Die Informationen innerhalb der Spoilermarkierungen kann man mitlesen, muss es aber nicht tun. Sie enthalten keinen Geheimnisverrat, sondern lediglich weitere Informationen zu Personen und Handlungsverlauf.
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Steffanie Burow: Vulkantöchter, München 2014, Knaur, Taschenbuch, ISBN 978-3-426-63906-1, 474 Seiten, Format: 19 x 12,6 x 3 cm, Buch: EUR 9,99 (D), EUR 10,30 (A), Kindle Edition: EUR 9,99.
„Was uns interessiert, ist das Warum. Und noch brennender: Wer sind diese Männer, und was haben sie mit Martin vor? Wo ist er jetzt? Weißt du es?“ (Seite 341)
Wenn man den Filmemacher Martin Jessmann und seine Frau, die Immobilienmaklerin Alexandra, beide Mitte 30, so streiten hört, fragt man sich, warum die beiden miteinander in den Urlaub nach Malaysia fliegen statt zum Scheidungsanwalt gehen.
Erst bedauert man sie, die taffe Frau, die mit so einem verantwortungslosen Hallodri geschlagen ist, und dann bedauert man ihn, weil dieser lockere und weltoffene Typ so eine zickige Spaßbremse an der Backe hat. Bis man zu dem gleichen Schluss kommt wie dieses ungleiche Paar: Hier sind zwei zusammengekommen, die niemals zusammengepasst haben. Jeder für sich ist okay, aber ihre Pläne und Lebenseinstellungen sind einfach nicht kompatibel.
Im Strandhotel von Batu Ferringhi/Penang kommt es zum finalen Krawall. Martin hinterlässt einen unfreundlichen Abschiedsbrief und verdünnisiert sich mit der indonesischen Kellnerin Sien.
‚So nicht!‘, denkt Alexandra und heuert die deutsche Reiseleiterin Birgit an, um den untreuen Ehemann wieder einzufangen. Birgit hält das für eine Schnapsidee. Man rennt den Kerlen nicht hinterher. Andererseits … sollte Martin je nicht zum angekündigten Termin zurück in Hamburg sein, würde Alexandra sich ein Leben lang Vorwürfe machen, wenn sie nicht nach im gesucht hat.
Die burschikose Birgit und die Schickimicki-Dame Alexandra raufen sich also zusammen und reisen Martin und seiner neuen Freundin Sein über Stock und Stein von Malaysia über Sumatra und Bali bis in die Nusa-Tenggara-Timur-Region nach. Genauer gesagt auf die kleine vulkanische„Rocheninsel“, Pulau Melate – Siens Heimat. Dass die beiden „Flüchtigen“ nicht zum Urlaubmachen dorthin unterwegs sind, dämmert uns Lesern weit früher als Birgit und Alexandra. Denn wir bekommen noch zwei weitere Handlungsstränge präsentiert:
Im Jahr 1871 hat sich schon einmal ein Europäer auf die Rocheninsel verirrt: ein holländischer Seemann, der bei einem Unwetter über Bord gegangen war. Die Witwe Saé hat ihn gefunden und gesund gepflegt, doch die Aufnahme in den Stamm hat der „Orang Putih“ den „Rochenkindern“ schlecht gedankt. Seither ist die Vulkangöttin Ravuú zornig auf die Inselbewohner. Das hat Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und mit einer Vulkangöttin sollte man sich besser nicht anlegen, besonders dann nicht, wenn man ihr zu Füßen lebt.
Auf der Rocheninsel heute: Wäre der Vulkanpriester Kebale ein paar Zentimeter größer, litte er vielleicht nicht so stark an Minderwertigkeitskomplexen. So aber wittert er überall Feinde und Rivalen: in seinen Verwandten und Amtskollegen ebenso wie in der Kräuterfrau Juliana. Er will unbedingt in einem Atemzug mit den legendären Priestern der Vergangenheit genannt werden und als Held in die Geschichte seines Stammes eingehen. Am besten gelänge ihm dies, wenn er die Vulkangöttin wieder versöhnen könnte. Viele Stammesmitglieder nehmen ihn und die alten Rituale nicht mehr ganz so ernst, wie er es gerne hätte. Sie kennen seine Pläne nicht …
Weil viele den Ernst der Lage verkennen, werden ahnungslose Unbeteiligte in eine uralte Geschichte hineingezogen. Wie sollen sie sich dagegen wehren, wenn sie nicht einmal den Hauch einer Ahnung haben, worum es überhaupt geht? Erst mit der Zeit erkennen Birgit und Alexandra die Zusammenhänge. Und dann stellt sich nur noch eine Frage: Werden sie rechtzeitig eingreifen können, um eine Tragödie zu verhindern?
