Madeleine Thien: Flüchtige Seelen

  • Madeleine Thien: Flüchtige Seelen
    Luchterhand 2014. 256 Seiten
    ISBN-13: 978-3630873848. 19,99€
    Originaltitel: Dogs at the Perimeter
    Übersetzerin: Almuth Carstens


    Verlagstext
    In ihrem neuen Roman folgt Madeleine Thien den Erinnerungen, Verletzungen und Träumen ihrer Figuren aus dem Kanada der Gegenwart in den tropischen Dschungel Kambodschas in den siebziger Jahren, als dort die Roten Khmer mit brutalem Terror und der Ermordung von Millionen von Menschen eine neue Gesellschaftsordnung errichten wollten. Mit klarer, sanfter Sprache erzählt sie vom Verlust und von der Wiedergewinnung der Menschlichkeit.


    Die Autorin
    Madeleine Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960ern nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Stepptanz und Akrobatik, später studierte sie Tanz, wechselte dann 1994 über zu Literatur. Ihr erstes Buch "Einfache Rezepte", eine Sammlung von Kurzgeschichten, wurde mit vier kanadischen Literaturpreisen ausgezeichnet, und ihr Debütroman "Jene Sehnsucht nach Gewissheit" in sechzehn Sprachen übersetzt. 2010 erhielt Madeleine Thien den Ovid Festival Prize. Madeleine Thien lebt in Montreal. „Flüchtige Seelen“ wurde nominiert für die Shortlist 2014 des Internationalen Literaturpreis - Haus der Kulturen der Welt.


    Inhalt
    Als Neurologen in der Hirnforschung befassen die Kanadierin Janie und ihr Kollege Hiroji sich mit degenerativen Prozessen im menschlichen Gehirn oder einfach ausgedrückt: mit Patienten, die ihre Erinnerungen verlieren. Als Hiroji überraschend verschwindet, muss auch Janie sich ihrer Vergangenheit stellen. In einem anderen Leben und mit einem anderen Vornamen war Janie ein Kind aus Kambodscha, dass zur Zeit der Herrschaft der Roten Khmer aus dem Meer gerettet und von einer kanadischen Pflegemutter aufgenommen wurde. Die mit Angst verknüpfte Scham darüber, selbst gerettet worden zu sein, während Eltern und Geschwister nicht überlebten, hat Janie nie verlassen. Schlimmer noch, das Schicksal ihres Bruders ist bisher ungeklärt und Vermisste leben endlos in uns weiter, musste Janie inzwischen erleben. Ohne Gewissheit über ihr Schicksal können die Toten aus unseren Erinnerungen nicht zur Ruhe gebettet werden. Janies Leben muss sich nun so stark festgefahren haben, dass sie zur Zeit nicht mit Mann und Sohn zusammenleben kann, sondern nur das Besuchsrecht für Kiri hat. Janie weiß von einem Bruder Hirojis, der in den 70ern für das Rote Kreuz nach Kambodscha ging und seitdem vermisst wird. Obwohl Janie und Hiroji offenbar unterschiedlichen Generationen angehören, verbindet sie das ungewisse Schicksal ihrer Brüder. Über Hiroji erfahren wir, dass er sich – wie andere Angehörige von Vermissten – nie mit einem möglichen Tod seines Bruders abfinden konnte und in den Gesichtszügen zufälliger Passanten seinen Bruder wiederzusehen glaubte.


    Janie hat schon immer das diffuse Bedürfnis gespürt, in der Zeit zurückzureisen und dabei jemand anders zu werden. Es ist leicht vorstellbar, dass eine Überlebende des Khmer-Regimes mit seinen endlosen Verhören und Gehirnwäschen sich nicht mehr sicher fühlt, welche der zahlreichen Biografien gerade gültig ist. Damals war es klug, so zu tun, als sei man die einzige überlebende Person seiner Familie und sich eine neue Biografie mit neuen Familienangehörigen auszudenken. Die Roten Khmer hatten irgendwann die eigene Biografie okkupiert. Janies Gedanken schweifen zu den verlassenen Kindern, die sich damals von Fröschen ernährten oder auf der Seite der Khmer Waffen trugen, hinter denen sie das Zittern ihrer Hände zu verbergen suchten. Hirojis Verschwinden lässt es fraglich scheinen, ob Janie ihre Identität dauerhaft wie eine Haut ablegen kann. Wie durch Gewächse eines Dschungels kämpft Janie sich durch eigene Erinnerungen und die Hirojis.


