Michael Chabon: Telegraph Avenue

  • Großer Roman


    In Oakland, das man auch als "O-Town" kennt, der ehemaligen Industriestadt in der Bucht von San Francisco, betreiben Archie Stallings und Nat Jaffe einen Plattenladen, in dem es vor allem Vinyl gibt, Jazz-Vinyl, gebrauchte Raritäten aus den vergangenen Jahrzehnten, Ramschware aus Nachlässen und solches Zeug. Der Laden läuft nicht gut, wir schreiben das Jahr 2003 oder 2004, ganz klar wird das nicht. Barack Obama, der ein kurzes Gastspiel im Roman hat, kandidiert soeben für den US-Senat. "Brokeland Records" wird von Stammkunden frequentiert, ist aber zugleich Dreh- und Angelpunkt des Quartiers rund um die Telegraph Avenue, wo der schwerreiche Gibson Goode demnächst ein riesiges Multimediamonster eröffnen will, einschließlich gut sortierter Second-Hand-Abteilung, was mit ziemlicher Sicherheit das Aus für den betulichen, etwas angestaubten Plattenladen wäre.


    Archie ist schwarz und etwas jünger als sein weißer Partner Nat. Archies Frau Gwen, selbst hochschwanger, ist Hebamme, und ihre Partnerin Aviva ist die Frau von Nat. Während die Männer etwas unentschlossen auf die Bedrohung ihrer Existenz reagieren, kämpft die resolute Gwen gegen machtgierige Ärzte und den Niedergang ihrer Zunft, gegen Vorurteile und Rassismus, vermuteten wie latenten. Außerdem tritt Titus auf den Plan, ein unehelicher Sohn von Archie, der es mit der Treue ohnehin nicht so genau nimmt. Und auch Titus' Großvater, Archies Erzeuger Luther Stallings, ehemaliger Blaxploitation-Darsteller, Kampfsportler und Junkie, spielt eine Rolle, aber nicht jene, die er sich erträumt, nämlich das späte Comeback in einer Fortsetzung seiner jahrzehntealten Erfolgsfilme.


    Um nur die Ausgangssituation kurz zu skizzieren.


    "Telegraph Avenue" ist mit Personal nachgerade geflutet, und es ist vor allem am Anfang nicht leicht, einen Überblick zu bekommen und auch zu behalten. Auf überraschend angenehme Weise erschwert wird das durch Chabons Sprache und Erzählstil, denn dieser Roman ist ganz und gar ein Roman des Wortes; Handlung und Personal stehen zwar nicht im Hintergrund, aber auch längst nicht dort, wo man sie in den Geschichten der amerikanischen Erzähler von Updike bis DeLillo findet. Dieses in jeder Hinsicht bemerkenswerte Buch macht den sprichwörtlichen Weg zum Ziel. Dazu gehören - selbstverständlich - seitenlange Abhandlungen über den Jazz, die akribische Beschreibung einer häuslichen Kochszene, oder ein fast fünfzehn Seiten langes Kapitel, das aus einem einzigen Satz besteht, erzählt aus der Sicht eines Papageis, dessen Besitzer gestorben ist. Vor allem aber sind es Chabons hinreißende Metaphern und Sätze wie sanft hinschmelzendes Vanilleeis, die die Lektüre dieses fraglos etwas schwergängigen Romans zum Genuss machen. Vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein.


    Es geht um Liebe und Träume, um Treue und Verlässlichkeit, um Wandel und Nostalgie, um Kunst und Kultur, Zukunft und Vergangenheit - um das Menschsein. "Telegraph Avenue" ist aber auch eine Milieustudie - und ein sehr politisches Buch, ohne seine Themen plakativ aufzubereiten. Schwarz und weiß - metaphorisch wie faktisch - sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, vermischen sich zu einem fröhlichen Grau; die Probleme werden auf menschlicher Ebene geerdet, und Klischees gibt es keine. Der vielschichtige, unglaublich kluge und fraglos äußerst sprachverliebte Roman gibt sich selten wertend, Chabon fokussiert auch in kritischen Momenten auf die liebenswürdigen Eigenheiten seiner mächtigen Figuren, die er so scharf und detailliert zeichnet, das man zuweilen glaubt, geblendet zu werden.


