'Die Stadt der Blinden' - Seiten 001 - 074

  • Zitat

    Original von -Christine-
    ...
    Des weiteren ist mir aufgefallen, daß alle Personen namenlos bleiben. Ich frage mich, welche Absichten der Autor damit verfolgt? Will er damit unterstreichen, daß es sich um eine Fiktion handelt? Sollen wir eine gewisse Distanz zu den Menschen in diesem Roman behalten?


    Ich denke, dass man einerseits mitten drin ist in dem Empfinden, wie es sein muss, so plötzlich zu erblinden (eine Horrorvorstellung!) und mit so vielen anderen plötzlich kein eigenes, selbstbestimmtes Leben mehr zu haben, und man andererseits die Distanz eines Beobachters behält. So ging es mir jedenfalls.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    made, kann sein, dass da aus mir auch nur der Fan spricht!
    Stellen wir den Roman also tatsächlich noch mal auf den Prüfstand!


    Hast du "Die Stadt der Sehenden" gelesen? Bestimmt, wie ich dich kenne, oder?
    Lohnt sich das Buch? Ich überlege nähmlich. :gruebel

  • Also ihr meint, dass der Leser durch zuviele Details über Äußeres etc. von den Empfindungen der Personen abgelenkt wird.
    Das leuchtet mir ein. Man fühlt sich selbst ein bisschen blind.

  • Zitat

    Original von made
    Die Namenlosigkeit ist Anfang des zweiten Abschnitts nochmal Thema.


    Aber ich verstehe das nicht so recht. Man gibt doch nicht seine Identität ab, wenn man blind wird.


    Ich denke, wenn es so geschieht wie im Buch, dann schon. Die um sich greifende Blindheit als Krankheit isoliert die Betroffenen. Die noch Gesunden haben massive Ängste. Die Umstände, in denen sich die Erblindeten wieder finden, kann man nicht mit der Blindheit vergleichen, wie es sie wirklich gibt in unserer normalen Gesellschaft.
    Hier herrschen Hysterie, Angst, Verzweiflung, und die verändert Menschen zu etwas, was sie nie meinten sein zu können. auf der einen und der anderen Seite.

  • Zitat

    Original von made
    Und die junge Frau behandelt ihre Bindehautentzündung. Da fragt man sich schon, wozu denn noch.


    Bindehautentzündung ist schmerzhaft. Behandlung ist trotz Blindheit erforderlich.


    Zitat

    Original von Clare


    Hast du "Die Stadt der Sehenden" gelesen? Bestimmt, wie ich dich kenne, oder?
    Lohnt sich das Buch? Ich überlege nähmlich. :gruebel


    Ich habe es bestellt, aber noch ist es nicht da.
    Von Saramago habe ich bisher folgende Bücher gelesen: Alle Namen, Kleine Erinnerungen, Kain, Hoffnung im Alentejo, Handbuch der Malerei und Kalligraphie, Die Reise des Elefanten, Der Doppelgänger, Die Stadt der Blinden


    Zitat

    Original von Clare


    Ich denke, wenn es so geschieht wie im Buch, dann schon. Die um sich greifende Blindheit als Krankheit isoliert die Betroffenen. Die noch Gesunden haben massive Ängste. Die Umstände, in denen sich die Erblindeten wieder finden, kann man nicht mit der Blindheit vergleichen, wie es sie wirklich gibt in unserer normalen Gesellschaft.
    Hier herrschen Hysterie, Angst, Verzweiflung, und die verändert Menschen zu etwas, was sie nie meinten sein zu können. auf der einen und der anderen Seite.


    Das sehe ich auch so.
    Das gemeinsame Erblinden der Bewohner wirkt als schicksalhaft für eine Gesellschaft, und somit stärker als für eine einzelne Person.

  • Zitat

    Original von Clare
    Die um sich greifende Blindheit als Krankheit isoliert die Betroffenen. Die noch Gesunden haben massive Ängste. Die Umstände, in denen sich die Erblindeten wieder finden, kann man nicht mit der Blindheit vergleichen, wie es sie wirklich gibt in unserer normalen Gesellschaft.
    Hier herrschen Hysterie, Angst, Verzweiflung, und die verändert Menschen zu etwas, was sie nie meinten sein zu können. auf der einen und der anderen Seite.


    Vielleicht wird mir das im Lauf des Buch noch klarer.


