6 Uhr 41 - Jean-Philippe Blondel

  • 6 Uhr 41
    Jean-Philippe Blondel
    Übersetzerin: Anne Braun
    Deuticke Verlag
    ISBN: 978-3552062559
    192 Seiten, 16,90 Euro


    Über den Autor: Jean-Philippe Blondel wurde 1964 im französischen Troyes geboren, wo er heute auch als Autor und Englischlehrer mit seiner Familie lebt. Sein Roman "6 Uhr 41" wurde in Frankreich ein Bestseller. Auf Deutsch erschien zuletzt der Roman "Zweiundzwanzig".


    Kurzbeschreibung: Cécile sitzt im Zug, der Platz neben ihr ist frei, ein Mann setzt sich. Cécile erkennt ihn sofort: Philippe Leduc – vor fast dreißig Jahren war sie mit ihm zusammen. Und auch Philippe hat sie sofort erkannt. Doch sie schweigen – beide. Soll er sie ansprechen? Was könnte sie – nach all den Jahren – zu ihm sagen?


    Meine Meinung: Eine Situation, die vielleicht dem einen oder anderen nicht unbekannt ist – plötzlich sieht man jemanden, den man schon Jahre nicht mehr getroffen hat und was dann? Wie findet man erste Worte und vor allem, welche? Was sagt man jemandem nach so langer Zeit, vor allem, wenn der Abschied damals nicht gerade harmonisch zu nennen war?


    Das sind die Fragen, die Cécile und Philippe ganz plötzlich und ungewollt beantworten müssen, als sie sich nebeneinander im Zug wiederfinden. Natürlich kann man Zeit schinden und erst einmal so tun, als ob man den anderen nicht erkannt hat und warten, dass er/sie den ersten Schritt tut.


    Und so sitzen die beiden, deren Leben sie vor Jahren in unterschiedliche Richtungen getragen hat, unerwartet nebeneinander und fahren nun unfreiwillig gemeinsam in eine Richtung, wenn auch nur für kurze Zeit und tun so, als seien sie einander niemals begegnet.


    Jean-Philippe Blondel erzählt diese für beide etwas unangenehme Situation mit einem leichten Humor. Er scheint sich selber darüber zu amüsieren, in welch peinliche Lage er seine Figuren gebracht hat. Nachdem weder Cécile noch Philipe eine erste spontane Reaktion gezeigt haben, sind sie gezwungen, weiterhin so zu tun, als wüssten sie nicht, wer der jeweils andere ist, während ihre Gedanken unablässig um die Zeit kreisen, in der sie zusammen waren und um das, was damals geschehen ist.
    Fast dreißig Jahre ist es her und doch ist nichts vergessen und neben der Erinnerung, die sich bei beiden einstellt, werfen sie auch einen kritischen Blick auf ihr aktuelles Leben, nicht ohne den anderen zu heimlich zu mustern und zu spekulieren, was aus ihm geworden ist.


    Mein Fazit: Es macht sehr viel Freude, diese kleine leise und typisch französisch wirkende Komödie zu lesen, die aufzeigt, wie das ganz normale Leben so spielen kann. Die kurzen nachdenklichen und manchmal humorvollen inneren Monologe geben Einblick in zwei Leben, wie sie unterschiedlicher nicht verlaufen konnten und die ganze Zeit steht die Frage im Raum, ob sich einer der beiden traut, den ersten Schritt zu machen, oder ob sie am Ende auseinandergehen, wie zwei Fremde – jeder zurück in sein Leben. 8 Eulenpünktchen für eine schöne leichte und doch auch ein wenig wehmütig machende Sommerlektüre.

  • Was so scheinbar seicht daherkommt, hat einen Tiefgang, der sich erst dann vollständig erschließt, wenn der Leser über das Gelesene nachdenkt. Wenn er es fortdenkt. Jedes Leben entfaltet sich an den Knotenpunkten in eine völlig neue Richtung. Hier scheint es, dass das Leben der beiden Hauptdarsteller vom Wendepunkt an sich genau in die jeweils entgegengesetzte Richtung entwickelt. Vorher war sie treu und unsicher, nachher ist sie oberflächlich und erfolgreich. Und bei ihm ist es genau andersherum.


    Reden sie miteinander? Wer beginnt? Oder gehen sie wortlos auseinander? Beeindruckend das Finale: Sie dreht sie sich noch einmal um und der Leser schreibt die Geschichte weiter. Interessante Perspektive, gut geschrieben, gut gemacht: 9 Eulenpunkte.

