugleich zu einem sehr persönlichen Werk.
    Sozusagen als Nebeneffekt ihrer Familienrecherche entlarvt sie einen noch nach der NS-Zeit hoch angesehenen angeblichen "Arzt", Robert Herzer, des Betrugs (er hat nie ein Medizinstudium absolviert) und der Morde an zahlreichen Insassen der Anstalt. Herzer hat es nach dem Krieg trotz Gefängnisaufenthalts geschafft, mit gefälschten Papieren eine führende Position beim TÜV Baden zu bekommen und wurde offiziell "Medizinalrat"! Er verstarb dann plötzlich 1969 im Alter von 59 Jahren und wurde mit Lob und Ehre beigesetzt...


    Ein interessantes Zeitzeugnis, sehr empfehlenswert!!

    ...der Sinn des Lebens kann nicht sein, am Ende die Wohnung aufgeräumt zu hinterlassen, oder?


    Elke Heidenreich


    BT