    Bisher schon mal vielen Dank. Ihr habt mir schon zu etwas mehr Klarheit verholfen. :wave

  • Ich hinke noch ein bisschen hinterher.


    Zur Namenlosigkeit denke ich, es geht in diesem Buch ja auch nicht so sehr um die individuellen Schicksale. Mir erscheint die Geschichte eher wie eine Art Gleichnis oder wie eine Fabel. Ganz oft kommen allgemeine moralische Erwägungen.
    Diese Blindheit ist ebenfalls eine ganz besondere. Nicht die, die man sich gemeinhin vorstellt, nämlich die Schwärze. Für mich ist sie auch ein Symbol. Wofür wird sich wohl noch zeigen.


    Ich habe eine Frage zu dem Satz auf S. 36., Zeile 8. "Auch wenn Juno noch so umwölkt ist.....
    .ginge man doch zu weit, wollte man in der Luft schwebende Wassertropfen mit einer griechischen Göttin verwechseln." Der Zusammenhang mit den definitiven Urteilen und Selbstgefälligkeit von Menschen, etwas zu sehen, was gar nicht da ist, das ist mir einigermaßen klar.
    Aber Juno ist eine römische und keine griechische Göttin! Ich bin etwas ratlos.

  • Made, diese Anspielung, bei mir auf S. 41 (Ein Arzt, für sich genommen, steht für einige Männer) - scheint sich auf den elften Gesang, 514,515 zu beziehen, da heißt es:


    Denn ein heilender Mann ist wert wie viele zu achten,
    Der ausschneidet den Pfeil, und mit lindernder Salbe verbindet.


    Woran er auf der nächsten Seite gedacht haben mag, ist mir nicht klar, es gibt mehrere Stellen, an denen gesagt wird, dass Menschen ihre Zukunft nicht vorhersehen können.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ich habe eine Frage zu dem Satz auf S. 36., Zeile 8. "Auch wenn Juno noch so umwölkt ist.....
    .ginge man doch zu weit, wollte man in der Luft schwebende Wassertropfen mit einer griechischen Göttin verwechseln." Der Zusammenhang mit den definitiven Urteilen und Selbstgefälligkeit von Menschen, etwas zu sehen, was gar nicht da ist, das ist mir einigermaßen klar.
    Aber Juno ist eine römische und keine griechische Göttin! Ich bin etwas ratlos.


    Ich vermute, das ist nur eine Ungenauigkeit. Juno ist der griechischen Göttin Hera gleichgesetzt.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Made, diese Anspielung, bei mir auf S. 41 (Ein Arzt, für sich genommen, steht für einige Männer) - scheint sich auf den elften Gesang, 514,515 zu beziehen, da heißt es:


    Denn ein heilender Mann ist wert wie viele zu achten,
    Der ausschneidet den Pfeil, und mit lindernder Salbe verbindet.


    Woran er auf der nächsten Seite gedacht haben mag, ist mir nicht klar, es gibt mehrere Stellen, an denen gesagt wird, dass Menschen ihre Zukunft nicht vorhersehen können.


    Ich dachte, die zweite Stelle bezieht sich auch auf die erste. Der Arzt vergisst sein eigenes Leiden, er steht moralisch höher als andere.

  • Made, mag sein, dass es eine Ungenauigkeit ist.


    Es ist schon unmenschlich, wie die Blinden ohne Hilfe in dieser Irrenanstalt eingesperrt werden. Es ist ja ein Unterschied, ob jemand schon länger blind ist und gewohnt, sich zurechtzufinden, oder gerade eben erblindet ist.
    Ohne die Frau des Arztes hätte schon der erste Abend in einem Chaos geendet.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Ohne die Frau des Arztes hätte schon der erste Abend in einem Chaos geendet.


    Sie wirkt auf mich sehr gefasst und ruhig. Sie reagiert überlegt, was sicher nicht einfach ist. Sie will helfen, ohne dass die anderen merken, dass sie sehen kann.
    Emotionen merkt man ihr keine an. Aber auch die anderen Personen bleiben diesbezüglich im Dunkeln. Ist das auch eine Form der Namenlosigkeit? Oder ändert sich das im Lauf des Buches noch?

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Zur Namenlosigkeit denke ich, es geht in diesem Buch ja auch nicht so sehr um die individuellen Schicksale. Mir erscheint die Geschichte eher wie eine Art Gleichnis oder wie eine Fabel. Ganz oft kommen allgemeine moralische Erwägungen.
    Diese Blindheit ist ebenfalls eine ganz besondere. Nicht die, die man sich gemeinhin vorstellt, nämlich die Schwärze. Für mich ist sie auch ein Symbol. Wofür wird sich wohl noch zeigen.


    Ich sehe das ähnlich. Das Schicksal eines einzelnen ist nicht so bedeutend, wie das einer Gruppe oder gar einer ganzen Gesellschaft. Erst recht, wenn es um die Moral geht.

  • Zitat

    Original von made
    Die Namenlosigkeit ist Anfang des zweiten Abschnitts nochmal Thema.


    Aber ich verstehe das nicht so recht. Man gibt doch nicht seine Identität ab, wenn man blind wird.



    Man nicht, aber es kann durchaus gesehen, dass sie einem abgenommen wird.



    Mein Eindruck zu diesem Abschnitt:
    Ganz überrascht bin ich, wie gut mir das Buch nach diesem ersten Abschnitt immer noch gefällt. Nach meinen bisherigen, besonders den „Kain“-Erfahrungen hatte ich damit nicht unbedingt gerechnet, aber hier wird mir fast deutlich, warum unter anderem Herr Palomar so begeistert von Saramago ist.


    Der Text liest sich auch überraschend flott, obwohl ich hier den Stil eigenwillig, aber trotzdem sehr eindeutig finde. Zu erkennen, wer denn gerade rede, bereitete mir keine Schwierigkeiten, so sehr unterstützt meiner Meinung nach das Ineinander die Dringlichkeit des Gesprächs der unterschiedlichen Personen. Manchmal tauchte zwar bei mir das Gefühl einer gewissen Gehetztheit auf, andererseits hatte ich den Eindruck, die Personen seien nicht nur im Grunde austauschbar (daher das nicht direkt Abgegrenzte des Sprechens?), sondern wirken wie „durch Watte“ beschrieben. Ein seltsamer Eindruck. Wobei die größte Aufregung (positiv gemeint) eigentlich die „gesellschaftlichen Beobachtungen“ verursachen. Dass ist eigentlich das, was meinen Lesefluss etwas hemmen kann: Dass ich erst mal darüber nachdenken muss, wie recht Saramago doch oft, allzu oft hat (zum Beispiel Seite 25, der seltsame Vergleich mit einem Beichtstuhl, oder seine bzw. des Erzählers Bemerkungen über die „Komplexität gesellschaftlicher Beziehungen“ Seite 36 – wobei ich glaube, dass sich das als Thema des Buches herausstellen wird).


    Die Blindheit ist erschreckend, nicht nur in ihrer Plötzlichkeit, sondern auch in ihrer Farbe: Weiß. Ist es eigentlich wirklich Blindheit? Wenn ja: Wäre die Schwärze dann nicht im Grunde besser zu ertragen, weil, so wie das Weiß besonders Seite 15 geschildert wird, es immer den Eindruck vermittelt, es könne die Realität nicht nur nicht sichtbar, sondern wirklich zum Verschwinden bringen – das Weiß als eine Art gefräßiges Wesen, je mehr es bekommt, desto mehr will es? Und warum Weiß, ausgerechnet die Farbe der Unschuld (zumindest sagt man in der westlichen Welt, in anderen Ländern steht sie auch für Trauer)? „Für mich ist es, als gäbe es keine Nacht“ (Seite 19) – das trägt für mich zum Gefühl der Beängstigung, gewissermaßen auch der Bedrohung bei. Letztlich wird es dann keine Ruhe mehr geben. Man erinnert sich nur zu deutlich an Berichte aus Gefängnissen und KZs, an die fortwährende Helligkeit als besondere Art der Folter. Jedenfalls trifft dieser Zustand, den wir der Einfachheit halber weiter Blindheit nennen, ohne Ausnahme. Sie macht keinen Unterschied. Hat das, was als „Ansteckung“ durchzugehen scheint, eventuell andere Gründe? Auslöser eher Angst vor der Ansteckung als jene selbst?


