Kerstin Hensel schreibt seit Mitte der 1980er Jahre Theaterstücke, Hörspiele, Erzählungen, Features und Drehbücher, das eine und andere Kinderbuch, einen Roman. Vor allem aber schreibt sie Gedichte, sie ist Lyrikerin. Sie spricht auch gern über Gedichte, in Schulen, Schreibwerkstätten, als Poetikdozentin an Hochschulen.
Gedichte stehen in einem seltsamen Ruf. Sie gelten als schön, aber schwierig. Schwierigem geht man besser aus dem Weg. Jeder, die schreibt, wird empfohlen, sich im Gedichte schreiben auszuprobieren, kaum ein Schreibkurs ohne Reim-Sport oder wenigstens ein Haiku. Verkaufen tun sich Gedichte aber nicht gut, vor einer Professionalisierung wird gewarnt. Es gibt wahrscheinlich so viele Gedichte, wie Sterne am Himmel, aber die Kenntnis von Gedichten ist im Vergleich dazu erstaunlich gering. Das Gedicht ist heute ein Widerspruch an sich.
Das zeigt schon der Titel. Gedichte sind Spiel mit Wörtern, wer viel spielt, ist verspielt. Wenn man jedoch daneben faßt, hat man verspielt. Das Ergebnis des Spielens schillert zwischen höchstem Erfolg und entsetzlichstem Scheitern. Ein Gedicht ist ein Wagnis, für die Lyrikerin ebenso wie für die Leserin.
Das Problem mit Gedichten ist Hensels Ausgangspunkt. Ihr Buch ist eine Art Handbuch zum Verstehen von Gedichten. Es geht nicht um ihren Aufbau, um Technika, wie Reim, Vers und Strophe, Rhythmus, Metrum, es geht auch nicht um Textanalyse und Interpretationshilfe.
Hensel zeigt vielmehr, wie man an Gedichte herangeht. Sie ist offen und direkt, ein Gedicht darf schwierig sein. Das Verständnis muß man sich erarbeiten. Verdichtete Sprache ist nicht leicht zugänglich. Ein Gedicht lesen heißt, der Lust am Rätselraten nachgeben.
Eingeteilt ist das Buch in zwei Teile. Im ersten erzählt Hensel, welche Gründe es geben kann, sich auf den Weg zur Lyrikerin zu begeben, was Gedichte ausmacht, wie viele und welche Mißverständnisse es dabei gibt. Sie rückt vieles zurecht, etwa, wie alt angeblich so moderne Formen tatsächlich sind, oder daß zu den Voraussetzungen zum Verstehen eines Gedichts auch Musikalität gehört, Assoziationsfähigkeit und eine Menge Wissen. Daß die besten Gedichte die sind, die sich nicht vollständig entschlüsseln lassen, daß Deutungen immer persönliche Deutungen sind, ohne zugleich ausschließlich dem Geschmack unterworfen zu sein. Ein ganzes Kapitel dieses ersten Teils besteht aus Deutungen eines Gedichts durch Leserinnen und Leser unterschiedlicher Altersgruppen und Berufe. Jede und jeder liest anders. Die Autorin des Gedichts bleibt zunächst anonym, sie kommt erst am Ende zu Wort und ihre Darstellung ist wieder anders.
Hensel läßt dabei viel aus der eigenen Biographie einfließen, vor allem aber ihre langjährige Erfahrung im Umgang mit Gedichten, das macht die Lektüre sehr lebendig. Sie ist noch dazu sehr spannend, weil man schon beim Lesen zu Einspruch oder gar Widerspruch angeregt wird. Ein Gedicht lesen ist immer Auseinandersetzung, mit dem Text, mit Autorin/Autor und dann eben mit sich selbst.
Im zweiten Teil führt Hensel in Kapiteln von wenigen Seiten durch die bekanntesten Genres der Lyrik. Naturlyrik, Politische Gedichte, Mundart, Humor, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Es gibt eine sehr interessante Einschätzung von Poetry Slams, ein wichtiges Kapitel zur Frage von Kitsch. Bei den Kindergedichten hätte ich mir mehr Informationen gewünscht, aber tatsächlich ist der Umgang von Kindern mit Lyrik selbst wieder ein eigenes Thema. Immerhin wird deutlich, was schlechte Kindergedichte sind.
Zur Frage von Gedicht-Interpretationen gibt es einen Beitrag aus dem schulischen Deutschunterricht, den man lesen muß, um es zu glauben.
Hensel bringt eine Vielzahl von Beispielgedichten oder Gedichtauszügen aus vielen Jahrhunderten, wenn auch die moderne und zeitgenössische Lyrik dominiert. Neugierig auf die jeweiliegn AutorInnen macht das allemal. Ihre Beispiele sind immer persönlich, zugleich aber typisch, was beim Lesen einen besonderen Reiz ausmacht.
Am Ende gibt es ein Verzeichnis der genannten LyrikerInnen und ein kleines Glossar, in dem Begriffe, wie etwa Blankvers, Sonett, aber auch Transzendenz erklärt werden sowie ein paar Lektüretips über Lyrik.
Drei Schreibfehler gibt’s, die man hätte übersehen können, wären sie nicht ausgerechnet im Kernbereich passiert. Die Veranstaltung heißt ‚Open Mike‘ nicht Open Mic (das ist etwas anderes), Peter Hacks wird im Genitiv nicht zu Hackens, sondern Hacksens (Hacks’ geht auch) und der dritte ist eine Verschreibung in einem Gedichttext von Friedrike Kempner, was die Zeile unverständlich macht.
Frisch, gescheit und ohne Scheuklappen, das Handbuch für alle, die an Schwellenangst vor Lyrik leiden.