Cordula Broicher: Die Zeit danach, North Charleston, USA, 2014, CreateSpace Independent Publishing Platform, 978-1495971884, Softcover, 266 Seiten, 20,3 x 13,3 x 1,5 cm, Buch: EUR 9,90, Kindle Edition: EUR 0,99.
„Aber was sie ihm besonders übel nahm, war die Wut auf sich selbst. Die Wut darüber, dass sie nichts bemerkt hatte oder nichts bemerken wollte. Die Wut darüber, dass sie so naiv und dumm gewesen war und die Wut darüber, dass sie fast ein Jahr um jemanden getrauert hatte, den es so gar nicht gegeben hatte.“ (Seite 205)
Fast ein Jahr ist es her, dass sich Anna Kaspers Ehemann Joachim, 49, ein erfolgreicher Arzt, das Leben genommen hat, Kinderärztin Anna, 46, lebt immer noch in einer Art Zwischenwelt. Zwar ist sie im Begriff, ganz zaghaft eine neue Beziehung mit dem etwas jüngeren Buchhändler Thomas Wegener einzugehen, doch das Kapitel „Joachim“ ist für sie noch lange nicht abgeschlossen. Immer wieder fragt sie sich, ob sie seinen Suizid nicht hätte verhindern können. Welche Zeichen hat sie übersehen?
Nichts hat sie seit seinem Tod im Haus verändert. Sie hat es auch noch nicht über sich gebracht, seine persönlichen Unterlagen durchzusehen. Als sie endlich seinen Papierkram in Angriff nimmt, ist sie schockiert: In mehr als einer Hinsicht hat ihr Mann ihr jahrelang etwas vorgemacht. Während sie ihn auf Fortbildungsveranstaltungen wähnte, ist er durch halb Europa gereist. Tat er dies alleine? Und warum betrieb er ein harmloses Hobby heimlich? Was hat er sonst noch vor ihr verborgen? Ihre etwas ruppigen Freundinnen, die Bildhauerin Charlotte Breskens und die Grundschullehrerin Lilly Weidner, haben ja schon lange behauptet, dass sie ihren Mann und ihre Ehe idealisiere. Sie haben Joachim nicht über den Weg getraut.
Doch die nunmehr misstrauisch gewordene Witwe kommt nicht dazu, die Unterlagen ihres verstorbenen Gatten vollends durchzusehen und seine Geheimnisse zu enthüllen, denn plötzlich stehen zwei Kriminalbeamte mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür und räumen Joachims Arbeitszimmer leer.
Mehrere Ärzte aus der Umgebung sind in den letzten Monaten eines gewaltsamen Todes gestorben und alle hatten in irgendeiner Form mit Joachim Kaspers zu tun. Auf einmal ergeben auch die in kursiver Schrift in die Handlung eingestreuten inneren Monologe einer Unbekannten einen Sinn. Und nun stellen sich der Polizei – und dem Leser – einige Fragen:
• War auch Joachim Kaspers ein Opfer dieser Mordserie?
• Hat Anna etwas mit den Todesfällen zu tun oder ist sie selbst in Gefahr?
• Möchte ihr jemand die Taten in die Schuhe schieben?
• Wie passt Tochter Rebecca, ebenfalls Ärztin, ins Bild? Sie hat ihren Vater vergöttert und ihre Mutter gehasst.
Beim Weiterlesen kommt man auf die verrücktesten Verdächtigungen. Hat die Heldin am Ende eine multiple Persönlichkeitsstörung und tötet, ohne es zu wissen? Macht sie uns nur etwas vor? Oder ist alles doch ganz anders? Was wirklich hinter der Geschichte steckt, zeigt sich in einem dramatischen „Showdown“.