    --- Zitat
    In mir hatte sich seither etwas verändert. Mein Bruder war zu mir zurückgekehrt, so präzise, so deutlich, wie er am Ende zu sehen gewesen war. Ich wollte ihn bei mir behalten, und gleichzeitig, erklärte ich Hiroji, mochte ich nicht mit dieser Erinnerung leben. Es gab nichts an diesen letzten Momenten, was ich ändern konnte. Neben uns verarbeitete mein Computer Daten, unermüdlich. Wir redeten stundenlang …“ (S. 148)
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    Fazit
    Eine gelungene Geschichte wird unabhängig von ihrer Zeit und dem Schauplatz auf der ganzen Welt verstanden, egal ob in einer Jurte in der Steppe oder vom Bewohner eines Wolkenkratzers. Madeleine Thien schreibt solch eine zeitlos gültige Geschichte, in der sie – stellvertretend für alle Kriege – erzählt, wie ein Krieg eine Generation tötet und vertreibt und die Erinnerungen der folgenden Generation zerstört.


    9 von 10 Punkten

  • Flüchtige Seelen - Madeleine Thien


    Mein Eindruck:
    Flüchtige Seelen ist ein ungewöhnliches Buch. Die Autorin Madeleine Thien wählt geschickt verzweigte Erzählperspektiven, die sich aus Gegenwart und erinnerter Vergangenheit speisen. Es gibt Abschnitte in Kambodscha wie in Kanada.


    Dabei wirkt die Sprache des Buches auf mich zunächst spröde.
    Doch das ist nicht unbedingt negativ gemeint, weil ein Roman über das Kambodscha der 70er Jahre, als das totalitäre Regime der Roten Khmer brutal herrschte, keine einschmeichelnde Unterhaltungsprosa verträgt. Madeleine Thien hingegen schreibt unpathetisch.Sie hat viel recherchiert, und zweifellos ist ihre Sprache auch poetisch. Je weiter ich gelesen habe, umso faszinierter war ich von dem eigenständigen Ton der Autorin.


    Madeleine Thien nähert sich auf psychologischer Ebene dem Thema. Dazu passt auch, dass die Protagonisten ihres Romans Wissenschaftler sind, die sich mit Hirnforschung beschäftigen.


    Madelleine Thien beschreibt die Gräueltaten der Roten Khmer nicht im Detail, lässt jedoch keinen Zweifel daran, was der Terror bei den Überlebenden auslöst.
    Zum Beispiel bei der Protagonistin des Romans, Jamie, die als Kind in Kambodscha aufgewachsen ist (damals hieß sie Mei) und später adoptiert wird und nach Kanada kommt.
    Ihr Vater ist einer der Verschollenen. Obwohl es logisch ist, dass er tot sein muss, gibt es doch eine verborgene Seite in ihr, die irrationalerweise hofft ihn wiederzusehen. Janies Trauma ist tief in ihr verwurzelt.


    Mich überzeugten die Beschreibungen, wie die erwachsende Janie von Erinnerungen an ihre Kindheit und ihr Leben mit ihrem kleinen Bruder geflutet wird. Anlass ist das Verschwinden ihres Mentors und guten Freund Dr.Hiroji Matsui.
    Hiroji, dessen Bruder James in den Siebzigern nach Kambodscha ging, um dort als Arzt zu helfen. Diese Passagen der Geschichte von James fand ich ganz stark.


    Es ist übrigens kein ganz einfaches Buch. Mir als manchmal flüchtiger Leser wurden Zusammenhänge erst allmählich klar und die Wirkung des Erzähltem entfaltet sich erst allmählich. Große Teile des Romans habe ich zwei Mal gelesen.


