Jürgen Seidel: Der Krieg und das Mädchen
Verlag: cbj 2014. 480 Seiten
ISBN-13: 978-3570157633. 16,99€
Vom Verlag empfohlen: ab 12 Jahren, besser: ab 14
Verlagstext
Tanz auf dem Pulverfass
August 1914. Endlich hat der große Krieg, den alle kommen spürten, wirklich begonnen. Das junge Paar Fritz und Mila wird gemeinsam mit so vielen anderen in den Taumel aus Kriegsbegeisterung und Feindseligkeit hineingerissen. Doch auch zwischen den beiden scheinen sich unkontrollierbare Gefühle zu erheben: Fritz erhofft sich vom Krieg eine Art Reinigung von verbotenen Gefühlen, die er nicht mal Mila anvertrauen kann, und meldet sich freiwillig an die Front. Und Mila bekommt plötzlich heftige Anfeindungen zu spüren, weil ihr Vater Franzose war und Frankreich jetzt als »Erbfeind« gilt. Als ein als Franzosenhasser bekannter Lehrer stirbt, kommt Mila in Untersuchungshaft. Hochverrat – schnell steht die Anklage im Raum ...
Der Autor
Jürgen Seidel wurde 1948 in Berlin geboren. Nach einer handwerklichen Ausbildung lebte er drei Jahre lang in Australien und Südostasien, bevor er nach Deutschland zurückkehrte, das Abitur nachmachte und ein Studium der Germanistik und Anglistik mit der Promotion abschloss. Jürgen Seidel veröffentlichte Erzählungen, Hörspiele, Rundfunkbeiträge, literaturwissenschaftliche Publikationen - und zahlreiche Jugendromane. Er lebt mit seiner Familie in Neuss.
Inhalt
Milas schon früh tödlich verunglückter Vater war Franzose; die 16-jährige Schülerin erregt mit ihrem französischen Familiennamen im Berlin des Jahres 1914 regelmäßig Aufsehen. Mutter und Tochter leben in einfachen Verhältnissen. Die Mutter arbeitet als Buchhalterin, Mila besucht ein Mädchengymnasium und möchte später einmal Medizin studieren. Für ein Mädchen in ihren Lebensumständen hat Mila mehr als optimistische Zukunftspläne. Zur Verwirklichung ihres Traums tut Mila bisher kaum mehr, als zur Schule zu gehen. Von etwaigen Zweifeln wie Milas Mutter ein Studium finanzieren wird, erfahren die Leser nichts. Als einziges Mädchen hat Mila mit drei gleichaltrigen Jungen einen Künstlerbund gegründet. Die intellektuellen Luftschlösser der Gymnasiasten wirken elitär bis phantastisch; Fritz schreibt sogar heimlich an einem Roman. Mila und ihre Freunde müssen ihre Ansichten nur selten gegenüber Eltern und Ausbildern vertreten, ein Korrektiv für ihre Phantastereien fehlt.
In der aufgeheizten Stimmung kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommt es in der Wohnung der Pigeons zu einer Haussuchung. Als Witwe eines Franzosen wird Milas Mutter unter Spionageverdacht verhaftet. Relativ spät im Buch setzt damit eine spannende, krimireife Handlung mit zahlreichen abrupten Szenenwechseln ein.
Jürgen Seidel entwickelt einen wichtigen wie spannenden Romanstoff mit seiner Suche danach, wie es im Vorfeld des Ersten Weltkriegs zur überschäumenden Kriegsbegeisterung sehr junger Männer kommen konnte. Rein rechtlich waren diese Jungen noch Kinder (die erst mit 21 Jahren volljährig wurden). Sie selbst fühlten sich mit 17 Jahren erwachsen genug, um in den Krieg zu ziehen. Das sehr persönliche Motiv des Fritz, sich zum Kriegsdienst zu melden, hat meine Erwartung an den Roman leider nicht erfüllt, tiefer in das Denken der Generation der um 1900 geborenen Männer vorzudringen.
In Ansätzen vermittelt der Autor die damals herrschende gesellschaftliche Hierarchie mit festgelegten Rollen als Herr oder Knecht, Bürger oder Bauer, Ehefrau oder Ehemann. Warum gerade Mila aus der für sie vorgesehenen Rolle ausbricht, wird für Leser unserer Zeit nicht deutlich genug gezeigt. Wie genau es sich anfühlte, damals ein 17-jähriges Mädchen zu sein, bleibt zumeist an der Oberfläche oder wird zu modern gedacht (Mutter und Tochter wollten damals sicher keine Freundinnen sein, auch wenn sie in einer Zweier-WG lebten). Als Leser könnte man nach Seidels Darstellung zu dem unzutreffenden Schluss kommen, dass Jugendliche damals viele Freiheiten genossen und im Grad ihrer Unabhängigkeit zwischen Mädchen und Jungen nicht unterschieden wurde.
Fazit
Für die Zielgruppe ab 12 finde ich ohne weitere Erläuterungen den altertümlichen Stil und den authentische Wortschatz jener Zeit zu anspruchsvoll. Von Zwölfjährigen unserer Zeit würde ich z. B. nicht erwarten, dass sie den Begriff „Rock“ für ein Herren-Jackett kennen oder das Wort "anheimfallen". Für diese Lesergruppe ist eine reine Zeittafel im Anhang ohne weitere Erläuterungen zu den Lebensverhältnissen vermutlich zu knapp. Die 17-jährigen Figuren des Romans mit ihren abgehobenen Themen bieten jungen Lesern wenig Identifizierungsmöglichkeiten. Gymnasiasten waren Anfang des 20. Jahrhunderts eine winzige Minderheit gegenüber einer Mehrheit von Jugendlichen, die mit 14 in den Beruf starteten. In einer Literaturgattung, die hauptsächlich von Mädchen gelesen wird, wäre dem Buch eine glaubwürdigere Entwicklung der weiblichen Hauptfigur zu wünschen. Vom Thema her ambitioniert, richtet sich der Text mit seinem anspruchsvollen Wortschatz eher an Youngadult-Leser, die über die inhaltlichen Ungereimtheiten nicht hinweglesen werden, falls sie sich zuvor mit den Lebensumständen der Zeit und speziell denen von Frauen beschäftigt haben.
mit der vorhandenen Altersempfehlung ab 12: 6 von 10 Punkten
ab 14: 7 von 10 Punkten