'Die Stadt der Blinden' - Seiten 075 - 142

  • Gleich zu Anfang stolperte ich über diese Stelle:
    S. 76 ... es wird nicht lange dauern, dann wissen wir nicht mehr, wer wir sind, wir werden uns nicht einmal mehr daran erinnern, wie wir heißen...


    Hier sind wir wieder bei der Namenlosigkeit. Die Frau des Augenarztes sieht es bereits voraus, dass die Blinden sich durch die ganzen Umstände der Isoliertheit so verändern werden, wie sie es selbst nie für möglich gehalten hätten. Man sagt ja auch so landläufig: "Ich kenne mich selbst nicht mehr."


    Den folgenden Vergleich mit Hunden finde ich schon krass:
    ... wozu sollten uns unsere Namen dienen, kein Hund erkennt einen anderen Hund an dem Namen ...

  • Schlimm genug ist ja schon die Tatsache der Erblindung. Was hier aber dazukommt, ist die unmenschliche Behandlung, die fehlende Struktur.
    Blinde können sehr gut lernen, in ihrer Welt zurechtzukommen. Aber nicht von einem Tag auf den anderen. Sie sind auf das angewiesen, was es hier gerade nicht gibt, die Hilfe und Solidarität der Sehenden.
    Und dazu die Angst derjenigen, die sie bewachen sollen.


    Ich habe hier eine uralt Ausgabe von Camus Pest. Ich überlege, ob ich die nicht parallel lesen könnte.

  • Jetzt springen mir natürlich solche Formulierungen mit "sehen" sofort ins Auge:
    "Du wirst schon sehen." (sagte die Frau der Arztes zu ihrem Mann) oder
    "Ich sehe nichts." (ebenfalls die Frau des Arztes) oder
    "Wir müssen sehen, ob es hier irgendwo eine Schaufel oder Hacke gibt." (der Arzt)


    Außerdem gibt es immer wieder Beschreibungen von Licht oder Lampenschein.


    Und gleich zu Beginn diese Formulierung:
    S. 77: Die Frau des Arztes wünschte sich "in die sichtbare Haut der Dinge vorzudringen"
    Sie möchte wohl sich besser in die Blinden hineinversetzen können.


    Im weiteren Verlauf des zweiten Abschnitts fangen die Blinden an, über ihre Vergehen nachzudenken. Der Autodieb führt Streitgespräche mit seinem Gewissen, die junge Frau ist totunglücklich über ihren Fusstritt.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Schlimm genug ist ja schon die Tatsache der Erblindung. Was hier aber dazukommt, ist die unmenschliche Behandlung, die fehlende Struktur.


    Ja, das ist schon heftig. Aber das ist wohl auch dem Zeitdruck geschuldet. Irgendwie sind alle überfordert. "nur die Frau des Arztes funktionierte noch", heißt es auf S. 93

  • Es ist sicher nicht nur der Zeitdruck. Es ist auch eine Frage der Haltung. Es gibt ja zum Beispiel keinen Grund, warum die Versorgung der Menschen nicht vernünftig organisiert werden kann.
    Schließlich handelt es sich ja nicht um ein Flüchtlingslager in der Wüste. Es entspricht eher der Einstellung dieses Soldaten: am besten alle gleich erschießen.


    Gerade frage ich mich, warum eigentlich die Frau des Arztes nicht blind wird. Sie müsste doch die erste sein, die ebenfalls an der rätselhaften Blindheit erkrankt.
    Vielleicht weil sie freiwillig da ist um zu helfen?

  • Vielleicht ist sie auch nicht die einzige sehende !??


    Es muss viel mehr Blinde geben als hier dargestellt werden, womöglich gibt es noch mehr. Im Roman wird das nicht erwähnt.


    Für die von uns betrachtete Gruppe ist sie als einzig Sehende die Chronistin.


    Und es ist die Frage, ob es für sie wirklich ein Segen ist, Sehende zu sein?
    Zu einem Teil grenzt sie das auch aus.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    Es ist sicher nicht nur der Zeitdruck. Es ist auch eine Frage der Haltung. Es gibt ja zum Beispiel keinen Grund, warum die Versorgung der Menschen nicht vernünftig organisiert werden kann.
    Schließlich handelt es sich ja nicht um ein Flüchtlingslager in der Wüste. Es entspricht eher der Einstellung dieses Soldaten: am besten alle gleich erschießen.


    Das ist einerseits Angst und andererseits ein Gefühl der Macht.
    Der Soldat bezeichnet den Arzt abfällig als "Blindgänger" und später wird die Frau geduzt.
    (Irgendwie hat mich das gerade jetzt an ein KZ erinnert.)

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Für die von uns betrachtete Gruppe ist sie als einzig Sehende die Chronistin.


    Und es ist die Frage, ob es für sie wirklich ein Segen ist, Sehende zu sein?
    Zu einem Teil grenzt sie das auch aus.


    S.105
    Die Frau des Arztes wird als Beispiel hergenommen, wie schnell sich Blinde wieder zurechtfinden können. Das hört sich an, als ob das aus dem Blickwinkel eines Sehenden beobachtet ist, der allerdings nicht weiß, dass sie sehen kann.
    Das verwirrt mich. Wer ist dieser Beobachter?

  • Zitat

    Original von made


    S.105
    Die Frau des Arztes wird als Beispiel hergenommen, wie schnell sich Blinde wieder zurechtfinden können. Das hört sich an, als ob das aus dem Blickwinkel eines Sehenden beobachtet ist, der allerdings nicht weiß, dass sie sehen kann.
    Das verwirrt mich. Wer ist dieser Beobachter?


    möglicherweise ein (im Ansatz) allwissender Erzähler! :gruebel

  • Der Erzähler ist ja öfter mal näher oder weiter vom Geschehen weg. Mal ist er, wie zu Beginn des zweiten Abschnitts (Ich muss die Augen aufmachen), ganz nah an den Personen dran. Dann ist er wieder distanziert und unbeteiligt.


    Herr Palomar, die Frage stelle ich mir auch. Was würde denn passieren, bei einem Ebola Ausbruch in diesem Land? Ich kann mich auch noch ganz gut erinnern, wie über den Umgang mit Aids Patienten gestritten wurde, in den 80er Jahren.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Du hast natürlich Recht!


    Das ist schon eine erstaunliche Erzählperspektive, die anscheinend auch noch bei Bedarf wechselt!


    Es hört sich an, als ob der Erzähler es vergessen hat, dass es da noch eine einzige Sehende gibt.
    So gut spielt sie die Blinde.

  • Zitat

    Original von Rumpelstilzchen
    ... Es gibt ja zum Beispiel keinen Grund, warum die Versorgung der Menschen nicht vernünftig organisiert werden kann.
    Schließlich handelt es sich ja nicht um ein Flüchtlingslager in der Wüste.
    ...



    Ich habe das als Zeichen der allgemeinen Desorganisation gesehen, die mir Sicherheit aufgetreten ist, denn draußen ging das Leben weiter, und die Blindheit machte Versorgung, Politik und das öffentliche Leben zur Herausforderung. Wer transportiert die Waren? Wer räumt den Müll weg? Da ist die Gefahr groß, dass sich keiner mehr um solche Details wie die Versorgung derer, die schon scheinbar sicher untergebracht sind, kümmert.

  • Das Prolem ist, daß diese Krankheit sich rasend schnell ausbreitet und vor nichts und niemanden halt macht. Kein Arzt, Regierungsmitglied oder Busfahrer wird davon verschont. Der Reiche erblindet genauso wie der Arme. Das Leben "draußen" wird es in der Form bald nicht mehr geben.


    In der Irrenanstalt scheinen sich jedoch Gesellschaftsschichten zu etablieren. Während sich die Blinden aus Saal Nr. 1 noch um ein Miteinander, um Respekt voreinander, um Ordnung und ein gewisses Maß an Anstand bemühen, scheinen die Menschen aus Saal 2 jegliche Menschlichkeit zu verlieren, Rücksichtslosigkeit und Egoismus setzen sich durch.

  • Mich überrascht und erschreckt immer wieder, wie auch schon in anderen Romanen, die ein ähnliches Thema behandeln, wie schnell die menschlichen Beziehungen nichtig und zweitrangig werden, wie eine Verrohung einsetzt und die Urinstikte durchkommen. :wow