Für Karrierezicke Alexandra bedeutet die Reise nach Indonesien einen absoluten Kulturschock. Chaos und Wildnis, Armut und Schmutz, eine ihr unverständliche Kultur und die ganze Zeit über das beunruhigende Gefühl, dass alles, was sie gut kann, hier überhaupt nichts nutzt, das macht ihr schwer zu schaffen. Doch der Mensch gewöhnt sich an fast alles, und Globetrotterin Birgit ist eine gute Lehrmeisterin. Schließlich erweitert sich auch Alexandras Horizont und sie gewinnt einige neue Erkenntnisse über das Leben und über sich selbst.
Wer auf der Welt herumkommt und sich mit anderen Kulturen als der eigenen beschäftigt, kann einfach nicht engstirnig und kleinkariert weiterwursteln. Leidenschaftlich Reisende wie Alexandras Mann Martin kommen irgendwann zu Schlüssen wie diesen: „Gott ist größer als jede Religion, und wenn jemand der Meinung ist, dass Gott in Gestalt einer Riesenschlange unter dieser Insel wohnt, dann ist das auch in Ordnung.“ (Seite 149/150)
Während ihres Indonesien-Höllentripps beginnt Alexandra zu begreifen, wie ihr künftiger Ex-Gatte denkt und fühlt, und sie verspürt zum ersten Mal in ihrem Leben selbst so etwas wie Abenteuerlust. Martin wiederum dürfte erstmals eine seiner unüberlegten Aktionen bereuen. Schließlich ist es eine „Jugendsünde“, die ihn jetzt, rund 15 Jahre später, am anderen Ende der Welt in Teufels Küche bringt. Es ist schon interessant, wie die Personen sich auf dieser Reise entwickeln und verändern.
Alexandra erlebt quasi stellvertretend für den Leser – so dieser nicht gewohnheitsmäßig selbst als Rucksacktourist unterwegs ist – den Indonesien-Kulturschock. Und wir erfahren bequem daheim Faszinierendes und Wissenswertes über die Region. Dass Steffanie Burow ganz genau weiß, wovon sie schreibt und ihr Wissen nicht nur aus den Medien hat, ist Kennern ihrer Bücher bekannt. Sie ist in der Welt herumgekommen und betreibt zudem stets ausgiebige Vor-Ort-Recherchen. Sie hat nicht nur mehrere Jahre in Penang/Malaysia gelebt, sie war auch drei Monate lang in der Nusa-Tenggara-Timur-Region unterwegs, wie sie im Nachwort beschreibt. Diese authentische Erfahrung ist in dem Buch durchweg zu spüren. Fast hat man das Gefühl, selbst durch Indonesien zu reisen … nur ohne Strapazen.
Ein Glossar erklärt die verwendeten indonesischen/malayischen Begriffe. Wirklich nötig wäre das nicht, weil das meiste aus dem Zusammenhang klar wird. Aber es ist immer ein netter Service. Auf zwei Karten kann man die Reiseroute der Romanfiguren verfolgen. Und sollte sich jemand wundern, dass die attraktive Vignette, die den Buchumschlag und die Kapitelanfänge ziert, bis ins allerkleinste Detail der Beschreibung des Tattoos in dem Roman entspricht (wie’s externe Graphiker nicht immer hinbekommen): Diese Illustration hat die Autorin selbst beigesteuert. Dass sich jemand das Motiv nachstechen lasst, ist eher nicht zu vermuten …
Was den Leser jetzt noch interessiert hätte:
Die Autorin
Steffanie Burow war Art-Direktorin und Werbetexterin, bevor sie gemeinsam mit ihrem Mann ausgedehnte Reisen durch die Länder des Fernen Ostens unternahm, die den Stoff für ihre Romane lieferten. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Hamburg.