Die Erzählung erschien erstmals 1874 in Westermanns Monatsheften. Angeregt dazu wurde Raabe schon im Vorjahr während eines Erholungsaufenthalts im Harz. In einem Städtchen in der Nähe von Harzburg gab es tatsächlich eine Apotheke, deren Besitzer das war, was man zu der Zeit einen Sonderling nannte. Apotheker wie Inhaber faszinierten Raabe erwartungsgemäß, sein scharfer Blick auf Menschen unter bestimmten Umständen sowie die düstere Sagen – und Märchenwelt der Gegend taten ein Übriges.
Zum Wilden Mann heißt die Apotheke eines kleinen Städtchens im Harz. Doch weder ihr Besitzer, der herzensgute Philipp Kristeller, noch seine Schwester Dorette, die ihm liebevoll den Haushalt führt noch die guten Freunde der beiden, der Arzt, der Pfarrer und der Förster des Städtchens haben etwas an sich, das sie auch nur eine Meile in seelische Verwandtschaft mit dem Bösen der gleichnamigen Sagengestalt bringen würde.
Es sind liebe Menschen, rundum. Sie kennen kaum etwas über ihr Städtchen hinaus. Ihre Welt, die sich zu ihren Lebzeiten deutlich vergrößert hat, um Indien, China, Afrika und den ganzen lateinamerikanischen Kontinent, kennen sie bloß aus Schnipseln in der Presse, meist sensationeller Natur, und Bildern. Diese Bilder, Kupferstiche, billige Farbdrucke und Ölschinken hängen zuhauf an den Wänden der Apotheke. Schlachten, von Cäsar bis Napoleon, zu verehrende Monarchen, rührende Szenen auf dem Schafott oder an Todesbetten, Waisenkinder im Schnee und ‚Neger‘, die neben einer Palme von riesigen Schlangen gefressen werden sind die Sujets.
Alles, was da draußen passiert, befindet sich in ordentlichen Rahmen und oft auch gleich hinter Glas sicher an die Wand genagelt.
Die ehrenwerten Herren treffen sich oft abends in der Apotheke, rauchen, reden, trinken, träumen von ‚da draußen‘. Es ist gibt nur eine Besonderheit, am Tisch steht ein Ehrenstuhl, der immer leer bleibt. Höflich, wie man ist, stellt man keine Fragen, sondern nimmt diese Eigenheit des Apothekers hin.
In diese ruhige Welt, platzt in einer dunklen und stürmischen Nacht ein Fremder. Es ist nicht irgendeiner, es handelt sich um den Abgesandten des brasilianischen Kaisers Colonel Dom Agostin Agonista. Sagt er. Arzt, Apotheker, Pfarrer und Förster sind hingerissen. Natürlich wird er eingeladen zu bleiben, natürlich erzählt er aus seinem Leben. Aufregend war es, großartig und doppelt so bunt wie der bunteste Öldruck an der Wand.
Nun verhält es sich so, daß Kristeller seine Apotheke dreißig Jahre zuvor mit Hilfe eines hohen Darlehens, das ihm ganz überraschend ein etwas seltsamer Freund überlassen hat, erworben und zu einem recht erfolgreichen kleinen Unternehmen gemacht hat, u.a. mit einem eigens kreierten Magenbitter. Nach Übergabe von Geld und Darlehensbescheinigung ist der Freund spurlos verschwunden. Der Apotheker hat es ihm nie vergessen, für den Verschwundenen steht auch der Ehrenstuhl am Tisch seines Hauses. Der Fremde nun gibt sich als dieser verschwundene Freund zu erkennen. Die Rührung ist ungeheuer. Sie hält auch an, als der weitgereiste und welterfahrene Mann einige Tage später sein Geld zurückfordert, mit Zinsen für dreißig Jahre.
Anstand und Ehrlichkeit zwingen den Apotheker, der Forderung umgehend nachzugeben. Das ist das Ende seines Unternehmens, er ist ruiniert. Colonel Dom Agonista kann mit gut gefülltem Beutel abreisen. Die Freunde werden nie verstehen, was dem Apotheker widerfahren ist, sie bedauern sein plötzliches Unglück. Helfen tun sie auch, bei der letzten Versteigerung bieten sie großherzig einige Taler für das Mobiliar der Apotheke. Der Pfarrer erwirbt den Ehrenstuhl.
Raabes Texte lesen sich nicht ganz einfach, er erzählt ungemein wortreich, regelrecht pusselig. Er legt Schicht auf Schicht, Märchenmotive bilden Boden darunter. Die Lektüre erträglich machen seine Ironie, die Bitterkeit und seine sanfte Wehmut, mit der er die lieben, guten, aufrechten Personen beschreibt, die er hier zur Schlachtbank führt. Die Erzählung wird - ich gebe zu, zu meiner Verwunderung – in der Regel dahingehend interpretiert, daß die Macht des Gelds und damit die modernen Zeiten, vorgeführt mit der Bezugnahme auf Brasilien als weite Welt und Ende der geographisch-ökonomischen Enge, der beschaulichen alten Welt den Untergang bringen. Das muß eine andere Geschichte sein, die mit dem Titel Zum Wilden Mann erzählt das entschieden nicht.
Sie beschreibt vielmehr, wie eine Gruppe naiver und dadurch zugleich bornierter Menschen an der Nase herumgeführt werden, weil sie nie bedacht haben, daß die Welt kein gemütlicher Ort ist. Sie leben in einer Seifenblase. Sie stellen keine Fragen, sie sehen mit Mühe bis zu ihrer Nasenspitze. Sie sind Gläubige, wie man sie blinder kaum denken kann. Wie Kinder begeistert sie alles Fantastische. Tritt das Fantastische aber lebendig vor sie, erkennen sie es nicht. Fakten interessieren sie nicht, alte Legenden halten sie für Wahrheit, Gefühl verwechseln sie mit Sentimentalität, Philanthropie mit Politik, Romantik mit Ökonomie.
Es ist streckenweise herzzerreißend, hat man sich erst an den raabeschen Duktus gewöhnt, mit welcher Unerbittlichkeit er das Vorgehen des Colonels und die Bereitschaft Kristellers beschreibt, sich in den Abgrund zu stürzen. Nie wurde ein Schaf williger geschoren. Der Wilde Mann ist erschienen und was mit den Einfältuigen geschieht, ist einfach gruselig. Wie im Märchen.
‚Das Schicksal bewahre die Welt vor braven Menschen‘, möchte man am Ende rufen.
So ist Raabes Zum Wilden Mann eine hochmoralische Erzählung besonderer Art. Statt die üblichen Tugenden zu preisen, warnt er vor ihnen. Und davor, Märchen und Realität nicht scharf zu unterscheiden.
Verlinkt habe ich eine alte Reclam-Ausgabe, die Erzählung ist aber in Sammlungen von Raabes Erzählungen enthalten, etwa die bei Manesse. Eine neuere Einzelausgabe scheint es zur Zeit nicht zu geben. Der Text ist aber auch über Projekt Gutenberg zu lesen.