Großer Roman
In Oakland, das man auch als "O-Town" kennt, der ehemaligen Industriestadt in der Bucht von San Francisco, betreiben Archie Stallings und Nat Jaffe einen Plattenladen, in dem es vor allem Vinyl gibt, Jazz-Vinyl, gebrauchte Raritäten aus den vergangenen Jahrzehnten, Ramschware aus Nachlässen und solches Zeug. Der Laden läuft nicht gut, wir schreiben das Jahr 2003 oder 2004, ganz klar wird das nicht. Barack Obama, der ein kurzes Gastspiel im Roman hat, kandidiert soeben für den US-Senat. "Brokeland Records" wird von Stammkunden frequentiert, ist aber zugleich Dreh- und Angelpunkt des Quartiers rund um die Telegraph Avenue, wo der schwerreiche Gibson Goode demnächst ein riesiges Multimediamonster eröffnen will, einschließlich gut sortierter Second-Hand-Abteilung, was mit ziemlicher Sicherheit das Aus für den betulichen, etwas angestaubten Plattenladen wäre.
Archie ist schwarz und etwas jünger als sein weißer Partner Nat. Archies Frau Gwen, selbst hochschwanger, ist Hebamme, und ihre Partnerin Aviva ist die Frau von Nat. Während die Männer etwas unentschlossen auf die Bedrohung ihrer Existenz reagieren, kämpft die resolute Gwen gegen machtgierige Ärzte und den Niedergang ihrer Zunft, gegen Vorurteile und Rassismus, vermuteten wie latenten. Außerdem tritt Titus auf den Plan, ein unehelicher Sohn von Archie, der es mit der Treue ohnehin nicht so genau nimmt. Und auch Titus' Großvater, Archies Erzeuger Luther Stallings, ehemaliger Blaxploitation-Darsteller, Kampfsportler und Junkie, spielt eine Rolle, aber nicht jene, die er sich erträumt, nämlich das späte Comeback in einer Fortsetzung seiner jahrzehntealten Erfolgsfilme.
Um nur die Ausgangssituation kurz zu skizzieren.
"Telegraph Avenue" ist mit Personal nachgerade geflutet, und es ist vor allem am Anfang nicht leicht, einen Überblick zu bekommen und auch zu behalten. Auf überraschend angenehme Weise erschwert wird das durch Chabons Sprache und Erzählstil, denn dieser Roman ist ganz und gar ein Roman des Wortes; Handlung und Personal stehen zwar nicht im Hintergrund, aber auch längst nicht dort, wo man sie in den Geschichten der amerikanischen Erzähler von Updike bis DeLillo findet. Dieses in jeder Hinsicht bemerkenswerte Buch macht den sprichwörtlichen Weg zum Ziel. Dazu gehören - selbstverständlich - seitenlange Abhandlungen über den Jazz, die akribische Beschreibung einer häuslichen Kochszene, oder ein fast fünfzehn Seiten langes Kapitel, das aus einem einzigen Satz besteht, erzählt aus der Sicht eines Papageis, dessen Besitzer gestorben ist. Vor allem aber sind es Chabons hinreißende Metaphern und Sätze wie sanft hinschmelzendes Vanilleeis, die die Lektüre dieses fraglos etwas schwergängigen Romans zum Genuss machen. Vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein.
Es geht um Liebe und Träume, um Treue und Verlässlichkeit, um Wandel und Nostalgie, um Kunst und Kultur, Zukunft und Vergangenheit - um das Menschsein. "Telegraph Avenue" ist aber auch eine Milieustudie - und ein sehr politisches Buch, ohne seine Themen plakativ aufzubereiten. Schwarz und weiß - metaphorisch wie faktisch - sind nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, vermischen sich zu einem fröhlichen Grau; die Probleme werden auf menschlicher Ebene geerdet, und Klischees gibt es keine. Der vielschichtige, unglaublich kluge und fraglos äußerst sprachverliebte Roman gibt sich selten wertend, Chabon fokussiert auch in kritischen Momenten auf die liebenswürdigen Eigenheiten seiner mächtigen Figuren, die er so scharf und detailliert zeichnet, das man zuweilen glaubt, geblendet zu werden.
Eine Literaturkritikerin sagte kürzlich sinngemäß, "Telegraph Avenue" wäre ein "großes Jungsbuch", dessen Lektüre, wie sie meinte, stark von der Stimmung abhängen würde, in der man sich währenddessen befindet. Dem würde ich nur teilweise zustimmen; tatsächlich generiert das Buch eine Stimmung, und zwar eine ganz eigen-, einzigartige. Wie es endet - was also aus dem Laden wird, aus Archies und Gwens Beziehung, ob der "Dogpile Thang" eröffnet wird und diese Dinge -, spielt letztlich keine wesentliche Rolle, denn dieses Meisterwerk zeigt vor allem eines: Dass längst noch nicht in Stein gemeißelt ist, was einen großen Roman ausmacht. Chabon wirft sämtliche Regeln einfach über Bord, bricht sie, vergeht sich an ihnen, igelt ein Häppchen Information in einem meterlangen Satz ein, der aber so viel Vergnügen bereitet, dass man ihn gerne ein zweites Mal liest, um an das Häppchen zu kommen. Garniert mit Metaphern zum Niederknien, klugen Wahrheiten und wahren Klugheiten. Als ich das Buch beendet hatte, habe ich umgehend vermisst, was es zuvor mit mir getan hat. Angerichtet. Im besten Sinne des Wortes.