    Die Formulierungen Seite 38, mit denen die Frau auf ihrem Weg zur Verabredung beschrieben wird, besonders „Sünde und das Laster sind so begünstigt vom Glück ...“ lassen mich darüber nachdenken, ob sie etwas spürte, was sie aber nicht wahrhaben wollte, schließlich hatte sie ja eine Augenkrankheit. Wenn es so sein sollte, würde ich die Unterschiede zwischen den hier beschriebenen Männern und Frauen sehr interessant finden: Die Männer sagen, schreien sofort „ich bin blind“, die Frauen (auch wenn eine von ihnen lügt, wenn sie es behauptet) erst, wenn sie in eine Situation geraten, in der es angezeigt ist, sich dazu zu bekennen.


    Was mir noch in den Sinn kam: Die Krankheit ist ohne Zweifel eine Katastrophe, aber das, was die Benachrichtigung der Behörden auslöste, auch. Es setzt sich eine Maschinerie in Gang, die ebenso beängstigend klingt. Schutz der Allgemeinheit – und wer schützt die Kranken? Sie sind sich selbst überlassen, sind ausgesondert, abgeschottet, bewacht. Man darf gespannt sein, ob irgendwann auch die Kosten, die auflaufen, zur Sprache kommen. Die Beschreibung der Irrenanstalt (wieso ein solches Wort – oder ist es genau das treffende, weil die Abschottung dazu führen wird, dass die Kranken zu wahren Bewohnern einer solchen werden, die Anstalt also letztlich ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt wird?) und des Regelwerks bedrückt und erschreckt. Sie haben Parallelen, keine freundlichen, ich nannte sie schon in einem anderen Absatz. Die Kranken haben keinerlei Rückzugsmöglichkeiten, sie bleiben sich überlassen, müssen sich organisieren. Es werden sich neue Strukturen bilden (müssen), neue „gesellschaftlichen Beziehungen“, die in ihrer Komplexität denen in der Welt „da draußen“ in nichts nachstehen werden. Mit dem Unterschied wahrscheinlich, dass sie sich wesentlich schneller ändern können und werden.


    Meine Seitenzahlen beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe mit dem überaus interessanten Cover. Ginkoblätter. Die hätte ich in diesem Kontext (na gut, wie viel habe ich bisher gelesen?) eher nicht erwartet.

  • Zitat

    Original von made


    Und jetzt spinne ich mal den Gedanken noch etwas weiter:
    Beabsichtigt der Autor eine Art Vernebelungstaktik, ganz dem Titel angemessen? Der Leser fühlt sich genauso in einem "milchigen Meer" wie die Blinden. Deshalb auch keine Namen?
    Oder ist das viel zu weit hergeholt?


    Für mich nicht, ich hatte ähnliche Gedanken.

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Die Formulierungen Seite 38, mit denen die Frau auf ihrem Weg zur Verabredung beschrieben wird, besonders „Sünde und das Laster sind so begünstigt vom Glück ...“ lassen mich darüber nachdenken, ob sie etwas spürte, was sie aber nicht wahrhaben wollte, schließlich hatte sie ja eine Augenkrankheit. Wenn es so sein sollte, würde ich die Unterschiede zwischen den hier beschriebenen Männern und Frauen sehr interessant finden: Die Männer sagen, schreien sofort „ich bin blind“, die Frauen (auch wenn eine von ihnen lügt, wenn sie es behauptet) erst, wenn sie in eine Situation geraten, in der es angezeigt ist, sich dazu zu bekennen.


    Wenn ich mich nicht täusche, ist diese junge Frau die einzige Frau, deren Erblindungsereignis geschildert wird. Hier Männer mit Frauen zu vergleichen, ist wohl schwierig.

    Zitat

    Original von Lipperin
    Die Blindheit ist erschreckend, nicht nur in ihrer Plötzlichkeit, sondern auch in ihrer Farbe: Weiß. Ist es eigentlich wirklich Blindheit? Wenn ja: Wäre die Schwärze dann nicht im Grunde besser zu ertragen, weil, so wie das Weiß besonders Seite 15 geschildert wird, es immer den Eindruck vermittelt, es könne die Realität nicht nur nicht sichtbar, sondern wirklich zum Verschwinden bringen


    Ja, warum weiß? Das ist noch bedrohlicher als schwarz. Denn schwarze Finsternis kennen wir zumindest von der Nacht. Es ist lediglich die Abwesenheit von Licht. Aber dieses Weiß verschlingt nicht nur Farben, sondern selbst Wesen und Dinge.
    Das ist für den Leser schwer nachzuvollziehen.