Mir kann keiner. 62 Gedichte – Florian Günther

  • Günther, Jg. 1963, gelernter Drucker und ungelernt in einem guten Dutzend Berufe tätig gewesen, schreibt seit 1980, Gedichte.
    Sie erzählen aus dem Alltag derer, die man gemeinhin einfache Menschen nennt. Rentner, Gelegenheitsarbeiter, Prostituierte, Kassiererinnen, Handwerker, Möbelträger. Sie reden laut und ungehemmt, sie schlagen sich, vertragen sich. Vor allem trinken sie, der Alkohol ist Problem und Lösung in einem. Sie sind Gescheiterte, selbst wenn sie festangestellt und seit Jahren verheiratet sind. Sie suchen das Glück, aber sie scheitern auch dabei. Eigentlich rennen sie einem Traum nach. Selbst wenn sie nüchtern sind, wirken sie wie SchlafwandlerInnen. Wenn sie das Glück, meist in Form von Liebe, vor der Nase haben, erkennen sie es nicht, ständig verwechseln sie ihren Traum mit der Wirklichkeit.


    Günthers Texte sind extrem verdichtete Erzählungen aus dem Leben dieser Menschen sind. Romane von Lebensschicksalen auf wenige Zeilen eingedampft. Die abgehackten Zeilen öffnen Räume über die Worte hinaus. Am Ende lauert immer der Haken, fließt mitunter Blut. Die Wunden sind nicht immer zu sehen. Günthers Sprache ist deftig, seine Poesie liegt nicht im schönen Wort, sondern in dem, das den Augenblick, in dem es gesprochen wurde, charakterisiert. Das ist derb, offen, mitunter brutal.
    Das Lyrische seiner Texte ist im Rhythmus zu suchen, in der Musikalität, die gesprochener Sprache zu eigen ist. Zugleich sind die Sätze immer gestaltet, geformt. Jeder Text, auch wenn er klingt, als seien die Worte irgendjemandem stracks aus dem Mund gefallen, sind erarbeitet. Der Schluß, der daraus gezogen wird, sowieso. Und wie bei jedem richtigen Dichter steckt eine Moral dahinter, seine Weltsicht.


    Günthers Texte haben einiges von den Poètes maudits, aber sie sind weit weniger zerstörerisch. Sie sind zuweilen frech und aufmüpfig.


    … N Warsteiner
    Mein Freund
    Zeigt den anderen,
    daß du Arbeit hast!
    Ach, ja?
    Ich krieg n Berliner.


    Insgesamt gesehen machen sie eine jedoch eher traurig angesichts von soviel vergeblicher Liebe. Selbst hinter vermeintlicher Herzlosigkeit steckt sie. Es scheint keinen Ausweg zu geben.
    In der vorliegenden Sammlung treffen wir den Freund der Alkoholikerin, der sich um ihr krankes Kind kümmert, am Ende aber doch zusieht, daß er schleunigst Land gewinnt. Den Mann einer Trinkerin, der sie immer wieder ausnüchtert.


    … Ihre schwarzen Augen
    funkelten ihn an.
    Wenn sie ne Knarre hätte
    Dachte er
    Wärs jetzt mit mir vorbei.


    Prügelnde Eltern, Paare, die sich trennen, wieder und wieder. Tote Huren. Dazu viele Selbstreflexionen übers Dichten und über die Liebe, beides Schwerstarbeit und immer am Rand des Abgrunds.


    … es gibt eben Orte
    An denen
    die Magie
    nicht funktioniert.


    Zu den Orten, an denen die Magie nicht funktioniert, gehört auch die Kneipe, in der man als bekannter Säufer nicht reingelassen wird, obwohl jeder weiß, daß der Säufer ein Dichter ist. Aber Gedichte bringen keine Liebe ein, jedenfalls nicht die, die man will. Der Geliebten darf man höchstens das Fahrrad schieben. Im Bett wälzt man sich mit den anderen.


    Mit den meist wenigen Zeilen ist es nie getan, denn sie öffnen Räume zum Weiterdenken. Am Ende des Gedichts fängt man erst an, die jeweilige Geschichte zu lesen, die dahinterstecken mag.
    Auch das macht ein Gedicht aus, es ist nicht zuende, bloß weil ein Punkt hinter dem letzten Wort steht.


    Ort der Handlung ist vielfach Friedrichshain, der Berliner Bezirk, in dem Günther die meiste Zeit seines Lebens zugebracht hat. Die Veränderungen sieht er mit Mißtrauen, wie er überhaupt mit eingefleischtem Mißtrauen reagiert.


    … Die Hand auf
    der Schulter kann
    vieles
    bedeuten.
    Also komm
    mir nicht von hinten
    Mann.


    heißt es in Vorsicht!, das mit der Angst vor Verhaftung einsetzt.
    Das letzte Gedicht in dieser Sammlung zeigt den Dichter am 8. November 1989, in einer Kneipe, natürlich. Die Mauer ist offen, alle sind davongerannt. Bezahlt haben sie nicht. Der Dichter geht in die neue Zeit allein, mit einem frischgezapften Bier. Hat ihm der Wirt wortlos gebracht. Gibt es etwas zu feiern? Oder hofft der nur, daß der Zurückgebliebene für die Schulden aufkommt? Ausgerechnet ein Dichter? Und schon beginnt die Geschichte …


    Für die, die zeitgenössische Lyrik mit Gossenjargon nicht scheuen, unbedingt eine Entdeckung wert.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus