Das erinnert mich an "Der Herr der Fliegen" ... für mich kaum vorstellbar, aber wer weiß, wie wir in Extremsituationen reagieren. Ich empfinde die Situation teilweise überzogen, aber das mag auch daran liegen, daß ich mir partout nicht vorstellen kann, jemals in solch eine Lage zu geraten. Das übersteigt definitiv mein Vorstellungsvermögen.
'Die Stadt der Blinden' - Seiten 075 - 142
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Solange das Militär in der Lage ist, die Leute einzusammeln und in diese Anstalt zu bringen, kann es so schlimm nicht sein mit der Desorganisation.
Clare, das was du Verrohung nennst, ist für mich die Folge des Zusammenbruchs jeglicher Ordnung. Wenn du Menschen alles nimmst, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat, sie im Nichts aussetzt, ohne irgendeine Orientierung, dann führt das zwangsläufig zu so etwas. Wenn nicht irgendwer da ist, der die Fähigkeit hat, die Führung zu übernehmen, führt das zu einem : Jeder gegen Jeden.
Manchmal habe ich den Eindruck, da führt jemand ein Experiment durch. Wozu kann man Menschen treiben, wenn sie Angst haben. Und ich meine nicht die Blinden, sondern die übrige Gesellschaft.
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Bisher sind ja erst wenige Tage vergangen. Wieviele Menschen betroffen sind, wissen wir nicht. Aber so viele dürften es nicht sein, dass das schon die Organisation überfordern dürfte. Es waren gerade zwei Zimmer belegt, als das Militär schon ausgerastet ist.
Bisher erfährt der Leser von der Außenwelt nur etwas über das Militär. Ob man das auf alle übertragen kann? -
Das Militär ist hier ja nur ausführendes Organ. Die Regierung scheint mit dieser Situation völlig überfordert zu sein.
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Es liegt wohl daran, dass diese Krankheit hochansteckend ist. Da besteht Panikgefahr. So etwas gab es noch nie. Insofern gibt es wohl auch keine geeigneten Notfallpläne.
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Es gibt zwar keinen speziellen Ort der Handlung. Es scheint sich aber um ein Land mit einer vernünftigen Infrastruktur zu handeln. Nehmen wir ein beliebiges Land in Europa.
Ich bin mir sicher, dass in jedem Land rumdum Notfallpläne für solche Fälle existieren. Da wurden in der Vergangenheit schon genug Epidemien vorhergesagt.Es ist wohl eher ein Problem von Panik und "Schnell-Weg-Damit". Man dachte, je schneller die ersten Opfer entfernt werden, desto sicherer ist die Stadt. Was ja dann nicht gestimmt hat.
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Zitat
Original von Rumpelstilzchen
Ich bin mir sicher, dass in jedem Land rumdum Notfallpläne für solche Fälle existieren. Da wurden in der Vergangenheit schon genug Epidemien vorhergesagt.
Solch eine hochansteckende, sich explosionsartig ausbreitende Krankheit würde jedes Land überfordern. Zuerst waren es nur 6 Personen, zwei, drei Tage später 200. Die Isolierstationen der Krankenhäuser wären schnell überfüllt. Ich glaube nicht, dass es dafür taugliche Notfallpläne gibt. -
Ich habe mich tatsächlich drangemacht und Camus Pest vorgekramt. Kaum hatte ich die ersten Seiten gelesen, dachte ich mir, dass es einen größeren Gegensatz in der Reaktion "der Behörden" kaum geben kann.
Hier, in der Stadt der Blinden wird auf der Stelle reagiert, ohne große Organisation, ohne langes Hin-und Her. Weg mit den Erkrankten, wegschließen, einsperren. Nirgends was zu hören oder zu lesen von Untersuchungen, Suche nach den Ursachen. Und das alles, obwohl es sich "nur" um Blindheit handelt. Keiner stirbt, es liegen nicht hunderte von Leichen rum.In der Pest dauert es Tage bis die Kolonialregierung irgendwas tut. Und dabei immer noch verharmlost, abwiegelt, am liebsten nichts tun würde. Obwohl es bereits Tote gibt, nicht nur ein oder zwei.
Erst da ist mir überhaupt aufgefallen, dass die Maßnahmen in der Stadt der Blinden völlig überzogen sind. Es gibt überhaupt keinen Hinweis darauf, dass die Isolierung der Blinden irgendwas bringt. Tatsächlich ist es nicht einmal sicher, dass es sich um eine Krankheit handelt.
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Zitat
Original von Rumpelstilzchen
Erst da ist mir überhaupt aufgefallen, dass die Maßnahmen in der Stadt der Blinden völlig überzogen sind. Es gibt überhaupt keinen Hinweis darauf, dass die Isolierung der Blinden irgendwas bringt. Tatsächlich ist es nicht einmal sicher, dass es sich um eine Krankheit handelt.
Auch wenn es nicht bewiesen ist, besteht zumindest der schwerwiegende Verdacht, dass die Erblindung hoch ansteckend ist. Wenn die Regierung nicht sofort reagiert hätte, wenn auch zugegebener Maßen völlig unvorbereitet, hätte der sehende Teil der Bevölkerung ihre eigenen Maßnahmen ergriffen. Das hätte in Mord und Totschlag geendet. -
Zitat
Original von -Christine-
Das erinnert mich an "Der Herr der Fliegen" ... für mich kaum vorstellbar, aber wer weiß, wie wir in Extremsituationen reagieren. Ich empfinde die Situation teilweise überzogen, aber das mag auch daran liegen, daß ich mir partout nicht vorstellen kann, jemals in solch eine Lage zu geraten. Das übersteigt definitiv mein Vorstellungsvermögen.An dieses Buch musste ich auch sofort denken.
Ich glaube, dass Saramago schockieren will. Es führt zum Nachdenken über die eigenen Grenzen und darüber, wozu man vielleicht selbst fähig wäre. Vorstellen kann ich mir mich in so einer Situation auch nicht, aber der Gedanke, dass diese Urinstikte in uns schlummern...
Wenn es um's nackte Überleben geht, scheint man ja zu allem fähig zu sein. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass ich mich so verhalten würde, aber wer weiß das schon. Wenn man weit genug getrieben wird, werden Moral und Ethik zweitrangig...Darüber nachzudenken macht schon auch ein Stück weit Angst. -
Zitat
Original von made
Solch eine hochansteckende, sich explosionsartig ausbreitende Krankheit würde jedes Land überfordern. Zuerst waren es nur 6 Personen, zwei, drei Tage später 200. Die Isolierstationen der Krankenhäuser wären schnell überfüllt. Ich glaube nicht, dass es dafür taugliche Notfallpläne gibt.Solche Notfall- und Katastrophenpläne gibt es im realen Leben, das letzte Mal bei EHEC, wo es dann Gott sei Dank zu viel weniger Erkrankten kam, als man befürchtet hatte. Solche Pläne sind für wirklich große Erkranktenzahlen angelegt.
Aber mit einer sich so schnell potenzierenden Infiziertenzahl hatten die Behörden im Roman mit Sicherheit nicht gerechnet. -
Ich persönlich glaube ja nicht, dass sich ein Blinder bei den anderen ansteckt.
Ich vermute, es ist ein gesellschaftlich bedingtes Phänomen, dass die Betroffenen schicksalhaft befällt. Und das hat die Regierung inklusive Regierung wohl kaum erkannt, da so eine Situation außerhalb der Norm liegt. -
Also ein Ansteckung im übertragenen Sinn? So wie Modetrends, Zeitgeist
edit: das ist aber nicht schicksalhaft.
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Zitat
Original von Herr Palomar
Das Verhalten der Armee hat mich geschockt. Was ist das für eine zeitgenössische Gesellschaft, die ihre Kranken so ausgrenzt und praktisch selbst überlässt?
Und man fragt sich, würde das bei uns genauso ablaufen?Was das für eine Gesellschaft ist? Eine zivile, eine, die stolz ist auf ihre Errungenschaften, auf ihre Kultur. Und die Angst hat, irgendetwas zu verlieren. Man kann wahrscheinlich noch nicht einmal davon ausgehen, dass die Beschreibung auf eine totalitäre Gesellschaft hindeutet, im Gegenteil, für mich zeigt sie, wie schnell sich totalitäre Strukturen bilden.
Im Prinzip würde es hier ganz genau so ablaufen. Man würde sich vielleicht noch die Mühe machen, ein klein wenig den Schein zu wahren, sprich, ein Blümchen in den Hof zu stellen.Mir gehen etwas während des Lesens nicht aus dem Kopf:
Ein Buch, es heißt „Zwei alte Frauen“ und ist von Velma Wallis. Eine andere Form von Ausgrenzung, weil die beiden Frauen von ihrem Stamm, ihrer Gesellschaft nicht mehr von Nutzen sind, weil sie zur Last fallen, weil nicht genug für alle da ist. Vergleichbar bedingt mit hier, mit einem wesentlichen Unterschied aber: Die Frauen bleiben gewissermaßen in ihrer vertrauten Umgebung, die Natur kennen sie und wissen sich in ihr zu bewegen und mit ihr zu leben. Anders bei Saramago, in der zivilen Gesellschaft, die Menschen werden aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen, in eine Umgebung „verpflanzt“, die jeglichen Komfort, jegliche Vertrautheit vermissen lassen, nichts ist so, wie sie es kennen und erwarten, sie müssen sich orientieren in einer Welt, die auf einmal hell und grell für sie ist und die in Kombination mit der „Massenhaltung“ (tut mir leid, ein anderer Begriff fällt mir da nicht mehr ein) ein Gefühl der Ohnmacht, aber auch des Ausgeliefertseins und der Überwachung vermittelt, wohl auch vermitteln soll. Alles unter Kontrolle, sozusagen, um zu kaschieren, dass nichts unter Kontrolle ist. -
Zitat
Original von Herr Palomar
Du hast natürlich Recht!Das ist schon eine erstaunliche Erzählperspektive, die anscheinend auch noch bei Bedarf wechselt!
Mich erinnerte sie an die "Parallelgeschichten" von Nadas und ... an einige Psalmen.
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Die Frau des Arztes sinniert über Namen. Welche Macht diese doch haben, welchen Schutz sie aber auch bieten, wie wahrnehmbar man durch sie wird. Aber die Frau hat in ihren Gedanken wohl recht, es wird dazu kommen, dass die Menschen sich anders verhalten werden, andere Verhaltensregeln sich durchsetzen, sie mit tierischem Verhalten gleichzusetzen, finde ich unfair den Tieren gegenüber. Allerdings: Das Recht des Stärkeren wird immer mehr die Oberhand gewinnen. Und vor allen Dingen: Es wird schnell gehen, um so schneller, je mehr Blinde dort konzentriert sind.
Und, so frage ich mich, spielen sie in gewisser Weise denen, die ihnen ach so wohl wollen, nicht in die Hände, angefangen dabei, dass sie auf Namen bzw. Namensnennung verzichten und sich selbst Nummern geben bzw. durch die Nummer ihres Bettes identifizieren? Die Parallele zu Beschreibungen aus KZs werden jedenfalls immer deutlicher, Nummern statt Namen, Essen, das nicht ausreicht, zivilisatorische Errungenschaften werden nicht einmal zum Schein aufrecht erhalten (Toiletten!), medizinische Versorgung scheint überflüssig, der Respekt geht schnell verloren (besonders zwischen Bewachern und Bewachten, es erstaunt nicht, wie schnell die Frau geduzt wird).Still kehrt ein, nicht Ruhe (Seite 88). Dass Saramago das betont – er scheint nicht allzu viel Zutrauen zur Vorstellungskraft seiner Leser zu haben. Oder will er denen, die solches kennengelernt haben, erklären, was sie hätten wahrnehmen, was sie nicht hätten vergessen sollen/nicht vergessen dürfen? Die „versprochene Hölle“ (Seite 87), sie beginnt mit neuen Menschen, die isoliert werden. Wie klar der Arzt und seine Frau das doch sehen – welche Erfahrungen (selbst angelesene) haben sie? Und die anderen?
Strukturen tun sich auf, die verstören. Es spielt für mich keine Rolle, wann die Handlung – oder wo – angesiedelt ist. In dieser Form wird es überall und zu allen Zeiten passieren, man muss nicht einmal allzu weit in die Vergangenheit zurückschauen oder in allzu weit entfernte Länder, um das wahrzunehmen. Werden wir blind? Nein, ich glaube, wir lassen zu, dass wir für blind erklärt werden. Pardon, ich meine natürlich: sie, die Menschen im Roman. Sie lassen sich für hilflos erklären, und werden beherrschbar in einem Sinne, die über die Beherrschbarkeit „Ungebildeter“ weit hinausgeht.Das einzig Beruhigende an diesem Abschnitt ist für mich, dass weder der Autodieb noch die anderen Blinden die Gewehre gesehen haben, die auf sie gerichtet waren. Wobei ich bei dem Autodieb unsicher bin. Er hat geahnt, dass er sterben wird, wie aussichtslos seine Situation ist. Ist es das Fieber, das ihm einredet, ihm könne noch geholfen werden? Sein Versuch, sein Gewissen zu beruhigen, schlägt jedenfalls fehlt.
Aber es ist beunruhigend, wie schnell es zum Töten kommt, hier zunächst beeinflusst durch Angst. Ein Vorgang, der an ein eher unbewusstes Handeln denken lässt. Wie schnell aber ist der winzig kleine Schritt zum bewussten Töten getan, „ohne falsche humanitäre Rücksichtnahme“ (Seite 127). Und am Ende wird es so sein, dass niemand die Verantwortung übernimmt, niemand hat Schuld und alles wird gut. Vielleicht wird man sich noch bemühen, ein Bauernopfer zu finden. Mehr nicht.Seite 133: „Vorurteile oder Ressentiments, die den Verstand vernebeln“ - auch eine Art, blind zu werden. Vielleicht ist es genau die Blindheit, die um die es hier geht.
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Zitat
Original von Lipperin
Mir gehen etwas während des Lesens nicht aus dem Kopf:
Ein Buch, es heißt „Zwei alte Frauen“ und ist von Velma Wallis.
ich finde es schön, dass dieser Roman mal wieder erwähnt wird.
Früher war er fast ein moderner Klassiker (auch bei den Eulen einer früheren Generation), heute scheint er mir nahezu vergessen. -
Ich liebe diese Leserunde!
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Das, was die Soldaten da tun, um ihre Aufgabe eben erfüllen zu könnnen, dieses sich von den Menschen zu distanzieren, sie gar nicht mehr als Menschen wahrzunehmen, sondern sie nur noch als "die Blinden" zu sehen, sie schon mit Hunden zu vergleichen, das ist ja etwas aus der Geschichte leidvoll vertrautes.
Erst grenzt man eine Gruppe aus, dann spricht man ihnen Würde und Menschlichkeit ab und danach ist es nicht mehr weit bis zu Liquidation.Das Schlimme daran ist, dass Angst diesen Vorgang ermöglicht und beschleunigt.
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Zitat
Original von Herr Palomar
ich finde es schön, dass dieser Roman mal wieder erwähnt wird.
Früher war er fast ein moderner Klassiker (auch bei den Eulen einer früheren Generation), heute scheint er mir nahezu vergessen.Eines der schönsten Bücher für mich. Bei mir im Regal steht es genau neben "Ich hörte die Eule, sie rief meinen Namen".
Aber das ist natürlich vollkommen OT.