Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog - Christopher Clark

  • Christopher Clark (Jahrgang 1960) ist Experte für preußische Geschichte.
    Er stellt die bislang gültige These der Hauptschuld Deutschlands am 1. Weltkrieg in Frage. Er beschreibt die komplexe Verflechtung der Staaten Europas, ihre schwankenden Strategien, ihre jeweilige Situation, ihre Interessen und Einbindung in Bündnisblöcke. Er zeigt die Fehler der beteiligten Staaten auf, ohne die Schuld gegeneinander abzuwägen.


    Dabei richtet Clark sein Hauptaugenmerk nicht auf die Aktionen der Staaten, sondern geht herab auf die Ebene der einzelnen Personen. Er versucht, nicht nur ihre Entscheidungen, sondern auch die Motive dahinter zu beleuchten.


    Ein großes Problem im Vorfeld des 1. Weltkriegs waren uneinige Regierungen:
    Staatsoberhaupt, Regierungschef, Außenminister und Diplomaten hatten verschiedene Meinungen, die sie auch öffentlich kundtaten. Anstatt an einem Strang zu ziehen, übergingen sie einzelne schwache Personen in der Entscheidungsfindung, preschten ohne Absprache eigenmächtig vor und stifteten somit Verwirrung über die Absichten eines Staates. Gegner innerhalb der eigenen Parteien und Regierungen setzten die Entscheidungsträger unter Druck, ihren Kurs zu ändern.


    Meinungsänderungen einzelner Politiker, Machtverschiebungen innerhalb der Entscheidungsinstanzen und Schwankungen in der politischen Linie erzeugten ein Umfeld, in dem es sehr schwer war, die Intentionen sowohl der Verbündeten als auch der Gegner zu deuten. So entstanden zwangsläufig Missverständnisse und Fehleinschätzungen.


    Doppelzüngigkeit und Vernebelungstaktik machten die politische Lage undurchsichtig und unberechenbar und erzeugten ein Klima des Misstrauens.
    Und da auch Politiker nur Menschen sind, standen persönliche Erfahrungen, Interessen, Abneigungen und Projektionen einer objektiven Beurteilung entgegen.
    Während anfangs der Krise die meisten nicht an einen bevorstehenden Krieg glaubten, setzte sich mit der Zeit die nach der Meinung des Autors fälschliche Ansicht durch, dass ein Krieg unvermeidlich ist. Also beginnen die Kriegsvorbereitungen.


    Dieses Buch erforderte von mir sehr viel Ausdauer und Konzentration. Die Verknüpfungen der vielen Ereignisse und Personen machen es schwer, den Überblick zu behalten. Die Mühe hat sich gelohnt, denn dieses Buch war für mich eine Bereicherung an Wissen.


    Ein ungutes Gefühl bleibt mir. Der Autor ist zum Teil bei seinen Quellen auf Schriften der Beteiligten angewiesen, die sicher nicht alle objektiv sind. Auch wenn ich von großer Sorgfalt von Seiten des Autors ausgehe, frage ich mich, ob nicht in Zukunft ein anderer zu anderen Schlüssen kommt.

  • made, eine neugierig machende Rezi zu einem spannenden und wichtigen Thema.
    Und ich bin zwar keine Historikerin, sondern eine interessierte Leserin, aber mit einer objektiven historischen Wahrheit kann vermutlich niemand aufwarten.
    Da finde ich ein solches Buch, das sich auf solche persönlichen Schriften stützt und das auch deutlich macht immerhin ehrlich.
    Es ist schon auf meiner Liste gelandet.

  • Zitat

    Original von made
    Ein ungutes Gefühl bleibt mir. Der Autor ist zum Teil bei seinen Quellen auf Schriften der Beteiligten angewiesen, die sicher nicht alle objektiv sind. Auch wenn ich von großer Sorgfalt von Seiten des Autors ausgehe, frage ich mich, ob nicht in Zukunft ein anderer zu anderen Schlüssen kommt.


    Eine objektive Brachtung dieses (oder vermutlich - fast - jeden anderen) Themas wird es wohl nicht geben können.


    Das Buch steht bereits seit geraumer Zeit in meinem Bücherregal und soll dieses Jahr noch gelesen werden.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich habe das Buch letztens als Hörbuch gehört - eine sehr intensive Schilderung der Geschehnisse, die zum 1. Weltkrieg führten und der vielen Vorgeschichten. Diplomatisches Geplänkel, Großmachtfantasien, persönliche Abneigungen einzelner, die die Politik ganzer Reiche bestimmen.


    Beim 1. Weltkrieg ist die Frage der Alleinschuld immer wieder hochgekocht - Clark entscheidet sich hier gegen eine österreichisch-deutsche Alleinschuld und wirft insbesondere auf die serbische Situation einen ausführlichen Blick. Gut gefallen hat mir an Clarkes Werk, dass er keinen eindeutigen Schuldigen ausmacht, sondern "Falken" (Kriegshetzer) in jedem Land ausmacht.