    Madeleine Thien gelingt das, was sie in einem Interview mit dem Luchterhand Literaturverlag sagt:
    „Die Literatur bot mir die Möglichkeit, verschiedene Leben, Wahrheiten und Formen des Überlebens Seite an Seite zu stellen. Ich dachte, die verschiedenen Geschichten könnten sich gegenseitig beleuchten.“


    Mich hat ihre Herangehensweise überzeugt, wie auch ihre genaue Sprache. Einen weiteren Roman von ihr habe ich daher spontan bestellt.


    Das Buch war auf Platz 2 der Litprom-Bestenliste Weltempfänger.
    Da gefällt mir die Begründung des Jury-Mitglieds Katharina Borchardt, die ich hier zitiere, weil mir das zutreffend erscheint:


    Zitat

    "Ein psychologisch tiefgründiger und poetisch erzählter Roman, der Gegenwart und Vergangenheit komplex verwebt. Und ein Roman, der fragt: Bin ich nicht mehr als die Summe meiner Erinnerungen?”

  • Titel: Flüchtige Seelen
    OT: Dogs At The Perimeter
    Autorin: Madeleine Thien
    Übersetzt aus dem kanadischen Englisch von: Almuth Carstens
    Verlag: Luchterhand
    Erschienen: Mai 2014
    Seitenzahl: 250
    ISBN-10: 3630873847
    ISBN-13: 978-3630873848
    Preis: 19.99 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    In Montreal herrscht eisiger Winter, als Janie, eine vor Jahren aus Kambodscha nach Kanada geflohene Wissenschaftlerin am Neurologischen Institut der Universität, erfährt, dass ihr Kollege und Mentor Hiroji Matsui von einem Tag auf den anderen verschwunden ist. Hirojis Weggang verstört Janie auf eine Weise, die sich selbst nicht erklären kann. Sie verlässt ihren Mann und ihren kleinen Sohn und sucht in der Wohnung ihres väterlichen Freundes nach Hinweisen auf dessen Verbleib. Es scheint, dass er sich auf die Suche nach seinem lange verschollenen Bruder gemacht hat, der als Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Kambodscha gelebt hat.


    Die Autorin:
    Madeleine Thien wurde 1974 in Vancouver, British Columbia, geboren. Ihre Eltern stammen aus Malaysia und China und emigrierten in den 1960ern nach Kanada. Als Kind begann Thien mit Ballett, Steptanz und Akrobatik, studierte zunächst Tanz, wechselte dann 1994 über zu Literatur an der University of British Columbia.


    Meine Meinung:
    Es fällt nicht ganz leicht über einen Buch zu schreiben, mit welchem man nicht so richtig „warm geworden“ ist. Dabei ist es ganz sicher kein schlechtes Buch – nur habe ich nicht so den richtigen Zugang gefunden.
    ""Flüchtige Seelen" ist ein schrecklich schöner Roman, tieftraurig und zutiefst berührend." meint Claudia Kramatschek von der NEUEN ZÜRICHER ZEITUNG.
    Diesem Urteil kann ich mich aber nicht anschließen. Denn Madeleine Thien schreibt sehr distanziert, und oftmals hat die sicher auch vorhandene Trauer kaum eine Chance in den Vordergrund zu treten. Und so wirkt das ganze Buch. Kühl, distanziert und auch ein wenig unnahbar. Trotzdem ist dieses Buch ein zutiefst menschlicher Roman.
    Und vielleicht liegt ja auch seine besondere Stärke eben in der Distanz zum Erzählten – und vielleicht hat mich das Ganze ja auch ein wenig auf dem falschen Fuß erwischt.
    Dieses Buch ist keine Enttäuschung, es ist auch lesenswert und es gehört ganz sicher nicht auf irgendeinen literarischen Müllhaufen – ganz im Gegenteil.
    7 Eulenpunkte für ein Buch, das von der Kritik sehr wohlwollend aufgenommen wurde.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.