    Eine Literaturkritikerin sagte kürzlich sinngemäß, "Telegraph Avenue" wäre ein "großes Jungsbuch", dessen Lektüre, wie sie meinte, stark von der Stimmung abhängen würde, in der man sich währenddessen befindet. Dem würde ich nur teilweise zustimmen; tatsächlich generiert das Buch eine Stimmung, und zwar eine ganz eigen-, einzigartige. Wie es endet - was also aus dem Laden wird, aus Archies und Gwens Beziehung, ob der "Dogpile Thang" eröffnet wird und diese Dinge -, spielt letztlich keine wesentliche Rolle, denn dieses Meisterwerk zeigt vor allem eines: Dass längst noch nicht in Stein gemeißelt ist, was einen großen Roman ausmacht. Chabon wirft sämtliche Regeln einfach über Bord, bricht sie, vergeht sich an ihnen, igelt ein Häppchen Information in einem meterlangen Satz ein, der aber so viel Vergnügen bereitet, dass man ihn gerne ein zweites Mal liest, um an das Häppchen zu kommen. Garniert mit Metaphern zum Niederknien, klugen Wahrheiten und wahren Klugheiten. Als ich das Buch beendet hatte, habe ich umgehend vermisst, was es zuvor mit mir getan hat. Angerichtet. Im besten Sinne des Wortes.

  • Ich brauche eigentlich nur diesen Smiley hier:


    :write


    da ich mich den Worten von Tom vollumfänglich anschließen kann. Auch von mir 10 Punkte.


    Das Buch ist in den USA ja schon vor zwei Jahren erschienen, ich bin aber erst neulich durch ein nettes Gespräch von Dennis Scheck mit Michael Chabon (geführt auf der Telegraph Avenue) darauf aufmerksam geworden. Link zur ARD Mediathek und zu dem Gespräch hier.


    Ich habe die Originalausgabe auf englisch gelesen, für sagenhafte EUR 4,10 erworben (Kindle-Ausgabe).


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  • Titel: Telegraph Avenue
    Autor: Michael Chabon
    Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von: Andrea Fischer
    Verlag: Kiepenheuer und Witsch
    Erschienen: April 2014
    Seitenzahl: 587
    ISBN-10: 3462046179
    ISBN-13: 978-3462046175
    Preis: 24.99 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Brokeland Records scheint seltsam aus der Zeit gefallen: Menschen mit Muße und Geschmack treffen sich hier, um über Musik und Jazzlegenden zu fabulieren. Zu den ständigen Gästen gehört neben Jazzmusikern auch Chandler Flowers, Bestattungsunter nehmer und Ratsmitglied. Eigentlich müsste er auf Nats und Archys Seite stehen, doch warum setzt er sich für sie nicht ein, was hat die Football-Legende Goode gegen ihn in der Hand? Als wäre die Bedrohung der Existenz nicht schon genug, bekommt Archy auch noch privaten Ärger. Seine schwangere Frau Gwen findet heraus, dass er fremdgeht, sein abgehalfterter Vater will mal wieder Geld, und dann taucht auch noch ein Junge auf, der sein unehelicher Sohn sein könnte. Die resolute Gwen wiederum kämpft nach einer missglückten Hausgeburt, die sie mit Nats Frau Aviva begleitet hat, gegen arrogante Ärzte, hysterische Väter und überhaupt gegen die Umstände. Ihren Mann setzt sie kurzerhand vor die Tür. Doch wie soll es weitergehen auf der Telegraph Avenue?


