Der Anspruch des Lesers


  • Hierbei fühle ich mich wieder an einem Punkt angesprochen, der mich schon öfter in Forums-Diskussionen geschmerzt hat (Und ich habe sicher auch schon zwei, dreimal dazu geschrieben): Meinem Gefühl nach wird oft der Umkehrschluss gesetzt, dass "Massenware" - also das, was viel ausliegt und viel gelesen wird - ebenso wie "Blockbuster" - das, was in den großen Kinos läuft und viel beworben wird - auch gleich qualitativ schlecht sein muss. Bei Büchern heißt das, ein Hype macht aus einem Geheimtipp umgehend Tonnenware und bei Filmen, dass Spiderman niemals dramaturgisch so gut aufgebaut sein kann wie der Dallas Buyers Club (Fantastischer Film, darum geht es mir an dieser Stelle gar nicht). Und das nur, weil letzteres im O-Ton in den Yorck-Kinos läuft ... Ich bekomme das Bedürfnis, schwermütig zu seufzen.


    Zitat

    Original von Rosha


    :lache Dafür gibt's doch auch keine Lösung! Gibt es kein neues Thema, über das wir uns mal auslassen können? :gruebel


    Wenn du so fragst ...


    Mich treibt gerade "Haruki Murakami - Kafka am Strand" in den Wahnsinn.


    Die gewünschte Originalität würde ich dem Autoren bescheinigen. Interessante Figuren ebenfalls - Oshima werde ich so schnell nicht vergessen.


    Doch ich komme seit Wochen nicht über Seite 539/40 hinweg. Dort beschreibt der Autor beispielsweise:


    "Ich fürchte mich nicht mehr vor dem Wald. Auch hier gibt es so etwas wie Regeln oder zumindest Regelmäßigkeiten. Seit ich keine Angst mehr habe, werde sie mir allmählich offenbar. Ich nehme die ewige Wiederkehr darin in mich auf und werde selbst ein Teil von ihr. [...]" und kurz darauf: "Damit versuche ich dem Wald sichtbar zu vermitteln, dass ich mich nicht fürchte und dass meine Wehrlosigkeit frei gewählt ist. Vielleicht auch mir selbst. Nachdem ich meinen harten Panzer abgeworfen habe, mache ich mich nackt auf den Weg ins Innere des Labyrinths, um mich der Leere, die dort herrscht, zu überlassen.
    Plötzlich erstirbt die Musik, die die ganze Zeit in meinen Ohren erklang. Nur ein schwaches weißes Rauschen bleibt - weiß und straff wie ein Laken, das über ein großes breites Bett gespannt ist."


    Ich weiß, dass Murakami von vielen Lesern sehr geschätzt wird und frage mich daher, wieso ich seine Sprache besonders an dieser Stelle eher als gestelzt denn anspruchsvoll empfinde, eher als prätentiös denn als literarisch hochwertig.


    Mein Diskussionspunkt: Was definiert denn jetzt genau "literarisch/sprachlich anspruchsvoll" und "philosophisch" im Gegensatz zu "prätentiös" und "pseudo-philosophisch"?

  • Zitat

    Original von JASS


    Mein Diskussionspunkt: Was definiert denn jetzt genau "literarisch/sprachlich anspruchsvoll" und "philosophisch" im Gegensatz zu "prätentiös" und "pseudo-philosophisch"?


    Ach, da werden sich hier ganz sicher ein paar Klugscheisserchen finden....... :grin

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von JASS
    (...) Was definiert denn jetzt genau "literarisch/sprachlich anspruchsvoll" und "philosophisch" im Gegensatz zu "prätentiös" und "pseudo-philosophisch"?


    Um Voltaire nicht zu enttäuschen:
    Es gibt gänzlich unterschiedliche Interpretationen zu Texten - und diese können sich sogar widersprechen, dennoch aber seriös begründet sein. Was dem einen "sprachlich anspruchsvoll" erscheint, ist für die andere "prätentiös".
    In der Literatur fließt alles, vor allem Wertigkeiten. Sie ist keine Naturwissenschaft. Und das ist auch gut so.
    Worüber könnte man sich hier sonst so trefflich streiten? Dann blieben nur noch Diskussionen über die richtige Menge Backpulver beim neuen Kuchenrezept ... :lache

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann


    Um Voltaire nicht zu enttäuschen:


    Danke, Dieter. :anbet


    Zitat

    Worüber könnte man sich hier sonst so trefflich streiten? Dann blieben nur noch Diskussionen über die richtige Menge Backpulver beim neuen Kuchenrezept ...


    ....wobei das natürlich Frage impliziert: Muss Backpulver überhaupt hinzugegeben werden? :gruebel

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    ....wobei das natürlich Frage impliziert: Muss Backpulver überhaupt hinzugegeben werden? :gruebel


    Das kommt darauf an, wie anspruchsvoll der Kuchen werden soll. :lache

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)

  • Und dann kommt bei Murakami noch das Problem der Übersetzung hinzu.


    Niederländische Werke sind recht leicht zu übersetzen, schwieriger wird es schon mit Büchern aus dem romanischen oder slawischen Sprachraum ... und japanische Werke sind wirklich eine Herausforderung.


    Falls ich meiner japanischen Kollegin das Original vorlegte, würde sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit diesen von Jass zitierten Passus ganz anders übersetzen. Man müsste also fragen: Welchen Anteil hat der Übersetzer daran, dass Jass diese Zeilen als gestelzt empfindet, sowie eher prätentiös als literarisch hochwertig.

  • Zitat

    Original von Dieter Neumann


    Um Voltaire nicht zu enttäuschen:
    Es gibt gänzlich unterschiedliche Interpretationen zu Texten - und diese können sich sogar widersprechen, dennoch aber seriös begründet sein. Was dem einen "sprachlich anspruchsvoll" erscheint, ist für die andere "prätentiös".
    In der Literatur fließt alles, vor allem Wertigkeiten. Sie ist keine Naturwissenschaft. Und das ist auch gut so.
    Worüber könnte man sich hier sonst so trefflich streiten? Dann blieben nur noch Diskussionen über die richtige Menge Backpulver beim neuen Kuchenrezept ... :lache


    Wenn es dafür wirklich gar keine Anhaltspunkte gibt, wundert mich schon, wo der hohe Konsens darüber herkommt, was "seichte" Unterhaltung ist und was nicht. In diesem Thread wurde viel darüber diskutiert, ob ein Buch "gut" oder "schlecht" (geschrieben) ist. Aber daran, dass es unterschiedliche Kategorien gibt und dass auch jeder eine ungefähre Vorstellung hat, wohin er welchen Roman packen würde, hat sich eigentlich niemand gestoßen.


    Ich frage mich dann, woher ich einen Anspruch definieren soll, und wieso sich so hartnäckig Begriffe von "hochwertiger" und "seichter" Literatur geprägt haben.

  • Zitat

    Original von JASS
    Wenn es dafür wirklich gar keine Anhaltspunkte gibt, wundert mich schon, wo der hohe Konsens darüber herkommt, was "seichte" Unterhaltung ist und was nicht. In diesem Thread wurde viel darüber diskutiert, ob ein Buch "gut" oder "schlecht" (geschrieben) ist. Aber daran, dass es unterschiedliche Kategorien gibt und dass auch jeder eine ungefähre Vorstellung hat, wohin er welchen Roman packen würde, hat sich eigentlich niemand gestoßen.


    Dieter hat doch nicht gesagt, daß es "gar keine Anhaltspunkte" gibt. Sicher gibt es die. Es gibt zwar eine große Grauzone, dennoch weiß praktisch jeder Vielleser, wo er seine aktuelle Lektüre ungefähr einordnen kann. Trotzdem sähe die Einordnung vermutlich bei jeder Eule anders aus.


    Der Unterschied zur Massenware ist meines Erachtens insbesondere der, daß die Massenware oft einfach nur ein schnell abgekupfertes Buch eines erfolgreichen Originals ist. Diese "Verramschung" durch Massenanfertigung widerspricht meiner Meinung nach jedem Qualitätsanspruch. Das heißt im Umkehrschluß natürlich nicht, daß jedes einzigartige Buch qualitativ gut ist!


    An dieser Stelle wird bei Wikipedia versucht, den Unterschied zwischen Hochliteratur, Unterhaltungsliteratur und Trivialliteratur zu erklären. Aber auch hier wird im letzten Satz klargestellt, daß die Übergänge fließend sind und es hieb- und stichfeste Einordnungen einfach nicht gibt.

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)

  • Zitat

    Original von JASS


    Wenn es dafür wirklich gar keine Anhaltspunkte gibt (...)


    (...) Ich frage mich dann, woher ich einen Anspruch definieren soll, und wieso sich so hartnäckig Begriffe von "hochwertiger" und "seichter" Literatur geprägt haben.


    Nun, es gibt durchaus solche "Anhaltspunkte". Es sind die, welche - getreu meiner o. a. These, dass es gute und schlechte Bücher nicht gebe, sondern nur gut oder schlecht geschriebene - aufzeigen, was gute Schreibkunst ausmacht.


    Wer sich ernsthaft damit beschäftigen will (Vorsicht, das ist mühsam, und viele Autoren schreiben Bücher, ohne je etwas von diesem Werk gehört zu haben ...), mag dieses populärwissenschaftliche, aber ganz ausgezeichnete "Handbuch" (nur für große Hände, da 700 Seiten!) lesen. Gibt es inzwischen für unter 5 EUR. Hier bekommt man einen sehr guten Überblick über Anforderungen an das Schreiben.
    Aber: Nichts davon ist Gesetz, nichts davon darf nicht auch missachtet werden. Im Gegenteil: Originalität entsteht auch beim Schreiben durchaus auch durch stilistische Authentizität. Es ist aber wie bei allen guten Künstlern: Nur wer das Handwerk seiner Kunst absolut beherrscht, kann dessen Regeln übertreten, neue Wege beschreiten, experimentieren. Einen ahnungslosen Buchstabensuppenkoch, der seine Unfähigkeit als höchste Originalität verkauft, werden die Leser (meistens) rasch entlarven.
    Manche aber kommen damit durch. Und die einen von den anderen zu unterscheiden, wird wiederum sehr von der jeweiligen persönlichen Sichtweise bestimmt.
    Womit wir wieder am Anfang der Diskussion angekommen wären.


    Ach ja, es ist schon ein rechtes Kreuz mit diesen Künsten ... :schnaps

  • Jetzt weiß ich wieder, warum ich, nachdem ich mich durch immerhin zwei seiner Werke gequält habe, beschlossen habe: nie wieder Murakami!


    Und ob ein Buch eher der "seichten Unterhaltung" oder der "anspruchsvollen Unterhaltung" zugeordnet wird, mach ich immer an einer Mischung aus Sprache und Inhalt fest. Ich hab schon Bücher gelesen - unter anderem den Murakami - wo mit großen Worten eigentlich rein gar nichts gesagt wurde. Umgekehrt gibt es Bücher, die sprachlich eher schlicht sind, die ich aber aufgrund der Thematik und wie diese dargestellt wird durchaus als anspruchsvoll bezeichnen würde.

    Man möchte manchmal Kannibale sein, nicht um den oder jenen aufzufressen, sondern um ihn auszukotzen.


    Johann Nepomuk Nestroy
    (1801 - 1862), österreichischer Dramatiker, Schauspieler und Bühnenautor

  • Vorweg, Jungs es ist besser, wenn Ihr die Finger vom Backen lasst.
    Ich mische auch nicht in Fußballfragen ein. Ehrenwort (was das in Schleswig-Holstein heisst, wisst Ihr ja ;-))!


    Hallo Jass,


    ich schätze die Bücher von Haruki Murakami, auch wenn ich ihn für einen großartigen Blender halte. Sein vollständiges Werk kenne ich nicht und "Kafka am Strand" habe ich frühzeitig abgebrochen. Weder kam ich mit der Handlung zurecht noch hat mich die Sprache in diesem Roman angesprochen, was sicherlich auch an der mystischen Komponente lag.
    Zweifel, wie beisswenger sie an der Übersetzung äußerte, habe ich weniger, da Ursula Gräfe eine sehr erfahrene Übersetzerin ist und offensichtlich auch eine Direktübersetzung aus dem Japanischen erfolgte. Das geschieht nicht mit allen Romanen des Schriftstellers, da Murakami mehr Wert auf eine schnelle (häufig aus dem Englischen) Übersetzung denn auf eine Direktübersetzung legt.


    Die Begeisterung für Murakami außerhalb Japans rührt m.E. daher, dass er einen Einblick in eine völlig andere Kultur gibt und damit eine fremdartige Atmosphäre schafft, die wir als Tiefe interpretieren, während sie in Japan belächelt werden.
    In Gesprächen mit meinen japanischen Freunden habe ich immer wieder festgestellt, dass die Romane von Murakami, die mir gefallen, von Japanern als Triviallektüre abgestempelt werden, während "Kafka am Strand" in den höchsten Tönen gelobt wurde.

  • Zitat

    Zweifel, wie beisswenger sie an der Übersetzung äußerte, habe ich weniger, da Ursula Gräfe eine sehr erfahrene Übersetzerin ist und offensichtlich auch eine Direktübersetzung aus dem Japanischen erfolgte.


    Werte Salonlöwin (kleiner Exkurs),
    das mag im Allgemeinen stimmen, aber ich habe das Besondere angesprochen. Jedes Werk, und mag es noch so gut sein, hat Schwächen. Es gibt immer Absätze, Sätze ..., die nicht so gut gelungen sind, selbst im Meisterwerk. Hinzu kommen Schludrigkeiten der Übersetzer. Ich erinnere mich z.B. an die Neuübersetzung des Medicus von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, die sprachlich wesentlich anspruchsvoller (hier ist es wieder, dieses Wort) ist, als die Erstübersetzung.