Trotz des mörderischen Handlungsstrangs ist DIE ZEIT DANACH kein reinrassiger Krimi. Auf dem Cover steht ja auch „Spannungsroman“. Der Fokus liegt eindeutig auf Anna Kaspers Neuorientierung. Der Tod ihres Mannes hat sie mit Macht aus ihrer Komfortzone katapultiert. Beruf und Kinder, Hund und Kleinstadt-Häuschen, zwei kulturinteressierte Freundinnen, Klavierspiel, Chorgesang und ihr Hobby, das Quilten - eine Handarbeitstechnik, die sie zu einer Kunstform entwickelt hat – das ist ihr in den letzten Jahren ihr Leben gewesen. Dass die einst leidenschaftlichen Beziehung zu ihrem Mann mit der Zeit zu einer platonischen Wohngemeinschaft mutiert ist, hat sie einfach so hingenommen. Sie hat ihm den Haushalt geführt, sie haben sich nett unterhalten, und ansonsten ging jeder seiner Wege. Das lief angenehm stressfrei, und so hatte keiner von beiden die Absicht, daran etwas zu ändern.
Jetzt erst, seit sie Thomas kennt und angefangen hat, in Joachims Leben herumzuspionieren, beginnt Anna, sich mit ihrem bisherigen Leben auseinanderzusetzen. Was hat sie überhaupt gewusst von ihrem Mann? Und was ist schief gelaufen in der Beziehung zu ihrer ältesten Tochter? Mit der Jüngeren, der Tischlerin Katharina, kommt sie prima klar, doch von ihrer Großen, der Ärztin Rebecca, hat sie Angst. Das ist aber auch ein garstiger Besen!
Manchmal fragt man sich, ob Anna nicht eigentlich viel härter sein müsste. Eine Ärztin, die seit Jahr und Tag neben ihrem Beruf das Leben ihrer kompletten Familie managt, weil der Gatte sich daheim stets wie ein Hotelgast benommen und um nichts gekümmert hat, lässt sich ständig von naseweisen, übergriffigen und gehässigen Mitmenschen in ihr Leben reinreden und rechtfertigt sich vor Hinz und Kunz? Manche dieser Gestalten würde man am liebsten mal ordentlich auf den Pott setzen, damit Schluss ist mit diesem ungehörigen Benehmen. Man ertappt sich dabei, in Annas Namen deutliche Ansagen für diese Personen zu ersinnen. Aber das müsste die Protagonistin doch selber können – bei allem, was sie so meistert.
Wenn man schon anfängt, in die Handlung eingreifen und der Romanheldin helfen zu wollen, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass der Autorin eine lebendige und glaubhafte Personenzeichnung geglückt ist. Wenn Anna ihre Wut auf sich und andere beim Quilten abreagiert und hinterher selbst darüber erstaunt ist, welche kraftvollen Farbkombinationen sie in ihrem Zorn gewählt hat, wirkt sie sehr real und überzeugend.
Weil die Geschichte weder dem Liebesroman- noch dem Krimigenre zu 100% zugeordnet werden kann, taten sich die Verlage schwer mit diesem Konzept. An der Qualität der Geschichte oder der Sprache lag es nicht. Cordula Broicher weiß mit Worten umzugehen. Verlage wollen „Schubladen“, weil sie denken, dass Leser eine eindeutige Genre-Zuordnung brauchen, um sich bei der Wahl ihrer Lektüre orientieren zu können. Die Autorin hat sich dann entschlossen, den Roman mit Unterstützung des Autorenkorrektivs Quindie das Buch bei CreateSpace selbst zu verlegen. Gut für uns LeserInnen, weil uns andernfalls eine interessante Geschichte entgangen wäre.
Wer bei dem Stichwort „Selbstverlag“ gewohnheitsmäßig die Nase rümpft, dem sei gesagt: Weder inhaltlich noch sprachlich oder gestalterisch steht das Buch denen aus bekannten Publikumsverlagen nach. Allenfalls der Karton für das Taschenbuch-Cover ist ein bisschen labberiger als anderswo. Er hat’s auch nicht ganz so gut weggesteckt, dass ich das Buch eine Woche lang in Handtasche und Rucksack mit mir herumtrug. Doch wer zum e-book greift, bemerkt nicht einmal das.
Die Autorin
Cordula Broicher schreibt ihre Geschichten in der Schlossstadt Brühl, wo sie zusammen mit ihrem Mann, zwei Kindern und Labradorhündin Paula lebt. Bücher waren schon von klein auf ihre Möglichkeit des Rückzugs in eigene Welten, aus denen sie sich auch heute noch manches Mal schwer lösen kann.