  • Aaaaaahhhhhhhh, ich hab das Buch gerade eben beendet und kann gar nicht schnell genug die Rezi schreiben, so voll von Eindrücken bin ich!!!


    Das Buch hat nur 125 Seiten- und müsste und könnte ich alles aufzählen, was ich toll daran fand, würde die Rezi selbst auch nochmal 125 Seiten ergeben!!!


    Das ist ein Buch mit einer Feinsinnigkeit, mit einem flüssigen und schönen Schreibstil, mit Einfühlungsvermögen, mit Charakteristik der Protagonisten - meisterhaft!!!


    Und das alles auf ganz engem Raum, alles spielt sich auf dieser einen Zugfahrt ab, in gerade mal anderthalb Stunden...


    Aber man erfährt einfach so viel über Cécile und Philippe, über ihre Art, wie sie waren und wie sie heute sind...


    Eine Charakterstudie vom Allerfeinsten!


    Und noch dazu hat der Autor doch auch einen Handlungsstrang mit eingewoben, der nicht nur feststehende Eigenschaften schildert, sondern eine Geschichte mit Fortgang erzählt (- was in London passierte...)


    Und was für verrückte verschrobene Gedanken einem manchmal durch den Kopf gehen... (z.b. zum Schluss, das mit dem Wortschatz und Rotstift)


    Dialoge sind überhaupt nicht notwendig in dem Buch und kommen nur extrem spärlich vor - genau so muss es aber auch sein! Dadurch wirken die Gedanken erst so richtig!


    Aber dann sitzt jedes Wort!!! Als tatsächlich endlich etwas gesagt wird, fand ich das so spannend, wie sonst in einem Thriller, wenn ein Mord passiert!


    Weil sich die ganze Dramatik auf diese Situation hin zuspitzt! Einfach genial!


    Und mir gefällt auch extrem, was die beiden Protagonisten im Laufe ihres Lebens für einen Wandel vollzogen haben!


    Ach ja, und man merkt, dass es in Frankreich spielt - natürlich einerseits, weil es erwähnt wird, und durch die Namen usw. - aber auch diese Art, dieses Feine, diese Dramatik im Detail... typisch französisch, wie man sich das eben so vorstellt!!!


    Das ist eins der Bücher, die man jedem in die Hand drücken möchte mit dem dringenden Aufruf: Das musst du lesen!!!


    Toll toll toll!!!


    10 Punkte - was sonst!!!


    edit.


    Ich bin auf dieses Buch aufmerksam geworden durch irgendjemand hier im Forum, habs dann auf meine Wunschliste gesetzt, dann auch auf den Merkzettel bei der onleihe, und da hat es meine Schwester dann entliehen (wir nutzen denselben Leihausweis), sonst hätte ich es jetzt gar nicht gelesen!! Schade, dass ich nicht mehr weiß, von wem der Tipp kam... Tausend Dank jedenfalls für diese Perle!!!

  • Ein Buch, dass nachdenklich macht über die Frage der Wegkreuzungen des Lebens, die Momente die man nicht als solche wahrnimmt, während sie geschehen, aber die das Leben verändern. Zwei Menschen begegnen sich im Zug - erkennen sie wieder nach siebenundzwanzig Jahren und denken nach über ihr Leben und ihre kurze Beziehung mit einer turbulenten Woche in London - einer Zeit ohne die beider Leben nicht so verlaufen wäre wie es verlief und beide denken daran, ist es möglich anzuknüpfen an eine Vergangenheit, die so fern liegt. Mir hat besonders das offene Ende gefallen. Ein schönes Büchlein, das noch lange nachwirken wird.

  • Ein Buch, das sehr zum Nachdenken anregt und bestimmt hat der eine oder andere selbst schon einmal diese Situation erlebt, jemanden von früher/aus Schulzeiten zu sehen und sich die Frage zu stellen: ansprechen oder nicht?


    Interessant die Gedankengänge der beiden Protagonisten, die sich selbst ganz anders sehen als ihr Gegenüber. Gefühle von damals kochen wieder hoch, nicht nur schöne Erinnerungen werden wieder wach. Dazu die immer wiederkehrende Frage was aus dem anderen beruflich wohl so geworden ist. Und natürlich wird das äußere Erscheinungsbild kritisch beäugt.


    Ein kurzes, aber wundervolles Buch. Ein sehr menschlicher Roman. Schöner Schreibstil.


    Macht Lust auf mehr von dem Autoren.

    :lesend Sarah Morgan - Weihnachtszauber wider Willen

    2019: 22 Bücher - 9.987 Seiten

    2018: 16 Bücher - 7.045 Seiten

    2017: 17 Bücher - 8.990 Seiten