    Und wie meine beiden Vorredner bereits sagten: "die Wahrheit" gibt es im Ersten Weltkrieg nicht. Und deswegen wird die Diskussion diesbezüglich wohl auch nie enden.

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)

  • Zitat

    Original von Susannah
    Ich habe das Buch letztens als Hörbuch gehört


    Susannah, es ist mir ein Rätsel, wie jemand es schafft, dieses Buch als Hörbuch zu "lesen". Ich musste immer wieder Passagen doppelt lesen oder zurückblättern, weil ich mit den vielen Personen durcheinander kam.
    Aber vielleicht bist einfach besser im Training, was solche Lektüre betrifft.

  • Ich sag mal so - ich habe auch manche Passagen "nachgehört" und habe immer mal wieder was nachgelesen. Ich finde allerdings, dass Clark im Gegensatz zu vielen anderen seiner Zunft eine relativ angenehme Sprache hat und sich trotzdem gut nachvollziehen lässt.


    Da ich die meisten Personen bereits "kannte" kam ich da auch nicht so schnell durcheinander. Mit mehr Vorkenntnissen ist es definitiv einfacher ;-)

    SUB 220 (Start-SUB 2020: 215)


    :lesend Susanne Michl u. a. - Zwangsversetzt. Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung (1940 - 1945)

    :lesend Antonio Iturbe - Die Bibliothekarin von Auschwitz

    :lesend Anthony Doerr - Alles Licht das wir nicht sehen (Hörbuch)

  • Zitat

    Original von made
    Auch wenn ich von großer Sorgfalt von Seiten des Autors ausgehe, frage ich mich, ob nicht in Zukunft ein anderer zu anderen Schlüssen kommt.


    Ich habe noch etwa 60 Seiten Text vor mir und ich frage mich die ganze Zeit, wie du das meinst? :wave

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • @ made
    Danke für die Antwort.


    Wir können solche Quellen "objektiv" sein? Wenn man seine Gedanken und Motive aufschreibt, ist das natürlicherweise subjektiv. Desgleichen, wenn man jemanden über einen anderen "ausfragt". Einen objektiven Beobachter, den man fragen könnte, gibt es nicht.


    Ich habe das Buch gestern ausgelesen, Rezi dauert noch etwas. Ich werde sicherlich in Bälde noch mindestens einen anderen "Wälzer" zu dem Thema lesen, um noch eine andere Meinung zu "hören". Allerdings sehe ich derzeit nicht, wie man die Quellen anders interpretieren könnte als Chrstopher Clark es tut. Er hat mich im Wesentlichen überzeugt, wenngleich ich die Schuldfrage etwas anders als er sehe. Nur das Thema ist nach hundert Jahren durch, man muß nach vorne sehen. Obwohl, als ich in der heutigen Zeitung einen Bericht über den derzeitigen Besuch des französischen Ministerpräsidenten in Berlin las, kam es mir doch etwas seltsam, wenn ich daran dachte, was Clark über die Franzosen und ihre Politik schrieb.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich schleiche schon dauernd um den Titel rum. Ihr habt mich jetzt ensgültig neugierig gemacht, das Buch kommt auf den Lesestapel.

    "Reading is food for thought, and anything to do with food must be good." Snoopy


    :lesend : Vladimir Vertlib: Spiegel im fremden Wort
    :lesend : Ingeborg Bachmann: Malina
    :lesend : Michael Stavaric: Königreich der Schatten

  • Ich habe das Buch in meinem Urlaub gelesen. Zwei Wochen habe ich dafür gebraucht und ich habe mir viel Zeit genommen.
    Es war in weiten Bereichen Geschichtsnachhilfe für mich. Eine äußerst beeindruckende Geschichtsnachhilfe, die mich noch immer sehr beschäftigt. Einmal durch die seitdem verstärkt auftretenden "das kenne ich doch irgendwoher" Gedanken, die mich beim Ansehen der Nachrichten überfallen.


    Ganz besonders aber durch den Ansatz des Autors, die komplexen und vielschichtigen Ereignisse, Interessenlagen, Motivationen, Vor-und Fehlurteile, Missverständnisse und auch Zufälle darzustellen, die dazu beitrugen, dass aus diesem Krieg nicht ein regional begrenzter, weiterer Balkankrieg geworden ist, sondern sich zu einer weltweiten Katastrophe auswuchs.


    Sehr wertvoll fand ich auch den immer wiederkehrenden Hinweis, dass wir die schrecklichen Folgen dieses Krieges kennen und diese Sicht immer auch in die Beurteilung der Handlungsweisen der damals handelnden Personen einbringen, diese aber unter ganz anderen Voraussetzungen und Informationsmöglichkeiten gehandelt haben.

  • Ich habe das Buch zur Hälfte gelesen und werde es für eine Zeit beiseite legen. Obwohl es interessant ist, finde ich es doch eine Qual, dieses Buch zu lesen. Die vielen verschiedene Informationen, Personen, Handlungen werden äusserst kompakt beschrieben. Zig Namen von Personen muss man unterscheiden.