    Der Autor:
    Michael Chabons Großvater war Setzer und arbeitete in einer New Yorker Firma, in der unter anderem Comic-Hefte gedruckt wurden. Chabon wurde 1963 in Washington DC geboren und wuchs in Columbia, Maryland auf. Seine Arbeiten erschienen im New Yorker, Harper's, GQ, Esquire und Playboy und zahlreichen Anthologien. Michael Chabon lebt heute mit seiner Frau und seinen Kindern in Berkeley.


    Meine Meinung:
    Es hat einige Seiten gedauert, bis ich mich in diesen Roman eingelesen hatte. Dann aber mochte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Und der BOSTON GLOBE trifft es mit einer Wertung eigentlich ganz gut: „Ein großartiges, humorvolles, unendlich hippes Buch.“
    Michael Chabon gehört durchaus vom Können her in die Gruppe um Boyle, Eggers und Franzen, der so wunderbar erzählen könnenden zeitgenössischen nordamerikanischen Autoren.
    Michael Chabon zeichnet seine handelnden Personen liebevoll und mit klaren Konturen. Vielleicht sogar ein wenig detailversessen.
    Dieses Buch, dieser Roman lebt. Er ist bunt, manchmal nachdenklich, ab und an verschmitzt, an einigen Stellen auch traurig – aber dabei immer authentisch.
    Ein sehr lesenswerter Roman – 8 Eulenpunkte.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich kann mich den begeisterten Vorrezensenten nicht ganz anschließen.

    Sehr gefallen hat mir, wie Chabon es schafft, die Stimmung auf der Telegraph Avenue einzufangen. Er zeichnet großartige Typen, beschwört einen Zeitgeist hervor, der zwischen Venyl, Gras und leeren Bierdosen angesiedelt ist. Mich hat die Geschichte an ein Graffiti erinnert. Der Reiz des Verbotenen, wild, schrill und je länger man es betrachtet, um so schöner wird es. Je weiter im Buch ich voran kam, um so besser hat es mir gefallen. Die letzten 200 Seiten flogen nur so dahin. Alle Details bekamen einen Platz in dieser wilden Story.

    Gestört hat mich, dass Chabon immer wieder den Erzählfluss unterbrochen hat. Entweder durch Beschreibungen oder durch erklärende Einschübe aus der Vergangenheit, und zwar meistens dann, wenn ich mich gerade auf die Geschichte eingelassen hatte. Ich muss zugeben, dass mich das sehr zum Überfliegen der Seiten eingeladen hat.

    Insgesamt ein lesneswertes Buch.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Gestört hat mich, dass Chabon immer wieder den Erzählfluss unterbrochen hat. Entweder durch Beschreibungen oder durch erklärende Einschübe aus der Vergangenheit, und zwar meistens dann, wenn ich mich gerade auf die Geschichte eingelassen hatte. Ich muss zugeben, dass mich das sehr zum Überfliegen der Seiten eingeladen hat.

    Interessant, denn genau das ist einer der Punkte, die ich an dem Buch so gemocht habe. Ich habe die Unterbrechungen, Rückblicke und Beschreibungen gerne gelesen. Sie haben mich nicht im Lesefluss gestört, sondern die Geschichte für mich abgerundet.
    Was mir besonders gut gefallen hat, ist, dass die Figuren in diesem Roman trotz der teilweise skurrilen Erlebnisse und Wendungen, so echt wirken. Sie passen in diese Straße, in dieses Milieu und wirken auch in ihren Handlungen für mich sehr authentisch. Das hat mich ein bisschen an John Steinbecks Bewohner der "Straße der Ölsardinen" bzw. "Cannery Row" erinnert.
    Und mir hat gefallen, dass Chabon sich und seinen Figuren bis zum Ende treu geblieben ist, auch wenn es sich der ein oder andere Leser vielleicht anders erhofft hat.
    Das Buch ist für mich das erste Lese-Highlight des Jahres und ich freue mich schon auf den nächsten Chabon, der in meinem Regal noch darauf wartet, gelesen zu werden ("Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay").